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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die 5labt der Lumpe
von Otto Goebel

er sibirische Riesenstrom hatte über Nacht sein grau und rissig
gewordenes Eiskleid abgeworfen und dehnte wohlig seine bloßen
Glieder in der warmen Luft. Nach Wochen endlich war unter dem
Einfluß der höher und höher steigenden Sonne auch von den Straßen
der Stadt die mit Stroh und Unrat zu schmutzigbraunen Eisplatten
zusammengetretene und -gefahrene Schneeschicht bis auf wenige Reste verschwunden.
Hier und da konnte man die Wege schon trockenen Fußes kreuzen.

Es drängte mich hinaus. Vielleicht, daß draußen in der Steppe oder am
Ufer des Stroms die ersten Blumen ihre Häupter erhoben. Etwas von Frühlings¬
ahnen lag in der Luft; nicht das des überreichen Frühlings in glücklicheren
Ländern, aber doch die Hoffnung auf ein kurzes Grünen und Blühen auch in der
sibirischen Steppe.

Unter dem blauen Himmel sah die trostlose Stadt fast freundlich aus. Ich
schaute kaum hin auf den abgebröckelten Stuck der großen Regierungsgebäude, die
geborstene, nachlässig geflickte Wand der Kathedrale, ich bemerkte nicht die ein¬
gesunkenen Dächer und die losgerissenen Verzierungen der Holzhäuser. Was alles
unter grauem Himmel so schwer auf das Herz fallen kann, glänzte in Licht und
Farben in der Frühlingssonne.

Die paar Steinhäuser der inneren Stadt waren bald zurückgeblieben; die
Holzhäuser wurden unscheinbarer und verwahrloster, die Straßen ausgefahrener
und breiter; zu den Hunden und Kindern, die im Schmutz spielten, gesellten sich
Rinder und Schweine, die sich behaglich in der Sonne wälzten. Der hölzerne
Bürgersteig wurde schmaler und schmaler: als einzige Planke aus eingerammten
Pfählen lief er zuletzt nur noch auf der einen Seite entlang, gefährlich unter¬
brochen durch klaffende Lücken und eingetretene morsche Bretter. Da wo am Ende,
schief in die Straße geneigt, der Holzpfahl der letzten Laterne stand, mußte die
Stadt zu Ende sein und die Steppe beginnen.

Doch ich täuschte mich. An der Ecke angekommen, sah ich wohl hinein in
die Steppe, aber jenseits eines Streifens von hundert Metern Breite lag etwas,
sich noch weit in die Steppe hineinziehend, ich wußte nicht recht was---
Haufen aus Erde, Brettern und Stroh----wie eine endlose Kolonie gigantischer
Maulwurfshaufen einer neben dem anderen.




Die 5labt der Lumpe
von Otto Goebel

er sibirische Riesenstrom hatte über Nacht sein grau und rissig
gewordenes Eiskleid abgeworfen und dehnte wohlig seine bloßen
Glieder in der warmen Luft. Nach Wochen endlich war unter dem
Einfluß der höher und höher steigenden Sonne auch von den Straßen
der Stadt die mit Stroh und Unrat zu schmutzigbraunen Eisplatten
zusammengetretene und -gefahrene Schneeschicht bis auf wenige Reste verschwunden.
Hier und da konnte man die Wege schon trockenen Fußes kreuzen.

Es drängte mich hinaus. Vielleicht, daß draußen in der Steppe oder am
Ufer des Stroms die ersten Blumen ihre Häupter erhoben. Etwas von Frühlings¬
ahnen lag in der Luft; nicht das des überreichen Frühlings in glücklicheren
Ländern, aber doch die Hoffnung auf ein kurzes Grünen und Blühen auch in der
sibirischen Steppe.

Unter dem blauen Himmel sah die trostlose Stadt fast freundlich aus. Ich
schaute kaum hin auf den abgebröckelten Stuck der großen Regierungsgebäude, die
geborstene, nachlässig geflickte Wand der Kathedrale, ich bemerkte nicht die ein¬
gesunkenen Dächer und die losgerissenen Verzierungen der Holzhäuser. Was alles
unter grauem Himmel so schwer auf das Herz fallen kann, glänzte in Licht und
Farben in der Frühlingssonne.

