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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Auswärtige Politik

Marokko im französischen Senat -- Minisierkrisis -- Schwierigkeiten der Kabineiis¬
bildung -- Herr Delcasft -- Die Kandidatur Poincarö -- Frankreichs auswärtige
Politik -- Frankreich und England -- Die Gewerkschaftsbewegung in England

Marokko, und immer wieder Marokko! Es scheint fast, als könne diese
unheilschwangere Frage doch nicht eher zur Ruhe kommen, als bis sie einen
der an ihr beteiligten Staaten tödlich verwundete. Noch sind alle Blicke auf
Nordwestafrika gerichtet trotz Tripolis und Mazedonien, trotz Persien, trotz China,
Mandschurei und Mongolei! Diesmal ist es die plötzlich über Frankreich aus
Anlaß des Marokkoabkommens vom 4. November 1911 hereingebrochene Minister¬
krisis, die uns erneut zwingt, uns des Marokkohandels im Nahmen der Welt¬
politik zu erinnern. Herr de Selves, Frankreichs Minister der auswärtigen
Angelegenheit, ist aus dem Kabinettsboot heraufgesprungen, das den Marokko¬
vertrag durch die stürmische Senatssee in den sicheren Hafen führen sollte, und
hat dabei sämtliche Ruderer von ihren Bänken geworfen. Ob es einfach Fahnen¬
flucht ist, oder ob es sich um ein sein und perfide eingefädeltes Komplott des
Chauvinisten Clemenceau oder des ehrgeizigen Delcassö handelt, bei dem Herr
de Selves eine möglichst unrühmliche Rolle spielte, das entzieht sich zunächst
unserer Kenntnis, ist auch für die Sache selbst recht unwesentlich.

Der Handstreich der Herren Delcasse und Genossen hat auch noch zu keinem
endgültigen Ergebnis geführt. Herr Delcasse, dessen Erscheinen an der Spitze
der französischen Negierung von unseren Chauvinisten als eine Herausforderung
Deutschlands bezeichnet wurde, hat weder das Präsidium noch die Leitung der
auswärtigen Angelegenheiten übernommen. Vielmehr heißt es, daß Herr Poincarö
die Last der Regierungsführung auf sich geladen hat, während Herr Delcassö
die Rolle des Kriegsministers eintauscht gegen die des Marineministers. In
diesem Hinüberwechseln Delcassüs aus einem Ressort in das andere, mag eine
gewisse Absichtlichkeit liegen. Es hat wirklich den Allschein, als wenn dieser
fähige und rücksichtslose Kopf erst alle Elemente staatlicher Betätigung in der
auswärtigen Politik aus eigener Anschauung kennen lernen will, ehe er sich zur
Übernahme der Leitung der Regierung versteht. Aber ob diese Tendenz dem
Vorgehen Delcasses zugrunde liegt, können wir nur mutmaßen. Immerhin,
eine Gefahr für Deutschland brauchen wir darin noch nicht zu erkennen. Nicht
Kenntnisse, sondern Unkenntniß ist meist die Ursache voll Mißgriffen und falschen
Orientierungen.

Die Kandidatur Poincarös ist ein Zeichen dafür, daß der nationale
Gedanke in den führenden Kreisen Frankreichs kräftig in den Vordergrund strebt.
Herr Poincare ist kein Neuling und hat eine für die innere Politik Frankreichs
wichtige Geschichte hinter sich. Während der schweren Jahre 1907, als die
Republikaner und Demokraten den Kampf gegen die staatszersetzenden Heroeisten
und Syndikalisten zu führen hatten, stellte sich Poincarö an die Spitze der
Ordnungsparteien, und eine seiner gegen die Syndikalisten gehaltene Rede schließt


Grenzboien I 1912 ^
Reichsspiegel

Auswärtige Politik

Marokko im französischen Senat — Minisierkrisis — Schwierigkeiten der Kabineiis¬
bildung — Herr Delcasft — Die Kandidatur Poincarö — Frankreichs auswärtige
Politik — Frankreich und England — Die Gewerkschaftsbewegung in England

Marokko, und immer wieder Marokko! Es scheint fast, als könne diese
unheilschwangere Frage doch nicht eher zur Ruhe kommen, als bis sie einen
der an ihr beteiligten Staaten tödlich verwundete. Noch sind alle Blicke auf
Nordwestafrika gerichtet trotz Tripolis und Mazedonien, trotz Persien, trotz China,
Mandschurei und Mongolei! Diesmal ist es die plötzlich über Frankreich aus
Anlaß des Marokkoabkommens vom 4. November 1911 hereingebrochene Minister¬
krisis, die uns erneut zwingt, uns des Marokkohandels im Nahmen der Welt¬
politik zu erinnern. Herr de Selves, Frankreichs Minister der auswärtigen
Angelegenheit, ist aus dem Kabinettsboot heraufgesprungen, das den Marokko¬
vertrag durch die stürmische Senatssee in den sicheren Hafen führen sollte, und
hat dabei sämtliche Ruderer von ihren Bänken geworfen. Ob es einfach Fahnen¬
flucht ist, oder ob es sich um ein sein und perfide eingefädeltes Komplott des
Chauvinisten Clemenceau oder des ehrgeizigen Delcassö handelt, bei dem Herr
de Selves eine möglichst unrühmliche Rolle spielte, das entzieht sich zunächst
unserer Kenntnis, ist auch für die Sache selbst recht unwesentlich.

