Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Sozialismus in England

Das Volk hat ihn geliebt; in all seiner Strenge und Verbissenheit des
Alters hat es den "Alten Fritz" vertraulich verehrt. In ihm fanden sich die

Deutschen, trotz aller Vaterländerei, in ihm erhob die Nation als solche von
neuem den berechtigten Anspruch auf eine weltgeschichtliche Mission.

In dieser unscheinbaren Heldengestalt finden wir uns heute wie je, und

höher schlägt uns das Herz, wenn wir seiner gedenken, der ein König war und
ein großer, ein wahrhaft großer Mensch.




Der ^ozialismus in England
von Dr. Ludwig Mnnzinger Aufstieg und Wirkungen

n England gibt es einen Sozialismus, aber keine Sozialdemokratie.
Will man als Deutscher daher sich über die Bedeutung des eng¬
lischen Sozialismus klar werden, so muß man von dem deutschen
Begriff Sozialdemokratie zuerst die Demokratie abziehen, um auf
eine Vergleichsgrundlage zu kommen.

Was in Deutschland die Reihen der sozialdemokratischen Wählerbataillonc
füllt, ist heute sicher noch zu einem sehr großen, wenn nicht zum größeren Teil
keineswegs das Bedürfnis, eine bewußt sozialistische Weltanschauung zum Aus¬
druck zu bringen. Der größere Teil der sozialdemokratischen Wähler wirst
demokratischen Instinkten nachgebend den roten Zettel in die Urne, um irgend
einer mehr oder weniger begründeten Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.
Ein anderes Ventil hat er bei der Eigenart unserer Parteiverhältnisse nicht.

In England, wo heutzutage augenscheinlich mehr Ursache zu wirtschaft'
licher Unzufriedenheit in den unteren Bevölkerungsdichten besteht als in Deutsch¬
land, hat man ein geeignetes Ventil für politisch-wirtschaftlichen Überdruck. Es
ist die seit der "glorreichen Revolution" von 1689 sorgfältig aufrecht erhaltene
Einbildung, daß damals die Demokratie endgültig über absolutistische Neigungen
der Krone triumphiert und seither ihr Banner über den britischen Inseln auf¬
recht erhalten habe. In Wahrheit haben weder damals noch im weiteren Ver¬
lauf der englischen Geschichte demokratische Kräfte den Gang der Entwicklung
wesentlich beeinflußt. Davon kann höchstens in der allerletzten Zeit die Rede sein.

Der Sozialismus als parteibildende Theorie und Weltanschauung wird oft
mit einer religiösen Glaubenslehre verglichen. Daß er das tatsächlich ist, hat
er durch seine Wirkung auf die englische Volksseele bewiesen. Er ist von ihr
nicht als festgeschlossener Komplex wirtschaftlich-politischer Glaubenslehren, wie


Der Sozialismus in England

Das Volk hat ihn geliebt; in all seiner Strenge und Verbissenheit des
Alters hat es den „Alten Fritz" vertraulich verehrt. In ihm fanden sich die

Deutschen, trotz aller Vaterländerei, in ihm erhob die Nation als solche von
neuem den berechtigten Anspruch auf eine weltgeschichtliche Mission.

In dieser unscheinbaren Heldengestalt finden wir uns heute wie je, und

höher schlägt uns das Herz, wenn wir seiner gedenken, der ein König war und
ein großer, ein wahrhaft großer Mensch.




Der ^ozialismus in England
von Dr. Ludwig Mnnzinger Aufstieg und Wirkungen

n England gibt es einen Sozialismus, aber keine Sozialdemokratie.
Will man als Deutscher daher sich über die Bedeutung des eng¬
lischen Sozialismus klar werden, so muß man von dem deutschen
Begriff Sozialdemokratie zuerst die Demokratie abziehen, um auf
eine Vergleichsgrundlage zu kommen.

