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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Straßburger Brief

Die Wahlen -- Der Nationalbund -- Zusammensetzung der Zweiten Kammer --
Die Liberalen -- Das Zentrum -- Lothringer Block -- Wahlanfechtungen -- Daniel
Blumenthal

Das elsaß-lothringische Volk hat durch die Wahlen vom 22. und 29. Ok¬
tober bestätigt, daß an dem positiven Gange der politischen Entwicklung des
Landes auch der zu Beginn dieses Jahres plötzlich wieder schärfer auflodernde
Oppositionsgeist einer zahlenmäßig beschränkten, in Phrase- und Wortschwall aber
starken Clique im großen und ganzen nichts mehr zu ändern vermag.

Die antideutsche Bewegung, die sich in der Gründung des "verewigten"
Nationalbundes unverhüllt kundgab, war zwar ein unnötiger Umweg, hat aber
letzten Endes doch dazu gedient, das verwegene Spiel zu enthüllen, welches die
geistigen Urheber dieses Anachronismus mit den Landesinteressen stets gespielt
haben und auch in Zukunft haben spielen wollen. Nun liegt der stolze und
gepriesene Bau des Nationalbundes trotz aller Stützversuche der letzten Stunde
ganz und gar in Trümmern, und unter diesen liegen seine verwegensten Baumeister
begraben, als erster der "Bundespräsident" Preiß, für den bereits der Präsidentensitz
in der Zweiten Kammer in Aussicht genommen war; ferner sein "alter eZo"
Daniel Blumenthal, der wandelbare klerikale Demokrat, Dr. Hettner und
schließlich Laugel, der "gesinnungstüchtige" Führer des elsaß-lothringischen Zentrums,
obgleich er je nach Bedarf seine Zugehörigkeit zum Nationalbunde ableugnete,
anderseits aber auch wieder die Verbindung mit dem deutschen Reichszentrum
kühn von der Hand wies. Froh über die eigene Rettung finden wir nur die
einstigen Mitbegründer Wetterls und Dr. Pfleger auf der festeren Planke des
Zentrums wieder.

Wirkungslos verpufft ist also die letzte große "Zuckung der Tradition", durch
die in Wirklichkeit noch einmal ein Neufrankreich auf dem Boden des deutschen
Elsaß-Lothringen künstlich belebt werden sollte. Geboren aber ist erstmalig unter
reichsdeutscher Herrschaft eine aus dem allgemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht
hervorgegangene Volksvertretung, die in ihrer Zweiten Kammer folgende solide
und aussichtsreiche Zusammensetzung aufweist: Zentrum 24 (im ersten Wahl¬
gänge 17 -i- im zweiten 7), Sozialdemokratie 11 (im ersten 5 > im zweiten 6),
Lothringer Block 10 (im ersten 9 -i- im zweiten 1), Liberale 9 (im ersten 1 -t^- im


Grenzboten IV 1911 37


Reichsspiegel
Straßburger Brief

Die Wahlen — Der Nationalbund — Zusammensetzung der Zweiten Kammer —
Die Liberalen — Das Zentrum — Lothringer Block — Wahlanfechtungen — Daniel
Blumenthal

Das elsaß-lothringische Volk hat durch die Wahlen vom 22. und 29. Ok¬
tober bestätigt, daß an dem positiven Gange der politischen Entwicklung des
Landes auch der zu Beginn dieses Jahres plötzlich wieder schärfer auflodernde
Oppositionsgeist einer zahlenmäßig beschränkten, in Phrase- und Wortschwall aber
starken Clique im großen und ganzen nichts mehr zu ändern vermag.

Die antideutsche Bewegung, die sich in der Gründung des „verewigten"
Nationalbundes unverhüllt kundgab, war zwar ein unnötiger Umweg, hat aber
letzten Endes doch dazu gedient, das verwegene Spiel zu enthüllen, welches die
geistigen Urheber dieses Anachronismus mit den Landesinteressen stets gespielt
haben und auch in Zukunft haben spielen wollen. Nun liegt der stolze und
gepriesene Bau des Nationalbundes trotz aller Stützversuche der letzten Stunde
ganz und gar in Trümmern, und unter diesen liegen seine verwegensten Baumeister
begraben, als erster der „Bundespräsident" Preiß, für den bereits der Präsidentensitz
in der Zweiten Kammer in Aussicht genommen war; ferner sein „alter eZo"
Daniel Blumenthal, der wandelbare klerikale Demokrat, Dr. Hettner und
schließlich Laugel, der „gesinnungstüchtige" Führer des elsaß-lothringischen Zentrums,
obgleich er je nach Bedarf seine Zugehörigkeit zum Nationalbunde ableugnete,
anderseits aber auch wieder die Verbindung mit dem deutschen Reichszentrum
kühn von der Hand wies. Froh über die eigene Rettung finden wir nur die
einstigen Mitbegründer Wetterls und Dr. Pfleger auf der festeren Planke des
Zentrums wieder.

Wirkungslos verpufft ist also die letzte große „Zuckung der Tradition", durch
die in Wirklichkeit noch einmal ein Neufrankreich auf dem Boden des deutschen
Elsaß-Lothringen künstlich belebt werden sollte. Geboren aber ist erstmalig unter
reichsdeutscher Herrschaft eine aus dem allgemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht
hervorgegangene Volksvertretung, die in ihrer Zweiten Kammer folgende solide
und aussichtsreiche Zusammensetzung aufweist: Zentrum 24 (im ersten Wahl¬
gänge 17 -i- im zweiten 7), Sozialdemokratie 11 (im ersten 5 > im zweiten 6),
Lothringer Block 10 (im ersten 9 -i- im zweiten 1), Liberale 9 (im ersten 1 -t^- im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/301>, abgerufen am 06.05.2024.