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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Zur weiteren Kennzeichnung möchte ich heute nur noch einen Fall erwähnen,
der geradezu wie ein Kuriosum wirkt. Ein sehr bekannter Politiker -- kein
Journalist -- war im Juni bei Herrn von Kiderlen und verbreitete im
Anschluß an seine Unterredung, die Regierung sei fest entschlossen, sich in Marokko
festzusehen und zwar selbst aus die Gefahr eines Krieges hin. Bei seinen
Angaben stützte der betreffende Herr sich auf ein Stenogramm, das er gleich
nach der Unterredung niedergeschrieben habe. Als dann die Differenzen zwischen
Altdeutschen und Regierung ausgebrochen waren und unheilvoll zu wirken
begannen, da wurde der Herr von seinen Freunden aufgefordert, das Stenogramm
vorzulesen. Was stellte sich heraus? Das Stenogramm war gerade im entgegen¬
gesetzten Sinne von dem aufzufassen, was der Herr als "Absicht des Staats¬
sekretärs" verbreitet hatte! Der Herr hatte, da er in den kritischen Tagen mit
vielen Personen gesprochen, die Angaben des Staatssekretärs mit denen einer
anderen Persönlichkeit verwechselt und darüber vergessen, ums er selbst nieder¬
schrieb! Das war nun nicht etwa ein junger Hilfsredakteur, sondern ein
viel beachteter und einflußreicher Politiker, dessen Wort etwas gilt. Wer weiß,
wie in den Monaten vor Abschluß des Marokko-Vertrages Politiker und
Redaktionen von allerhand Menschen bestürmt wurden und welche Nachrichten¬
fabrikation stattfand, der wird vielleicht verstehen, daß solche Vermengungen
möglich sind. Der Psychologe fände jedenfalls ein Material zu einem Aufsatze
über Massenpsychose, wie es sonst nicht so leicht zusammengebracht wird.

Hiermit möchte ich es für heute genug sein lassen, da ich mich am 19. dieses
Monats vor dem Schöffengericht zu Essen wegen "Beleidigung der Rheinisch-
Westfälischen Zeitung" zu verantworten habe. Mit Rücksicht auf die Aufforderung
der Deutschen Tageszeitung, den Streit aus patriotischen Gründen zu schließen,
sei nur noch bemerkt, daß es im gegenwärtigen Stadium des Prozesses nicht
in meiner Macht liegt, entsprechende Schritte zu unternehmen. Bisher haben
ausschließlich meine Gegner das politische Motiv in die Verhandlung gebracht,
G. Lleinow Nicht ich.


Wiener Brief

Das Budgetdrovisorium -- Graf Achrenihal und der Kriegsminister -- Friedens¬
liebe des Thronfolgers -- Osterreich während der Marokkokrise -- Aehrenthal und
von Tschirschly

Wir stehen bei Beginn des neuen Jahres im Zeichen der Provisorien; in
Österreich ist ein Budgetprovisorium angenommen worden, in Ungarn, und
schließlich für die gemeinsamen Angelegenheiten ein viermonatliches noch knapp
vor Jahresschluß durch die Delegationen. Man ist beinahe schon stolz darauf,
daß man hüben, drüben und in der gemeinsamen Wirtschaft wenigstens auf
Grund parlamentarischer Ermächtigungen wirtschaftet und nicht im "exlex" oder
mit dein Z 14. Man muß nun freilich schon recht bescheiden sein, um sich
darüber zu freuen; unter Umständen ist ja ein Provisorium kein Unglück, wenn
es eine Episode in einer sonst geordneten Wirtschaft bedeutet; wenn es aber


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Zur weiteren Kennzeichnung möchte ich heute nur noch einen Fall erwähnen,
der geradezu wie ein Kuriosum wirkt. Ein sehr bekannter Politiker — kein
Journalist — war im Juni bei Herrn von Kiderlen und verbreitete im
Anschluß an seine Unterredung, die Regierung sei fest entschlossen, sich in Marokko
festzusehen und zwar selbst aus die Gefahr eines Krieges hin. Bei seinen
Angaben stützte der betreffende Herr sich auf ein Stenogramm, das er gleich
nach der Unterredung niedergeschrieben habe. Als dann die Differenzen zwischen
Altdeutschen und Regierung ausgebrochen waren und unheilvoll zu wirken
begannen, da wurde der Herr von seinen Freunden aufgefordert, das Stenogramm
vorzulesen. Was stellte sich heraus? Das Stenogramm war gerade im entgegen¬
gesetzten Sinne von dem aufzufassen, was der Herr als „Absicht des Staats¬
sekretärs" verbreitet hatte! Der Herr hatte, da er in den kritischen Tagen mit
vielen Personen gesprochen, die Angaben des Staatssekretärs mit denen einer
anderen Persönlichkeit verwechselt und darüber vergessen, ums er selbst nieder¬
schrieb! Das war nun nicht etwa ein junger Hilfsredakteur, sondern ein
viel beachteter und einflußreicher Politiker, dessen Wort etwas gilt. Wer weiß,
wie in den Monaten vor Abschluß des Marokko-Vertrages Politiker und
Redaktionen von allerhand Menschen bestürmt wurden und welche Nachrichten¬
fabrikation stattfand, der wird vielleicht verstehen, daß solche Vermengungen
möglich sind. Der Psychologe fände jedenfalls ein Material zu einem Aufsatze
über Massenpsychose, wie es sonst nicht so leicht zusammengebracht wird.

Hiermit möchte ich es für heute genug sein lassen, da ich mich am 19. dieses
Monats vor dem Schöffengericht zu Essen wegen „Beleidigung der Rheinisch-
Westfälischen Zeitung" zu verantworten habe. Mit Rücksicht auf die Aufforderung
der Deutschen Tageszeitung, den Streit aus patriotischen Gründen zu schließen,
sei nur noch bemerkt, daß es im gegenwärtigen Stadium des Prozesses nicht
in meiner Macht liegt, entsprechende Schritte zu unternehmen. Bisher haben
ausschließlich meine Gegner das politische Motiv in die Verhandlung gebracht,
G. Lleinow Nicht ich.


Wiener Brief

Das Budgetdrovisorium — Graf Achrenihal und der Kriegsminister — Friedens¬
liebe des Thronfolgers — Osterreich während der Marokkokrise — Aehrenthal und
von Tschirschly

Wir stehen bei Beginn des neuen Jahres im Zeichen der Provisorien; in
Österreich ist ein Budgetprovisorium angenommen worden, in Ungarn, und
schließlich für die gemeinsamen Angelegenheiten ein viermonatliches noch knapp
vor Jahresschluß durch die Delegationen. Man ist beinahe schon stolz darauf,
daß man hüben, drüben und in der gemeinsamen Wirtschaft wenigstens auf
Grund parlamentarischer Ermächtigungen wirtschaftet und nicht im „exlex" oder
mit dein Z 14. Man muß nun freilich schon recht bescheiden sein, um sich
darüber zu freuen; unter Umständen ist ja ein Provisorium kein Unglück, wenn
es eine Episode in einer sonst geordneten Wirtschaft bedeutet; wenn es aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/105>, abgerufen am 29.04.2024.