Was in Deutschland die Reihen der sozialdemokratischen Wählerbataillonc
füllt, ist heute sicher noch zu einem sehr großen, wenn nicht zum größeren Teil
keineswegs das Bedürfnis, eine bewußt sozialistische Weltanschauung zum Aus¬
druck zu bringen. Der größere Teil der sozialdemokratischen Wähler wirst
demokratischen Instinkten nachgebend den roten Zettel in die Urne, um irgend
einer mehr oder weniger begründeten Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.
Ein anderes Ventil hat er bei der Eigenart unserer Parteiverhältnisse nicht.

In England, wo heutzutage augenscheinlich mehr Ursache zu wirtschaft'
licher Unzufriedenheit in den unteren Bevölkerungsdichten besteht als in Deutsch¬
land, hat man ein geeignetes Ventil für politisch-wirtschaftlichen Überdruck. Es
ist die seit der „glorreichen Revolution" von 1689 sorgfältig aufrecht erhaltene
Einbildung, daß damals die Demokratie endgültig über absolutistische Neigungen
der Krone triumphiert und seither ihr Banner über den britischen Inseln auf¬
recht erhalten habe. In Wahrheit haben weder damals noch im weiteren Ver¬
lauf der englischen Geschichte demokratische Kräfte den Gang der Entwicklung
wesentlich beeinflußt. Davon kann höchstens in der allerletzten Zeit die Rede sein.

