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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Goethes Religion

Goethes Religion von Prof. Dr. Otto Pniower

velde, einer der freiesten und unbeirrbarsten Menschen, die je
gelebt haben, hat auch auf den: Gebiete der religiösen Anschauung
sich selbst die Bahn gebrochen. Das Recht, auch hier das Her¬
gebrachte zu prüfen und sich davon das anzueignen, was seiner
Natur, seiner wissenschaftlichen Überzeugung gemäß war, hat er
sich nicht nehmen lassen. Zu keiner Zeit seines Lebens kam er hierin zum Stillstand.

Zu den Grundgesetzen seines Denkens gehört die Lehre von der fortgesetzten
Metamorphose alles Organischen, von der ununterbrochenen Umwandlung des
Seins. "Das Gebildete", sagt er einmal, "wird sogleich wieder umgebildet,
und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der
Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem
Beispiele, mit dem sie uns vorgeht." Für diese Lehre gibt es, soweit sie sich
auf den geistigen Organismus bezieht, kein schlagenderes Beispiel als Goethe selbst.

So hat auch sein Verhältnis zu der überkommenen Religion Wandlungen
durchgemacht. Gleichzeitig freilich zeigt er hier eine erstaunliche Festigkeit.
Einem Grundzug seiner Auffassung des Religiösen, den er am Ende seines
Lebens mit der ganzen Macht seiner Poesie als Mahnwort an die Menschheit
verkündet, begegnen wir als theoretischem Lehrsatz schon in einer theologischen
Schrift der frühen Jugendzeit. Das Geheimnis jeder großen Individualität:
Wandlungsfähigkeit verbunden mit Zähigkeit, gewahren wir auch hier, da wir
versuchen, Goethes religiöse Anschauung, seine Stellung zu den letzten Fragen
entwicklungsgeschichtlich zu betrachten.

Als Knabe erhielt Goethe den üblichen Religionsunterricht. Weiblich wurde
er mit dem Katechismus gequält. Unter den Schulübungen, die uns von ihm
erhalten sind, befindet sich eine lange Ausführung in lateinischer Sprache über
die Frage, welcher von den christlichen Feiertagen der größte und wichtigste ist.
Er mußte diese bis in die kleinste Einzelheit gehende Erörterung in sein geliebtes
Deutsch übertragen. (Morris: Der junge Goethe. Leipzig, Inselverlag. Bd. 1,
S. 55 ff.)

Sehr bald regten sich in dem frühreifen Knaben Zweifel und Bedenken.
Das gewaltige Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 ein Drittel
der blühenden Stadt zerstörte und beinahe 15000 Menschen tötete, hatte nicht
nur das feste Laud erschüttert, sondern bewegte auch die Gemüter Europas.
Voltaire nahm es zum Anlaß, den Optimismus eines Leibniz und Pope als
unbegründet zu erweisen. Rousseau trat Voltaire entgegen und übernahm die
Verteidigung der angegriffenen Philosophen. Auch Kant behandelte das Ereignis
in einer besonderen Schrift, in der er darlegte, daß jene Verheerungen der Natur
uicht als Strafgerichte der Menschen anzusehen, vielmehr in der Ökonomie der
Schöpfung, unabhängig von den Erdenbewohnern, begründet seien. Der sechs-


Goethes Religion

Goethes Religion von Prof. Dr. Otto Pniower

velde, einer der freiesten und unbeirrbarsten Menschen, die je
gelebt haben, hat auch auf den: Gebiete der religiösen Anschauung
sich selbst die Bahn gebrochen. Das Recht, auch hier das Her¬
gebrachte zu prüfen und sich davon das anzueignen, was seiner
Natur, seiner wissenschaftlichen Überzeugung gemäß war, hat er
sich nicht nehmen lassen. Zu keiner Zeit seines Lebens kam er hierin zum Stillstand.

Zu den Grundgesetzen seines Denkens gehört die Lehre von der fortgesetzten
Metamorphose alles Organischen, von der ununterbrochenen Umwandlung des
Seins. „Das Gebildete", sagt er einmal, „wird sogleich wieder umgebildet,
und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der
Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem
Beispiele, mit dem sie uns vorgeht." Für diese Lehre gibt es, soweit sie sich
auf den geistigen Organismus bezieht, kein schlagenderes Beispiel als Goethe selbst.

So hat auch sein Verhältnis zu der überkommenen Religion Wandlungen
durchgemacht. Gleichzeitig freilich zeigt er hier eine erstaunliche Festigkeit.
Einem Grundzug seiner Auffassung des Religiösen, den er am Ende seines
Lebens mit der ganzen Macht seiner Poesie als Mahnwort an die Menschheit
verkündet, begegnen wir als theoretischem Lehrsatz schon in einer theologischen
Schrift der frühen Jugendzeit. Das Geheimnis jeder großen Individualität:
Wandlungsfähigkeit verbunden mit Zähigkeit, gewahren wir auch hier, da wir
versuchen, Goethes religiöse Anschauung, seine Stellung zu den letzten Fragen
entwicklungsgeschichtlich zu betrachten.