Die paar Steinhäuser der inneren Stadt waren bald zurückgeblieben; die
Holzhäuser wurden unscheinbarer und verwahrloster, die Straßen ausgefahrener
und breiter; zu den Hunden und Kindern, die im Schmutz spielten, gesellten sich
Rinder und Schweine, die sich behaglich in der Sonne wälzten. Der hölzerne
Bürgersteig wurde schmaler und schmaler: als einzige Planke aus eingerammten
Pfählen lief er zuletzt nur noch auf der einen Seite entlang, gefährlich unter¬
brochen durch klaffende Lücken und eingetretene morsche Bretter. Da wo am Ende,
schief in die Straße geneigt, der Holzpfahl der letzten Laterne stand, mußte die
Stadt zu Ende sein und die Steppe beginnen.

Doch ich täuschte mich. An der Ecke angekommen, sah ich wohl hinein in
die Steppe, aber jenseits eines Streifens von hundert Metern Breite lag etwas,
sich noch weit in die Steppe hineinziehend, ich wußte nicht recht was---
Haufen aus Erde, Brettern und Stroh----wie eine endlose Kolonie gigantischer
Maulwurfshaufen einer neben dem anderen.


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[0092] [Abbildung] Die 5labt der Lumpe von Otto Goebel er sibirische Riesenstrom hatte über Nacht sein grau und rissig gewordenes Eiskleid abgeworfen und dehnte wohlig seine bloßen Glieder in der warmen Luft. Nach Wochen endlich war unter dem Einfluß der höher und höher steigenden Sonne auch von den Straßen der Stadt die mit Stroh und Unrat zu schmutzigbraunen Eisplatten zusammengetretene und -gefahrene Schneeschicht bis auf wenige Reste verschwunden. Hier und da konnte man die Wege schon trockenen Fußes kreuzen. Es drängte mich hinaus. Vielleicht, daß draußen in der Steppe oder am Ufer des Stroms die ersten Blumen ihre Häupter erhoben. Etwas von Frühlings¬ ahnen lag in der Luft; nicht das des überreichen Frühlings in glücklicheren Ländern, aber doch die Hoffnung auf ein kurzes Grünen und Blühen auch in der sibirischen Steppe. Unter dem blauen Himmel sah die trostlose Stadt fast freundlich aus. Ich schaute kaum hin auf den abgebröckelten Stuck der großen Regierungsgebäude, die geborstene, nachlässig geflickte Wand der Kathedrale, ich bemerkte nicht die ein¬ gesunkenen Dächer und die losgerissenen Verzierungen der Holzhäuser. Was alles unter grauem Himmel so schwer auf das Herz fallen kann, glänzte in Licht und Farben in der Frühlingssonne. Die paar Steinhäuser der inneren Stadt waren bald zurückgeblieben; die Holzhäuser wurden unscheinbarer und verwahrloster, die Straßen ausgefahrener und breiter; zu den Hunden und Kindern, die im Schmutz spielten, gesellten sich Rinder und Schweine, die sich behaglich in der Sonne wälzten. Der hölzerne Bürgersteig wurde schmaler und schmaler: als einzige Planke aus eingerammten Pfählen lief er zuletzt nur noch auf der einen Seite entlang, gefährlich unter¬ brochen durch klaffende Lücken und eingetretene morsche Bretter. Da wo am Ende, schief in die Straße geneigt, der Holzpfahl der letzten Laterne stand, mußte die Stadt zu Ende sein und die Steppe beginnen. Doch ich täuschte mich. An der Ecke angekommen, sah ich wohl hinein in die Steppe, aber jenseits eines Streifens von hundert Metern Breite lag etwas, sich noch weit in die Steppe hineinziehend, ich wußte nicht recht was--- Haufen aus Erde, Brettern und Stroh----wie eine endlose Kolonie gigantischer Maulwurfshaufen einer neben dem anderen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/92>, abgerufen am 19.05.2024.