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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Länder- und Völkerkunde
Chnrlot Straßer: Sieisenvvellen aus
Nußland und Japan. Zürich und Leipzig,
Rascher u. Cie, M, 2,50.

Die Absicht des Verfassers, eines jungen
Schweizer Arztes, "einen Bastard zwischen
Reiseschilderung und Novelle" zu schaffen, ist
ihm zweifellos -gut gelungen. Eine lehrreiche
und nnschanliche Schilderung von Ländern
und Sitten ist mit amüsant und fesselnd ge¬
schriebenen Erzählungen von Erlebtem und
Erdichtetem verflochten.

Im europäischen Rußland und in Sibirien
war der Verfasser während der Revolutions¬
zeit. Kaleidoskopartig läßt er Bilder ans
dieser Schreckenszeit an uns vorüberziehen.
Wir sehen die blutigen Kämpfe der Polizei
und des Militärs gegen die Revolutionäre,
mischen uns unter die "auf administrativen
Wege" nach Sibirien Verbannten Unglück¬
lichen und tun manchen interessanten und er¬
schütternden Blick sowohl in die Reihen der
Revolutionäre als auch in das Offizierkorps
und die verderbte Beamtenschaft.
'

In Japan wird dem Verfasser, der in
Begleitung eines hervorragenden und bei den
Japanern sehr populären Gelehrten reist,
dessen Nenne nicht genannt ist, der überaus
seltene Vorzug zuteil, Zutritt zu alten japa¬
nischen Kaufmanns- und Adelsfamilien zu
erhalten. Er hat sogar das Glück, deren Gast¬
freundschaft in vollem Maße zu genießen und
dadurch Einblick in das intime Familienleben
und in die Lnndessitten zu bekommen. Diesen
Vorzug verdankt er dem Umstände, daß einer
der Japaner in Deutschland in der Familie
seines Freundes und Reisebegleiters gelebt hatte
und dort ganz als Kind des Hauses betrachtet
worden war; man wollte nun Gleiches mit
Gleichem vergelte". Wenn der Kenner von
Land und Leuten auch oft bemerkt, wo Wahr¬
heit und Dichtung sich in den Schilderungen
begegnen, so muß er doch anerkennen, daß
Strnßer ein seltenes Maß vorurteilsloser und
klaren Blickes für all das Neue zeigt, das
ihn hier nmgav. Alles Erzählte hätte wirklich,
wie er im Borwort sagt, wahr sein können.
Diese kleinen Novellen geben uns ein anschau¬
liches und in den "leisten Punkten wahrheits¬
getreues Bild japanischer Sitten und Ge¬

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bräuche. Wenn Straßer selbst mich Japan
und die Japaner eigentlich nur von der guten
Seite kennen gelernt hat, so unterläßt er es
doch nicht, auch manche Schattenseiten zu
erwähnen.

1v,
Eine deutsche Juvilttumsgave für Italien.

Daß die Einigung Italiens für Land und Volk
die erfreulichsten Früchte getragen hat, davon
überzeugt uns eine kleine, aber gehaltvolle
Schrift von Adolph v. Flöckher, "Unsere Freunde
die Italiener" (Berlin bei Karl Curtius, ohne
Jahreszahl). Der bekannte Diplomat erzählt
uns von den maßgebenden Persönlichkeiten,
die er ans vertrautem Verkehr kennte von dem
populären Königspaar, den unpopulären Par¬
lamentariern, dem weisen Giolitti, der nicht
mit dein Parlament, sondern mit dem Volke
regiere, dem tüchtigen Luzzatti; von der Schön¬
heit des neuen Rom, die er gegen unverstän-
dige Archäologen und Romantiker verteidigt,
denen ein Trümmer- und Schmutzhaufen lieber
sein würde. Er berichtet über die ungeheuren
Fortschritte, welche Italien seit 1890 in der
Volksgesundheit, in der Organisation der
Landesverteidigung, in der Volkswirtschaft und
in den Finanzen gemacht hat. Die Malaria¬
gegenden sind saniert, die Sterblichkeit ist
bedeutend vermindert worden, die Jugend der
gebildeten Stände ergibt sich -- erst seit zehn
Jahren -- mit Eifer den vordem ganz ver¬
nachlässigten Leibesübungen, Industrie, Handel
und Landwirtschaft heben sich allmählich, und
eine weise Finanzwirtschaft hat Wunder ge¬
wirkt. Vor zwanzig Jahren noch galt das
neue Königreich als unheilbar bankerott!
jetzt haben es seine Finanzmänner in
Wechselwirkung mit dem ganzen rastlos
arbeitenden Volke so weit gebracht, "daß die
italienische Rente, welche im November 1893,
als ihr Zinsfuß uoch S Prozent betrug, sich
auf 78 stellte, heute, wo sie auf 3^ Prozent
konvertiert ist, andauernd über Pari steht".
Möchten die viel tausend Deutschen, die all¬
jährlich über die Alpen Pilgern (und ti" mit
dem Gelde, das sie dort lassen, ein Erkleck¬
liches zur Sanierung der italienischen Finanzen
beigetragen haben), der Mahnung des Frei¬
herrn folgen, sie sollten sich nicht so aus¬
schließlich mit den Kunstwerken vergangener
Seiten beschäftigen, sondern einen Teil ihrer

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Länder- und Völkerkunde
Chnrlot Straßer: Sieisenvvellen aus
Nußland und Japan. Zürich und Leipzig,
Rascher u. Cie, M, 2,50.

