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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Reichsspiegel
Innere Politik

Parlamentsferien -- Streit zwischen Konservativen und Nationalliberalen -- Wassermann
als Sündenbock -- Notwendigkeit einer liberalen Mittelpartei -- Zentrum und National-
liberale -- Bassermanns Fehler -- Anlehnung an Herrn v, Bethmann -- Versumpfung
der AnsiedlnngSpolitik -- Herrenhausdebntten

Reichstag, preußisches Abgeordnetenhaus und Herrenhaus haben nacheinander
ihre Pforten geschloffen, um ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu geben. den
Osterfrieden zu genießen. Wer indessen gehoffthat, dieser Frieden werde sich
nun auch in die Gemüter der Politiker senken, erlebt eine Enttäuschung. Im
Gegenteil, es scheint als solle gerade während der Osterpause ein Streit besonders
heftig entbrennen, der schon seit dem Scheitern der Bülowschen Finanzreform
die politische Atmosphäre vergiftet: der Streit zwischen Konservativen und
Nationalliberalen. Im Grunde genommen ist dieser Streit kein Streit,
sondern ein heißes Liebeswerben, Auf konservativer wie liberaler Seite gibt
es genug Männer, die die Grundidee der Bülowschen Blockpolitik mit Rücksicht
auf die einmal in Preußen-Deutschland bestehenden Verhältnisse als richtig, der
Nation heilsam anerkennen. Daneben freilich gibt es auf beiden Seiten Männer,
die den für den Ausgleich erforderlichen Preis nicht zahlen wollen. Herr
v. Heydebrand und Ernst Wassermann stehen einander gegenüber. Der Führer
der Konservativen, von Freund und Feind hart berannt, hat sich in seiner
Haltung nicht beirren lassen, hat nach allen Seiten rücksichtslose Hiebe ausgeteilt
und Minister und Reichskanzler ebensowenig geschont wie die Parteipolitiker.
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, soll diese als Desperadopolitik gekennzeichnete
Taktik von Erfolgen gekrönt werden. Nicht, daß die Zahl der Anhänger
Heydebrands sonderlich gewachsen wäre, nicht, daß weiterblickende Männer
überzeugt worden wären, die Heydebrandsche Politik könne dem Lande zum
Segen gereichen! Keineswegs! Aber man beginnt sich von der Fruchtlosigkeit zu
überzengen, die Stellung Heydebrands innerhalb seiner Partei zu erschüttern und
damit die hauptsächlichste Klippe zu beseitigen, die einem Zusammenarbeiten der
rechts stehenden Parteien entgegensteht. Darum wendet man seine Aufmerksamkeit
in erhöhtem Maße dem Gegner Heydebrands zu, Herrn Wassermann. Da die
Konservativen von einer Versöhnung nichts wissen wollen, sollen die National¬
liberalen sich unterwerfen; da die Konservativen ihren Führer nicht im Stich
lassen wollen, sollen die Nationalliberalen es tun. Das ist in gegenwärtiger
Phase der Preis der Versöhnung! Nicht mehr Heydebrand ist der Stein des
Anstoßes, sondern Bassermann! So sollte man wenigstens glauben, wenn
man die Deutsche Zeitung, die freisinnige Weserzeitung, die Rheinisch-West¬
fälische, den Dresdner Anzeiger und die Kreuzzeitung verfolgt. Dabei wird die
Behauptung verbreitet, als wünschten die Führer der preußischen Landtags¬
fraktion Schiffer und Friedberg die Ausschaltung Bassermanns. Die Behauptung


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Innere Politik

Parlamentsferien — Streit zwischen Konservativen und Nationalliberalen — Wassermann
als Sündenbock — Notwendigkeit einer liberalen Mittelpartei — Zentrum und National-
liberale — Bassermanns Fehler — Anlehnung an Herrn v, Bethmann — Versumpfung
der AnsiedlnngSpolitik — Herrenhausdebntten