Als Knabe erhielt Goethe den üblichen Religionsunterricht. Weiblich wurde
er mit dem Katechismus gequält. Unter den Schulübungen, die uns von ihm
erhalten sind, befindet sich eine lange Ausführung in lateinischer Sprache über
die Frage, welcher von den christlichen Feiertagen der größte und wichtigste ist.
Er mußte diese bis in die kleinste Einzelheit gehende Erörterung in sein geliebtes
Deutsch übertragen. (Morris: Der junge Goethe. Leipzig, Inselverlag. Bd. 1,
S. 55 ff.)

Sehr bald regten sich in dem frühreifen Knaben Zweifel und Bedenken.
Das gewaltige Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 ein Drittel
der blühenden Stadt zerstörte und beinahe 15000 Menschen tötete, hatte nicht
nur das feste Laud erschüttert, sondern bewegte auch die Gemüter Europas.
Voltaire nahm es zum Anlaß, den Optimismus eines Leibniz und Pope als
unbegründet zu erweisen. Rousseau trat Voltaire entgegen und übernahm die
Verteidigung der angegriffenen Philosophen. Auch Kant behandelte das Ereignis
in einer besonderen Schrift, in der er darlegte, daß jene Verheerungen der Natur
uicht als Strafgerichte der Menschen anzusehen, vielmehr in der Ökonomie der
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[0612] Goethes Religion Goethes Religion von Prof. Dr. Otto Pniower velde, einer der freiesten und unbeirrbarsten Menschen, die je gelebt haben, hat auch auf den: Gebiete der religiösen Anschauung sich selbst die Bahn gebrochen. Das Recht, auch hier das Her¬ gebrachte zu prüfen und sich davon das anzueignen, was seiner Natur, seiner wissenschaftlichen Überzeugung gemäß war, hat er sich nicht nehmen lassen. Zu keiner Zeit seines Lebens kam er hierin zum Stillstand. Zu den Grundgesetzen seines Denkens gehört die Lehre von der fortgesetzten Metamorphose alles Organischen, von der ununterbrochenen Umwandlung des Seins. „Das Gebildete", sagt er einmal, „wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht." Für diese Lehre gibt es, soweit sie sich auf den geistigen Organismus bezieht, kein schlagenderes Beispiel als Goethe selbst. So hat auch sein Verhältnis zu der überkommenen Religion Wandlungen durchgemacht. Gleichzeitig freilich zeigt er hier eine erstaunliche Festigkeit. Einem Grundzug seiner Auffassung des Religiösen, den er am Ende seines Lebens mit der ganzen Macht seiner Poesie als Mahnwort an die Menschheit verkündet, begegnen wir als theoretischem Lehrsatz schon in einer theologischen Schrift der frühen Jugendzeit. Das Geheimnis jeder großen Individualität: Wandlungsfähigkeit verbunden mit Zähigkeit, gewahren wir auch hier, da wir versuchen, Goethes religiöse Anschauung, seine Stellung zu den letzten Fragen entwicklungsgeschichtlich zu betrachten. Als Knabe erhielt Goethe den üblichen Religionsunterricht. Weiblich wurde er mit dem Katechismus gequält. Unter den Schulübungen, die uns von ihm erhalten sind, befindet sich eine lange Ausführung in lateinischer Sprache über die Frage, welcher von den christlichen Feiertagen der größte und wichtigste ist. Er mußte diese bis in die kleinste Einzelheit gehende Erörterung in sein geliebtes Deutsch übertragen. (Morris: Der junge Goethe. Leipzig, Inselverlag. Bd. 1, S. 55 ff.) Sehr bald regten sich in dem frühreifen Knaben Zweifel und Bedenken. Das gewaltige Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 ein Drittel der blühenden Stadt zerstörte und beinahe 15000 Menschen tötete, hatte nicht nur das feste Laud erschüttert, sondern bewegte auch die Gemüter Europas. Voltaire nahm es zum Anlaß, den Optimismus eines Leibniz und Pope als unbegründet zu erweisen. Rousseau trat Voltaire entgegen und übernahm die Verteidigung der angegriffenen Philosophen. Auch Kant behandelte das Ereignis in einer besonderen Schrift, in der er darlegte, daß jene Verheerungen der Natur uicht als Strafgerichte der Menschen anzusehen, vielmehr in der Ökonomie der Schöpfung, unabhängig von den Erdenbewohnern, begründet seien. Der sechs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/612>, abgerufen am 19.05.2024.