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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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wohlfeile Atlas enthält nicht nur schwarze,
sondern der Hauptmasse nach farbige und zwar
fast durchweg sehr gute Reproduktionen, so das;
auch derjenige, der fern von Galerien und Aus¬
stellungen weilt, sich an der Hand dieses Buches
von der modernen Kunst eine Vorstellung bilden
kann. Hinzukommt, daß auch der Text vortreff¬
lich ist. Besonders verdienstvoll ist es, daß
durch das vortreffliche Aufklärungsarbeit
leistende Buch auch die moderne Kunst den:
Leser nahe gebracht und verständlich gemacht
wird; gewiß wird es dem Verfasser ge¬
lingen, manches Vorurteil in: Publikum zu
zerstören und manchen Mißtrauischen zu be¬
kehren. Ohne Einschränkung also: ein Buch,
--t. an dem man Freude haben kann.


titeraturgeschichtliches

Neue Kleist-Literatur. Kleists Erscheinung
hat fast ausnahmslos alle, die sich wissenschaft¬
lich mit ihm beschäftigt haben, so tief er¬
schüttert, hat auch die Kleinarbeit so von innen
heraus beseelt, daß man namentlich im Hin¬
blick auf die Arbeit des letzten Jahrzehnts
sagen darf: Wer Kleist anfaßt, veredelt sich.
Von der übertriebenen Betonung des Patho¬
logischen in Kleists Natur, die anknüpfend an
Goethes Abneigung eineZeitlang Mode war, sind
wir durch die überzeugenden Untersuchungen
und Darstellungen des Arztes S. Rasener
("Das Kleist-Problem", 1902, und "Heinrich
v. Kleist als Mensch und Dichter", 1909, beide
im Verlag von Georg Reimer in Berlin) und
durch Servaes' bereits 1900 geschriebene,
1902 erschienene Biographie hoffentlich für
immer erlöst. Servaes hat zum erstenmal in
größerem Zusammenhang auf die einzig da¬
stehende künstlerische Genialität Kleists auf¬
merksam gemacht. Auch Noetteken mit seiner
entschiedenen Abwehr von Krafft-Ebings Diag¬
nose muß hier erwähnt werden.

Zweimal ist der Versuch gemacht worden,
Kleist aus seinen Briefen reden zu lassen. Das
schöne Beispiel der Buchnerschen Freiligrath-
Biographie konnte dazu ermutigen. Arthur
Eloesser hat im fünften Bande der Tempel-
auSgabe, die in Ur. 9 des laufenden Jahr¬
gangs der Grenzboten schon besprochen worden
ist, eine ganz ausgezeichnete, vollständige Bio¬
graphie gegeben, in der er jeden Abschnitt
durch eine geschickte Auswahl der sprechendsten
Briefe erläutert. Neuerdings hat Ernst Schur

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"Heinrich v. Kleist in seinen Briefen", Schiller-
Verlag, Charlottenburg, M. 2) den Versuch in
etwas anderer Weise wiederholt. Er schickt
einer Briefauswahl eine Abhandlung über
den Charakter und die Bedeutung der Briefe
voraus, die er eigentümlicherweise "reflexions¬
los" nennt und darum höchstens neben den
Werther stellen könnte. Werther reflexions¬
los I -- Dann folgt eine kurze Übersicht über
die Lehmstaken, und im übrigen sollen die
Briefe für sich selbst sprechen. Die Auswahl
ist gut getroffen; aber die übertriebene Ge¬
reiztheit gegen die philologische Kleist-Arbeit,
die selbst die Bemühungen um Aufklärung der
Würzburger Reise als "Philologismus" em¬
pfindet, ist undankbar gegenüber den Leistungen
der Kleist-Philologie. Das dilettantische Ko¬
kettieren mit dem Abseitsstehen von der Zunft
und dienütallenMittelnderPhilolvgiebewirkte
Glanzleistung der Ausgabe von Erich Schmidt,
die eben durch die völlige Beherrschung des Klein¬
krams in sicherer Führung zu den Höhen der
Philologie emporsteigt-- was sür ein Unter¬
schied! Um Erich Schmidt und seine Mit¬
arbeiter: Minde-Ponce, den feinfühligen Unter¬
sucher des Kleistschen Stils und Herausgeber
der Briefe -- eine Leistung philologischen
Fleißes, der Schur alles verdankt --- und
Reinhold Steig, der Kleists Berliner Kämpfe
aufgeklärt hat, um die Kleist-Ausgabe dieser
drei Fachleute (Leipzig, Bibliographisches In¬
stitut) gruppiert sich dieneuereKleist-Forschung;
alle späteren Ausgaben sind ihr mehr oder
minder verpflichtet. Neben der vollständigen
sechsbändigen Ausgabe des Jnsclverlags zu
Leipzig, die Wilhelm Herzog besorgt hat, ist
noch die zweibändige, sür weitere Kreise be¬
rechnete Sammlung der Goldenen Klassiker-
Bibliothek (Berlin, Borg 5 Co., Preis M. 3.60)
zuerwähnen. Eine sehr glückliche und auf gründ¬
licher Kenntnis beruhendeBiographie bietet das
Bändchen von Hubert Roettelen (Leipzig,
Quelle u. Meyer, 1907). Gustaf Wethly
(Heinrich v. Kleist, der Dramatiker, Straßburg,
Ludolf Beust) überrascht zunächst durch man¬
gelnde Sachkenntnis. Typisch ist es, daß der
Verfasser behauptet, die Schroffensteiner (1802)
stünden "im Banne der romantischen Schicksals¬
tragödie"! Aber das ist eine alte Geschichte:
Kleist kommt später als Schiller und Goethe
und ist Romantiker! Siebe" Jahre nach den
Schroffensteinern erschien die erste romantische

