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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Gingeborenenrecht in den deutschen Kolonien
von Prof. Dr. Kurt pcrcls

meer Eingeborenenrecht im eigentlichen Sinne versteht man das
für bestimmte Eingeborenengemeinschaften -- Stämme, Völker¬
schaften, Dorfschaften usw. -- geltende Recht, soweit es von diesen
Gemeinschaften selbst erzeugt ist. Es bedarf keines Hinweises
darauf, daß dieses "Recht" nur ganz ausnahmsweise auf bewußter
Schöpfung beruht; seine "Sätze" befinden sich vielmehr im allgemeinen in engster
Gemengelage mit anderen ungeschriebenen Regeln des religiösen, sittlichen, gesell¬
schaftlichen und wirtschaftlichen Lebens.

Die Kenntnis dieser Anschauungen, soweit sie bis zu einem gewissen Grade
konsolidiert sind, ist von der größten Bedeutung für die kolonisierende Macht.
Es handelt sich dabei nicht nur um das sehr naheliegende wissenschaftliche
Interesse, das sich ganz von selbst einem fremden, verborgenen Recht zuwendet.
Die Erforschung des Eingeborenenrechts ist vielmehr, auch abgesehen von den
Bedürfnissen der hier in vorderster Linie stehenden vergleichenden Rechtswissen¬
schaft sowie der Völkerkunde (wenn anders sie nicht einseitig nach musealen
Gesichtspunkten betrieben wird), von sehr erheblicher praktischer Wichtigkeit.

Hier kommt zunächst die allgemeine kolonisatorische Tätigkeit in Betracht,
gleichviel ob sie sich auf dein Gebiet der Wirtschaft oder auf dem der Verwaltung
im engeren Sinne vollzieht. Denn wenn es wahr ist, daß wir, zumal in den
tropischen Kolonien, die farbige Bevölkerung nur dnrch geistige Machtmittel
dauernd beherrschen können, so ist zugleich deutlich, daß die Kenntnis auch des
geistigen -- und nicht bloß des physischen -- Daseins der Eingeborenen und
seiner Bedingtheiten eine wesentliche Voraussetzung gesicherter Herrschaft ist. So
erhebt sich auf diesem Gebiete die Nechtsforschung recht eigentlich zur Menschen¬
forschung. Die Beobachtung des geregelten Verhaltens führt zur Erkenntnis
der Denkart, auf der das Verhalten beruht; die Erkenntnis der Denkart des
beherrschten Objekts aber erschließt den Weg zur Beherrschung.

Nur der Menschenkenner ist zum Herrschen geboren. Das gilt nicht nur
für das Leben der Einzelnen. Der spanischen wie der portugiesischen Kolonial-




Gingeborenenrecht in den deutschen Kolonien
von Prof. Dr. Kurt pcrcls

meer Eingeborenenrecht im eigentlichen Sinne versteht man das
für bestimmte Eingeborenengemeinschaften — Stämme, Völker¬
schaften, Dorfschaften usw. — geltende Recht, soweit es von diesen
Gemeinschaften selbst erzeugt ist. Es bedarf keines Hinweises
darauf, daß dieses „Recht" nur ganz ausnahmsweise auf bewußter
Schöpfung beruht; seine „Sätze" befinden sich vielmehr im allgemeinen in engster
Gemengelage mit anderen ungeschriebenen Regeln des religiösen, sittlichen, gesell¬
schaftlichen und wirtschaftlichen Lebens.

Die Kenntnis dieser Anschauungen, soweit sie bis zu einem gewissen Grade
konsolidiert sind, ist von der größten Bedeutung für die kolonisierende Macht.
Es handelt sich dabei nicht nur um das sehr naheliegende wissenschaftliche
Interesse, das sich ganz von selbst einem fremden, verborgenen Recht zuwendet.
Die Erforschung des Eingeborenenrechts ist vielmehr, auch abgesehen von den
Bedürfnissen der hier in vorderster Linie stehenden vergleichenden Rechtswissen¬
schaft sowie der Völkerkunde (wenn anders sie nicht einseitig nach musealen
Gesichtspunkten betrieben wird), von sehr erheblicher praktischer Wichtigkeit.