Der Handstreich der Herren Delcasse und Genossen hat auch noch zu keinem
endgültigen Ergebnis geführt. Herr Delcasse, dessen Erscheinen an der Spitze
der französischen Negierung von unseren Chauvinisten als eine Herausforderung
Deutschlands bezeichnet wurde, hat weder das Präsidium noch die Leitung der
auswärtigen Angelegenheiten übernommen. Vielmehr heißt es, daß Herr Poincarö
die Last der Regierungsführung auf sich geladen hat, während Herr Delcassö
die Rolle des Kriegsministers eintauscht gegen die des Marineministers. In
diesem Hinüberwechseln Delcassüs aus einem Ressort in das andere, mag eine
gewisse Absichtlichkeit liegen. Es hat wirklich den Allschein, als wenn dieser
fähige und rücksichtslose Kopf erst alle Elemente staatlicher Betätigung in der
auswärtigen Politik aus eigener Anschauung kennen lernen will, ehe er sich zur
Übernahme der Leitung der Regierung versteht. Aber ob diese Tendenz dem
Vorgehen Delcasses zugrunde liegt, können wir nur mutmaßen. Immerhin,
eine Gefahr für Deutschland brauchen wir darin noch nicht zu erkennen. Nicht
Kenntnisse, sondern Unkenntniß ist meist die Ursache voll Mißgriffen und falschen
Orientierungen.

Die Kandidatur Poincarös ist ein Zeichen dafür, daß der nationale
Gedanke in den führenden Kreisen Frankreichs kräftig in den Vordergrund strebt.
Herr Poincare ist kein Neuling und hat eine für die innere Politik Frankreichs
wichtige Geschichte hinter sich. Während der schweren Jahre 1907, als die
Republikaner und Demokraten den Kampf gegen die staatszersetzenden Heroeisten
und Syndikalisten zu führen hatten, stellte sich Poincarö an die Spitze der
Ordnungsparteien, und eine seiner gegen die Syndikalisten gehaltene Rede schließt


Grenzboien I 1912 ^
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[0153] Reichsspiegel Auswärtige Politik Marokko im französischen Senat — Minisierkrisis — Schwierigkeiten der Kabineiis¬ bildung — Herr Delcasft — Die Kandidatur Poincarö — Frankreichs auswärtige Politik — Frankreich und England — Die Gewerkschaftsbewegung in England Marokko, und immer wieder Marokko! Es scheint fast, als könne diese unheilschwangere Frage doch nicht eher zur Ruhe kommen, als bis sie einen der an ihr beteiligten Staaten tödlich verwundete. Noch sind alle Blicke auf Nordwestafrika gerichtet trotz Tripolis und Mazedonien, trotz Persien, trotz China, Mandschurei und Mongolei! Diesmal ist es die plötzlich über Frankreich aus Anlaß des Marokkoabkommens vom 4. November 1911 hereingebrochene Minister¬ krisis, die uns erneut zwingt, uns des Marokkohandels im Nahmen der Welt¬ politik zu erinnern. Herr de Selves, Frankreichs Minister der auswärtigen Angelegenheit, ist aus dem Kabinettsboot heraufgesprungen, das den Marokko¬ vertrag durch die stürmische Senatssee in den sicheren Hafen führen sollte, und hat dabei sämtliche Ruderer von ihren Bänken geworfen. Ob es einfach Fahnen¬ flucht ist, oder ob es sich um ein sein und perfide eingefädeltes Komplott des Chauvinisten Clemenceau oder des ehrgeizigen Delcassö handelt, bei dem Herr de Selves eine möglichst unrühmliche Rolle spielte, das entzieht sich zunächst unserer Kenntnis, ist auch für die Sache selbst recht unwesentlich. Der Handstreich der Herren Delcasse und Genossen hat auch noch zu keinem endgültigen Ergebnis geführt. Herr Delcasse, dessen Erscheinen an der Spitze der französischen Negierung von unseren Chauvinisten als eine Herausforderung Deutschlands bezeichnet wurde, hat weder das Präsidium noch die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten übernommen. Vielmehr heißt es, daß Herr Poincarö die Last der Regierungsführung auf sich geladen hat, während Herr Delcassö die Rolle des Kriegsministers eintauscht gegen die des Marineministers. In diesem Hinüberwechseln Delcassüs aus einem Ressort in das andere, mag eine gewisse Absichtlichkeit liegen. Es hat wirklich den Allschein, als wenn dieser fähige und rücksichtslose Kopf erst alle Elemente staatlicher Betätigung in der auswärtigen Politik aus eigener Anschauung kennen lernen will, ehe er sich zur Übernahme der Leitung der Regierung versteht. Aber ob diese Tendenz dem Vorgehen Delcasses zugrunde liegt, können wir nur mutmaßen. Immerhin, eine Gefahr für Deutschland brauchen wir darin noch nicht zu erkennen. Nicht Kenntnisse, sondern Unkenntniß ist meist die Ursache voll Mißgriffen und falschen Orientierungen. Die Kandidatur Poincarös ist ein Zeichen dafür, daß der nationale Gedanke in den führenden Kreisen Frankreichs kräftig in den Vordergrund strebt. Herr Poincare ist kein Neuling und hat eine für die innere Politik Frankreichs wichtige Geschichte hinter sich. Während der schweren Jahre 1907, als die Republikaner und Demokraten den Kampf gegen die staatszersetzenden Heroeisten und Syndikalisten zu führen hatten, stellte sich Poincarö an die Spitze der Ordnungsparteien, und eine seiner gegen die Syndikalisten gehaltene Rede schließt Grenzboien I 1912 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/153>, abgerufen am 29.04.2024.