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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sondern der Hauptmasse nach farbige und zwar
fast durchweg sehr gute Reproduktionen, so das;
auch derjenige, der fern von Galerien und Aus¬
stellungen weilt, sich an der Hand dieses Buches
von der modernen Kunst eine Vorstellung bilden
kann. Hinzukommt, daß auch der Text vortreff¬
lich ist. Besonders verdienstvoll ist es, daß
durch das vortreffliche Aufklärungsarbeit
leistende Buch auch die moderne Kunst den:
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zerstören und manchen Mißtrauischen zu be¬
kehren. Ohne Einschränkung also: ein Buch,
—t. an dem man Freude haben kann.


titeraturgeschichtliches

Neue Kleist-Literatur. Kleists Erscheinung
hat fast ausnahmslos alle, die sich wissenschaft¬
lich mit ihm beschäftigt haben, so tief er¬
schüttert, hat auch die Kleinarbeit so von innen
heraus beseelt, daß man namentlich im Hin¬
blick auf die Arbeit des letzten Jahrzehnts
sagen darf: Wer Kleist anfaßt, veredelt sich.
Von der übertriebenen Betonung des Patho¬
logischen in Kleists Natur, die anknüpfend an
Goethes Abneigung eineZeitlang Mode war, sind
wir durch die überzeugenden Untersuchungen
und Darstellungen des Arztes S. Rasener
(„Das Kleist-Problem", 1902, und „Heinrich
v. Kleist als Mensch und Dichter", 1909, beide
im Verlag von Georg Reimer in Berlin) und
durch Servaes' bereits 1900 geschriebene,
1902 erschienene Biographie hoffentlich für
immer erlöst. Servaes hat zum erstenmal in
größerem Zusammenhang auf die einzig da¬
stehende künstlerische Genialität Kleists auf¬
merksam gemacht. Auch Noetteken mit seiner
entschiedenen Abwehr von Krafft-Ebings Diag¬
nose muß hier erwähnt werden.

Zweimal ist der Versuch gemacht worden,
Kleist aus seinen Briefen reden zu lassen. Das
schöne Beispiel der Buchnerschen Freiligrath-
Biographie konnte dazu ermutigen. Arthur
Eloesser hat im fünften Bande der Tempel-
auSgabe, die in Ur. 9 des laufenden Jahr¬
gangs der Grenzboten schon besprochen worden
ist, eine ganz ausgezeichnete, vollständige Bio¬
graphie gegeben, in der er jeden Abschnitt
durch eine geschickte Auswahl der sprechendsten
Briefe erläutert. Neuerdings hat Ernst Schur

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„Heinrich v. Kleist in seinen Briefen", Schiller-
Verlag, Charlottenburg, M. 2) den Versuch in
etwas anderer Weise wiederholt. Er schickt
einer Briefauswahl eine Abhandlung über
den Charakter und die Bedeutung der Briefe
voraus, die er eigentümlicherweise „reflexions¬
los" nennt und darum höchstens neben den
Werther stellen könnte. Werther reflexions¬
los I — Dann folgt eine kurze Übersicht über
die Lehmstaken, und im übrigen sollen die
Briefe für sich selbst sprechen. Die Auswahl
ist gut getroffen; aber die übertriebene Ge¬
reiztheit gegen die philologische Kleist-Arbeit,
die selbst die Bemühungen um Aufklärung der
Würzburger Reise als „Philologismus" em¬
pfindet, ist undankbar gegenüber den Leistungen
der Kleist-Philologie. Das dilettantische Ko¬
kettieren mit dem Abseitsstehen von der Zunft
und dienütallenMittelnderPhilolvgiebewirkte
Glanzleistung der Ausgabe von Erich Schmidt,
die eben durch die völlige Beherrschung des Klein¬
krams in sicherer Führung zu den Höhen der
Philologie emporsteigt— was sür ein Unter¬
schied! Um Erich Schmidt und seine Mit¬
arbeiter: Minde-Ponce, den feinfühligen Unter¬
sucher des Kleistschen Stils und Herausgeber
der Briefe — eine Leistung philologischen
Fleißes, der Schur alles verdankt -— und
Reinhold Steig, der Kleists Berliner Kämpfe
aufgeklärt hat, um die Kleist-Ausgabe dieser
drei Fachleute (Leipzig, Bibliographisches In¬
stitut) gruppiert sich dieneuereKleist-Forschung;
alle späteren Ausgaben sind ihr mehr oder
minder verpflichtet. Neben der vollständigen
sechsbändigen Ausgabe des Jnsclverlags zu
Leipzig, die Wilhelm Herzog besorgt hat, ist
noch die zweibändige, sür weitere Kreise be¬
rechnete Sammlung der Goldenen Klassiker-
Bibliothek (Berlin, Borg 5 Co., Preis M. 3.60)
zuerwähnen. Eine sehr glückliche und auf gründ¬
licher Kenntnis beruhendeBiographie bietet das
Bändchen von Hubert Roettelen (Leipzig,
Quelle u. Meyer, 1907). Gustaf Wethly
(Heinrich v. Kleist, der Dramatiker, Straßburg,
Ludolf Beust) überrascht zunächst durch man¬
gelnde Sachkenntnis. Typisch ist es, daß der
Verfasser behauptet, die Schroffensteiner (1802)
stünden „im Banne der romantischen Schicksals¬
tragödie"! Aber das ist eine alte Geschichte:
Kleist kommt später als Schiller und Goethe
und ist Romantiker! Siebe» Jahre nach den
Schroffensteinern erschien die erste romantische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/522>, abgerufen am 06.05.2024.