Reichstag, preußisches Abgeordnetenhaus und Herrenhaus haben nacheinander
ihre Pforten geschloffen, um ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu geben. den
Osterfrieden zu genießen. Wer indessen gehoffthat, dieser Frieden werde sich
nun auch in die Gemüter der Politiker senken, erlebt eine Enttäuschung. Im
Gegenteil, es scheint als solle gerade während der Osterpause ein Streit besonders
heftig entbrennen, der schon seit dem Scheitern der Bülowschen Finanzreform
die politische Atmosphäre vergiftet: der Streit zwischen Konservativen und
Nationalliberalen. Im Grunde genommen ist dieser Streit kein Streit,
sondern ein heißes Liebeswerben, Auf konservativer wie liberaler Seite gibt
es genug Männer, die die Grundidee der Bülowschen Blockpolitik mit Rücksicht
auf die einmal in Preußen-Deutschland bestehenden Verhältnisse als richtig, der
Nation heilsam anerkennen. Daneben freilich gibt es auf beiden Seiten Männer,
die den für den Ausgleich erforderlichen Preis nicht zahlen wollen. Herr
v. Heydebrand und Ernst Wassermann stehen einander gegenüber. Der Führer
der Konservativen, von Freund und Feind hart berannt, hat sich in seiner
Haltung nicht beirren lassen, hat nach allen Seiten rücksichtslose Hiebe ausgeteilt
und Minister und Reichskanzler ebensowenig geschont wie die Parteipolitiker.
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, soll diese als Desperadopolitik gekennzeichnete
Taktik von Erfolgen gekrönt werden. Nicht, daß die Zahl der Anhänger
Heydebrands sonderlich gewachsen wäre, nicht, daß weiterblickende Männer
überzeugt worden wären, die Heydebrandsche Politik könne dem Lande zum
Segen gereichen! Keineswegs! Aber man beginnt sich von der Fruchtlosigkeit zu
überzengen, die Stellung Heydebrands innerhalb seiner Partei zu erschüttern und
damit die hauptsächlichste Klippe zu beseitigen, die einem Zusammenarbeiten der
rechts stehenden Parteien entgegensteht. Darum wendet man seine Aufmerksamkeit
in erhöhtem Maße dem Gegner Heydebrands zu, Herrn Wassermann. Da die
Konservativen von einer Versöhnung nichts wissen wollen, sollen die National¬
liberalen sich unterwerfen; da die Konservativen ihren Führer nicht im Stich
lassen wollen, sollen die Nationalliberalen es tun. Das ist in gegenwärtiger
Phase der Preis der Versöhnung! Nicht mehr Heydebrand ist der Stein des
Anstoßes, sondern Bassermann! So sollte man wenigstens glauben, wenn
man die Deutsche Zeitung, die freisinnige Weserzeitung, die Rheinisch-West¬
fälische, den Dresdner Anzeiger und die Kreuzzeitung verfolgt. Dabei wird die
Behauptung verbreitet, als wünschten die Führer der preußischen Landtags¬
fraktion Schiffer und Friedberg die Ausschaltung Bassermanns. Die Behauptung


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[0099] Reichsspiegel Reichsspiegel Innere Politik Parlamentsferien — Streit zwischen Konservativen und Nationalliberalen — Wassermann als Sündenbock — Notwendigkeit einer liberalen Mittelpartei — Zentrum und National- liberale — Bassermanns Fehler — Anlehnung an Herrn v, Bethmann — Versumpfung der AnsiedlnngSpolitik — Herrenhausdebntten Reichstag, preußisches Abgeordnetenhaus und Herrenhaus haben nacheinander ihre Pforten geschloffen, um ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu geben. den Osterfrieden zu genießen. Wer indessen gehoffthat, dieser Frieden werde sich nun auch in die Gemüter der Politiker senken, erlebt eine Enttäuschung. Im Gegenteil, es scheint als solle gerade während der Osterpause ein Streit besonders heftig entbrennen, der schon seit dem Scheitern der Bülowschen Finanzreform die politische Atmosphäre vergiftet: der Streit zwischen Konservativen und Nationalliberalen. Im Grunde genommen ist dieser Streit kein Streit, sondern ein heißes Liebeswerben, Auf konservativer wie liberaler Seite gibt es genug Männer, die die Grundidee der Bülowschen Blockpolitik mit Rücksicht auf die einmal in Preußen-Deutschland bestehenden Verhältnisse als richtig, der Nation heilsam anerkennen. Daneben freilich gibt es auf beiden Seiten Männer, die den für den Ausgleich erforderlichen Preis nicht zahlen wollen. Herr v. Heydebrand und Ernst Wassermann stehen einander gegenüber. Der Führer der Konservativen, von Freund und Feind hart berannt, hat sich in seiner Haltung nicht beirren lassen, hat nach allen Seiten rücksichtslose Hiebe ausgeteilt und Minister und Reichskanzler ebensowenig geschont wie die Parteipolitiker. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, soll diese als Desperadopolitik gekennzeichnete Taktik von Erfolgen gekrönt werden. Nicht, daß die Zahl der Anhänger Heydebrands sonderlich gewachsen wäre, nicht, daß weiterblickende Männer überzeugt worden wären, die Heydebrandsche Politik könne dem Lande zum Segen gereichen! Keineswegs! Aber man beginnt sich von der Fruchtlosigkeit zu überzengen, die Stellung Heydebrands innerhalb seiner Partei zu erschüttern und damit die hauptsächlichste Klippe zu beseitigen, die einem Zusammenarbeiten der rechts stehenden Parteien entgegensteht. Darum wendet man seine Aufmerksamkeit in erhöhtem Maße dem Gegner Heydebrands zu, Herrn Wassermann. Da die Konservativen von einer Versöhnung nichts wissen wollen, sollen die National¬ liberalen sich unterwerfen; da die Konservativen ihren Führer nicht im Stich lassen wollen, sollen die Nationalliberalen es tun. Das ist in gegenwärtiger Phase der Preis der Versöhnung! Nicht mehr Heydebrand ist der Stein des Anstoßes, sondern Bassermann! So sollte man wenigstens glauben, wenn man die Deutsche Zeitung, die freisinnige Weserzeitung, die Rheinisch-West¬ fälische, den Dresdner Anzeiger und die Kreuzzeitung verfolgt. Dabei wird die Behauptung verbreitet, als wünschten die Führer der preußischen Landtags¬ fraktion Schiffer und Friedberg die Ausschaltung Bassermanns. Die Behauptung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/99>, abgerufen am 19.05.2024.