Hier kommt zunächst die allgemeine kolonisatorische Tätigkeit in Betracht,
gleichviel ob sie sich auf dein Gebiet der Wirtschaft oder auf dem der Verwaltung
im engeren Sinne vollzieht. Denn wenn es wahr ist, daß wir, zumal in den
tropischen Kolonien, die farbige Bevölkerung nur dnrch geistige Machtmittel
dauernd beherrschen können, so ist zugleich deutlich, daß die Kenntnis auch des
geistigen — und nicht bloß des physischen — Daseins der Eingeborenen und
seiner Bedingtheiten eine wesentliche Voraussetzung gesicherter Herrschaft ist. So
erhebt sich auf diesem Gebiete die Nechtsforschung recht eigentlich zur Menschen¬
forschung. Die Beobachtung des geregelten Verhaltens führt zur Erkenntnis
der Denkart, auf der das Verhalten beruht; die Erkenntnis der Denkart des
beherrschten Objekts aber erschließt den Weg zur Beherrschung.

Nur der Menschenkenner ist zum Herrschen geboren. Das gilt nicht nur
für das Leben der Einzelnen. Der spanischen wie der portugiesischen Kolonial-


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[0017] [Abbildung] Gingeborenenrecht in den deutschen Kolonien von Prof. Dr. Kurt pcrcls meer Eingeborenenrecht im eigentlichen Sinne versteht man das für bestimmte Eingeborenengemeinschaften — Stämme, Völker¬ schaften, Dorfschaften usw. — geltende Recht, soweit es von diesen Gemeinschaften selbst erzeugt ist. Es bedarf keines Hinweises darauf, daß dieses „Recht" nur ganz ausnahmsweise auf bewußter Schöpfung beruht; seine „Sätze" befinden sich vielmehr im allgemeinen in engster Gemengelage mit anderen ungeschriebenen Regeln des religiösen, sittlichen, gesell¬ schaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Die Kenntnis dieser Anschauungen, soweit sie bis zu einem gewissen Grade konsolidiert sind, ist von der größten Bedeutung für die kolonisierende Macht. Es handelt sich dabei nicht nur um das sehr naheliegende wissenschaftliche Interesse, das sich ganz von selbst einem fremden, verborgenen Recht zuwendet. Die Erforschung des Eingeborenenrechts ist vielmehr, auch abgesehen von den Bedürfnissen der hier in vorderster Linie stehenden vergleichenden Rechtswissen¬ schaft sowie der Völkerkunde (wenn anders sie nicht einseitig nach musealen Gesichtspunkten betrieben wird), von sehr erheblicher praktischer Wichtigkeit. Hier kommt zunächst die allgemeine kolonisatorische Tätigkeit in Betracht, gleichviel ob sie sich auf dein Gebiet der Wirtschaft oder auf dem der Verwaltung im engeren Sinne vollzieht. Denn wenn es wahr ist, daß wir, zumal in den tropischen Kolonien, die farbige Bevölkerung nur dnrch geistige Machtmittel dauernd beherrschen können, so ist zugleich deutlich, daß die Kenntnis auch des geistigen — und nicht bloß des physischen — Daseins der Eingeborenen und seiner Bedingtheiten eine wesentliche Voraussetzung gesicherter Herrschaft ist. So erhebt sich auf diesem Gebiete die Nechtsforschung recht eigentlich zur Menschen¬ forschung. Die Beobachtung des geregelten Verhaltens führt zur Erkenntnis der Denkart, auf der das Verhalten beruht; die Erkenntnis der Denkart des beherrschten Objekts aber erschließt den Weg zur Beherrschung. Nur der Menschenkenner ist zum Herrschen geboren. Das gilt nicht nur für das Leben der Einzelnen. Der spanischen wie der portugiesischen Kolonial-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/17>, abgerufen am 29.04.2024.