Die Absicht des Verfassers, eines jungen
Schweizer Arztes, „einen Bastard zwischen
Reiseschilderung und Novelle" zu schaffen, ist
ihm zweifellos -gut gelungen. Eine lehrreiche
und nnschanliche Schilderung von Ländern
und Sitten ist mit amüsant und fesselnd ge¬
schriebenen Erzählungen von Erlebtem und
Erdichtetem verflochten.

Im europäischen Rußland und in Sibirien
war der Verfasser während der Revolutions¬
zeit. Kaleidoskopartig läßt er Bilder ans
dieser Schreckenszeit an uns vorüberziehen.
Wir sehen die blutigen Kämpfe der Polizei
und des Militärs gegen die Revolutionäre,
mischen uns unter die „auf administrativen
Wege" nach Sibirien Verbannten Unglück¬
lichen und tun manchen interessanten und er¬
schütternden Blick sowohl in die Reihen der
Revolutionäre als auch in das Offizierkorps
und die verderbte Beamtenschaft.
'

In Japan wird dem Verfasser, der in
Begleitung eines hervorragenden und bei den
Japanern sehr populären Gelehrten reist,
dessen Nenne nicht genannt ist, der überaus
seltene Vorzug zuteil, Zutritt zu alten japa¬
nischen Kaufmanns- und Adelsfamilien zu
erhalten. Er hat sogar das Glück, deren Gast¬
freundschaft in vollem Maße zu genießen und
dadurch Einblick in das intime Familienleben
und in die Lnndessitten zu bekommen. Diesen
Vorzug verdankt er dem Umstände, daß einer
der Japaner in Deutschland in der Familie
seines Freundes und Reisebegleiters gelebt hatte
und dort ganz als Kind des Hauses betrachtet
worden war; man wollte nun Gleiches mit
Gleichem vergelte». Wenn der Kenner von
Land und Leuten auch oft bemerkt, wo Wahr¬
heit und Dichtung sich in den Schilderungen
begegnen, so muß er doch anerkennen, daß
Strnßer ein seltenes Maß vorurteilsloser und
klaren Blickes für all das Neue zeigt, das
ihn hier nmgav. Alles Erzählte hätte wirklich,
wie er im Borwort sagt, wahr sein können.
Diese kleinen Novellen geben uns ein anschau¬
liches und in den »leisten Punkten wahrheits¬
getreues Bild japanischer Sitten und Ge¬

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bräuche. Wenn Straßer selbst mich Japan
und die Japaner eigentlich nur von der guten
Seite kennen gelernt hat, so unterläßt er es
doch nicht, auch manche Schattenseiten zu
erwähnen.

1v,
Eine deutsche Juvilttumsgave für Italien.

Daß die Einigung Italiens für Land und Volk
die erfreulichsten Früchte getragen hat, davon
überzeugt uns eine kleine, aber gehaltvolle
Schrift von Adolph v. Flöckher, „Unsere Freunde
die Italiener" (Berlin bei Karl Curtius, ohne
Jahreszahl). Der bekannte Diplomat erzählt
uns von den maßgebenden Persönlichkeiten,
die er ans vertrautem Verkehr kennte von dem
populären Königspaar, den unpopulären Par¬
lamentariern, dem weisen Giolitti, der nicht
mit dein Parlament, sondern mit dem Volke
regiere, dem tüchtigen Luzzatti; von der Schön¬
heit des neuen Rom, die er gegen unverstän-
dige Archäologen und Romantiker verteidigt,
denen ein Trümmer- und Schmutzhaufen lieber
sein würde. Er berichtet über die ungeheuren
Fortschritte, welche Italien seit 1890 in der
Volksgesundheit, in der Organisation der
Landesverteidigung, in der Volkswirtschaft und
in den Finanzen gemacht hat. Die Malaria¬
gegenden sind saniert, die Sterblichkeit ist
bedeutend vermindert worden, die Jugend der
gebildeten Stände ergibt sich — erst seit zehn
Jahren — mit Eifer den vordem ganz ver¬
nachlässigten Leibesübungen, Industrie, Handel
und Landwirtschaft heben sich allmählich, und
eine weise Finanzwirtschaft hat Wunder ge¬
wirkt. Vor zwanzig Jahren noch galt das
neue Königreich als unheilbar bankerott!
jetzt haben es seine Finanzmänner in
Wechselwirkung mit dem ganzen rastlos
arbeitenden Volke so weit gebracht, „daß die
italienische Rente, welche im November 1893,
als ihr Zinsfuß uoch S Prozent betrug, sich
auf 78 stellte, heute, wo sie auf 3^ Prozent
konvertiert ist, andauernd über Pari steht".
Möchten die viel tausend Deutschen, die all¬
jährlich über die Alpen Pilgern (und ti« mit
dem Gelde, das sie dort lassen, ein Erkleck¬
liches zur Sanierung der italienischen Finanzen
beigetragen haben), der Mahnung des Frei¬
herrn folgen, sie sollten sich nicht so aus¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/97>, abgerufen am 26.05.2024.