Der Sozialismus als parteibildende Theorie und Weltanschauung wird oft
mit einer religiösen Glaubenslehre verglichen. Daß er das tatsächlich ist, hat
er durch seine Wirkung auf die englische Volksseele bewiesen. Er ist von ihr
nicht als festgeschlossener Komplex wirtschaftlich-politischer Glaubenslehren, wie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0166" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320583"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Sozialismus in England</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_612"> Das Volk hat ihn geliebt; in all seiner Strenge und Verbissenheit des<lb/>
Alters hat es den &#x201E;Alten Fritz" vertraulich verehrt.  In ihm fanden sich die</p><lb/>
          <p xml:id="ID_613"> Deutschen, trotz aller Vaterländerei, in ihm erhob die Nation als solche von<lb/>
neuem den berechtigten Anspruch auf eine weltgeschichtliche Mission.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_614"> In dieser unscheinbaren Heldengestalt finden wir uns heute wie je, und</p><lb/>
          <p xml:id="ID_615"> höher schlägt uns das Herz, wenn wir seiner gedenken, der ein König war und<lb/>
ein großer, ein wahrhaft großer Mensch.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der ^ozialismus in England<lb/><note type="byline"> von Dr. Ludwig Mnnzinger</note> Aufstieg und Wirkungen </head><lb/>
          <p xml:id="ID_616"> n England gibt es einen Sozialismus, aber keine Sozialdemokratie.<lb/>
Will man als Deutscher daher sich über die Bedeutung des eng¬<lb/>
lischen Sozialismus klar werden, so muß man von dem deutschen<lb/>
Begriff Sozialdemokratie zuerst die Demokratie abziehen, um auf<lb/>
eine Vergleichsgrundlage zu kommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_617"> Was in Deutschland die Reihen der sozialdemokratischen Wählerbataillonc<lb/>
füllt, ist heute sicher noch zu einem sehr großen, wenn nicht zum größeren Teil<lb/>
keineswegs das Bedürfnis, eine bewußt sozialistische Weltanschauung zum Aus¬<lb/>
druck zu bringen. Der größere Teil der sozialdemokratischen Wähler wirst<lb/>
demokratischen Instinkten nachgebend den roten Zettel in die Urne, um irgend<lb/>
einer mehr oder weniger begründeten Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.<lb/>
Ein anderes Ventil hat er bei der Eigenart unserer Parteiverhältnisse nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_618"> In England, wo heutzutage augenscheinlich mehr Ursache zu wirtschaft'<lb/>
licher Unzufriedenheit in den unteren Bevölkerungsdichten besteht als in Deutsch¬<lb/>
land, hat man ein geeignetes Ventil für politisch-wirtschaftlichen Überdruck. Es<lb/>
ist die seit der &#x201E;glorreichen Revolution" von 1689 sorgfältig aufrecht erhaltene<lb/>
Einbildung, daß damals die Demokratie endgültig über absolutistische Neigungen<lb/>
der Krone triumphiert und seither ihr Banner über den britischen Inseln auf¬<lb/>
recht erhalten habe. In Wahrheit haben weder damals noch im weiteren Ver¬<lb/>
lauf der englischen Geschichte demokratische Kräfte den Gang der Entwicklung<lb/>
wesentlich beeinflußt.  Davon kann höchstens in der allerletzten Zeit die Rede sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_619" next="#ID_620"> Der Sozialismus als parteibildende Theorie und Weltanschauung wird oft<lb/>
mit einer religiösen Glaubenslehre verglichen. Daß er das tatsächlich ist, hat<lb/>
er durch seine Wirkung auf die englische Volksseele bewiesen. Er ist von ihr<lb/>
nicht als festgeschlossener Komplex wirtschaftlich-politischer Glaubenslehren, wie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0166] Der Sozialismus in England Das Volk hat ihn geliebt; in all seiner Strenge und Verbissenheit des Alters hat es den „Alten Fritz" vertraulich verehrt. In ihm fanden sich die Deutschen, trotz aller Vaterländerei, in ihm erhob die Nation als solche von neuem den berechtigten Anspruch auf eine weltgeschichtliche Mission. In dieser unscheinbaren Heldengestalt finden wir uns heute wie je, und höher schlägt uns das Herz, wenn wir seiner gedenken, der ein König war und ein großer, ein wahrhaft großer Mensch. Der ^ozialismus in England von Dr. Ludwig Mnnzinger Aufstieg und Wirkungen n England gibt es einen Sozialismus, aber keine Sozialdemokratie. Will man als Deutscher daher sich über die Bedeutung des eng¬ lischen Sozialismus klar werden, so muß man von dem deutschen Begriff Sozialdemokratie zuerst die Demokratie abziehen, um auf eine Vergleichsgrundlage zu kommen. Was in Deutschland die Reihen der sozialdemokratischen Wählerbataillonc füllt, ist heute sicher noch zu einem sehr großen, wenn nicht zum größeren Teil keineswegs das Bedürfnis, eine bewußt sozialistische Weltanschauung zum Aus¬ druck zu bringen. Der größere Teil der sozialdemokratischen Wähler wirst demokratischen Instinkten nachgebend den roten Zettel in die Urne, um irgend einer mehr oder weniger begründeten Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Ein anderes Ventil hat er bei der Eigenart unserer Parteiverhältnisse nicht. In England, wo heutzutage augenscheinlich mehr Ursache zu wirtschaft' licher Unzufriedenheit in den unteren Bevölkerungsdichten besteht als in Deutsch¬ land, hat man ein geeignetes Ventil für politisch-wirtschaftlichen Überdruck. Es ist die seit der „glorreichen Revolution" von 1689 sorgfältig aufrecht erhaltene Einbildung, daß damals die Demokratie endgültig über absolutistische Neigungen der Krone triumphiert und seither ihr Banner über den britischen Inseln auf¬ recht erhalten habe. In Wahrheit haben weder damals noch im weiteren Ver¬ lauf der englischen Geschichte demokratische Kräfte den Gang der Entwicklung wesentlich beeinflußt. Davon kann höchstens in der allerletzten Zeit die Rede sein. Der Sozialismus als parteibildende Theorie und Weltanschauung wird oft mit einer religiösen Glaubenslehre verglichen. Daß er das tatsächlich ist, hat er durch seine Wirkung auf die englische Volksseele bewiesen. Er ist von ihr nicht als festgeschlossener Komplex wirtschaftlich-politischer Glaubenslehren, wie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/166
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/166>, abgerufen am 29.04.2024.