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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Ilistoria militans

Sozialismus aus ganz bedeutsame grundsätzliche Errungenschaften erzielt worden
sind. So wird wohl die Entwicklung in England, die sichtlich zu einer lang¬
samen und schrittweisen Eingliederung des Sozialismus in den Staatskörper
neigt, menschlicher Voraussicht nach sich leichter und geräuschloser vollziehen als
anderswo. Ob der kritische Punkt schon überschritten ist, läßt sich noch nicht
sagen. Aber zu einer katastrophalen Entwicklung wird es, wenn nicht Aus¬
nahmeumstände eintreten, kaum kommen.

Wir in Deutschland können wohl noch nicht mit einiger Sicherheit sagen,
daß katastrophale Entwicklungen ausgeschlossen sind, oder daß mindestens Nei¬
gungen in unserem Sozialismus, die Entwicklung katastrophal zu beeinflussen,
aussichtslos erscheinen. Jedes Land hat u. a. auch den Sozialismus, den es
verdient, wird gelegentlich gesagt.




t^toria militans von Dr. Wilhelm Martin Becker

M> s sind nun gerade hundert Jahre her, daß Karl v. Rotteck in der
Vorrede zu seiner "Allgemeinen Geschichte" die folgenden program¬
matischen Sätze aussprach: "Allerdings ist die Geschichte eine reiche
Quelle von Kenntnissen; aber hierdurch wird nur die Hälfte ihres
Wertes bestimmt. Sie soll auch aufs Gefühl und auf den Willen
wirken, die moralische Kraft erhöhen, Liebe zur Tugend und Haß des Lasters
geben und Begeisterung zu großer Tat." Mit dieser Erklärung ist Rotteck an
die Spitze derjenigen Historiker getreten, die bewußt Zweck und Ziel der historischen
Untersuchung und Darstellung auch auf einem Gebiete suchten, das außerhalb
der bloßen Erkenntnis liegt; die also nicht eine rein wissenschaftliche, sondern
eine ethisch-pädagogische Tendenz für die Geschichtsschreibung in Anspruch
nahmen. Wie sehr eine solche Zielsetzung dem Zeitgeist entgegenkam, sieht man
an den fünfundzwanzig Auflagen, die Rottecks Werk in den folgenden Jahr¬
zehnten erlebte, und daran, daß die gleichzeitigen Geschichtschreiber fast alle in
ähnlichem Sinne ihre Aufgabe faßten. Es ist nach der Eigenart des geschicht¬
lichen Stoffes klar, daß die angedeutete Tendenz sich vom rein moralischen auf
das politische Gebiet erstreckte. Die Geschichtschreiber legten an die Geschehnisse
der Vergangenheit die Maßstäbe ihrer moralischen und politischen Überzeugungen
an, sie beurteilten die Persönlichkeiten der Vergangenheit durch den Vergleich
mit ihrem eigenen politischen Heldenideal. "Sie haßten und verklagten die einen,
als wären sie ihre persönlichen Gegner, und priesen diejenigen hoch, in denen
sie die eigenen oder verwandte Überzeugungen wiederzufinden glaubten; die


Ilistoria militans

Sozialismus aus ganz bedeutsame grundsätzliche Errungenschaften erzielt worden
sind. So wird wohl die Entwicklung in England, die sichtlich zu einer lang¬
samen und schrittweisen Eingliederung des Sozialismus in den Staatskörper
neigt, menschlicher Voraussicht nach sich leichter und geräuschloser vollziehen als
anderswo. Ob der kritische Punkt schon überschritten ist, läßt sich noch nicht
sagen. Aber zu einer katastrophalen Entwicklung wird es, wenn nicht Aus¬
nahmeumstände eintreten, kaum kommen.

Wir in Deutschland können wohl noch nicht mit einiger Sicherheit sagen,
daß katastrophale Entwicklungen ausgeschlossen sind, oder daß mindestens Nei¬
gungen in unserem Sozialismus, die Entwicklung katastrophal zu beeinflussen,
aussichtslos erscheinen. Jedes Land hat u. a. auch den Sozialismus, den es
verdient, wird gelegentlich gesagt.




t^toria militans von Dr. Wilhelm Martin Becker

M> s sind nun gerade hundert Jahre her, daß Karl v. Rotteck in der
Vorrede zu seiner „Allgemeinen Geschichte" die folgenden program¬
matischen Sätze aussprach: „Allerdings ist die Geschichte eine reiche
Quelle von Kenntnissen; aber hierdurch wird nur die Hälfte ihres
Wertes bestimmt. Sie soll auch aufs Gefühl und auf den Willen
wirken, die moralische Kraft erhöhen, Liebe zur Tugend und Haß des Lasters
geben und Begeisterung zu großer Tat." Mit dieser Erklärung ist Rotteck an
die Spitze derjenigen Historiker getreten, die bewußt Zweck und Ziel der historischen
Untersuchung und Darstellung auch auf einem Gebiete suchten, das außerhalb
der bloßen Erkenntnis liegt; die also nicht eine rein wissenschaftliche, sondern
eine ethisch-pädagogische Tendenz für die Geschichtsschreibung in Anspruch
nahmen. Wie sehr eine solche Zielsetzung dem Zeitgeist entgegenkam, sieht man
an den fünfundzwanzig Auflagen, die Rottecks Werk in den folgenden Jahr¬
zehnten erlebte, und daran, daß die gleichzeitigen Geschichtschreiber fast alle in
ähnlichem Sinne ihre Aufgabe faßten. Es ist nach der Eigenart des geschicht¬
lichen Stoffes klar, daß die angedeutete Tendenz sich vom rein moralischen auf
das politische Gebiet erstreckte. Die Geschichtschreiber legten an die Geschehnisse
der Vergangenheit die Maßstäbe ihrer moralischen und politischen Überzeugungen
an, sie beurteilten die Persönlichkeiten der Vergangenheit durch den Vergleich
mit ihrem eigenen politischen Heldenideal. „Sie haßten und verklagten die einen,
als wären sie ihre persönlichen Gegner, und priesen diejenigen hoch, in denen
sie die eigenen oder verwandte Überzeugungen wiederzufinden glaubten; die


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[0174] Ilistoria militans Sozialismus aus ganz bedeutsame grundsätzliche Errungenschaften erzielt worden sind. So wird wohl die Entwicklung in England, die sichtlich zu einer lang¬ samen und schrittweisen Eingliederung des Sozialismus in den Staatskörper neigt, menschlicher Voraussicht nach sich leichter und geräuschloser vollziehen als anderswo. Ob der kritische Punkt schon überschritten ist, läßt sich noch nicht sagen. Aber zu einer katastrophalen Entwicklung wird es, wenn nicht Aus¬ nahmeumstände eintreten, kaum kommen. Wir in Deutschland können wohl noch nicht mit einiger Sicherheit sagen, daß katastrophale Entwicklungen ausgeschlossen sind, oder daß mindestens Nei¬ gungen in unserem Sozialismus, die Entwicklung katastrophal zu beeinflussen, aussichtslos erscheinen. Jedes Land hat u. a. auch den Sozialismus, den es verdient, wird gelegentlich gesagt. t^toria militans von Dr. Wilhelm Martin Becker M> s sind nun gerade hundert Jahre her, daß Karl v. Rotteck in der Vorrede zu seiner „Allgemeinen Geschichte" die folgenden program¬ matischen Sätze aussprach: „Allerdings ist die Geschichte eine reiche Quelle von Kenntnissen; aber hierdurch wird nur die Hälfte ihres Wertes bestimmt. Sie soll auch aufs Gefühl und auf den Willen wirken, die moralische Kraft erhöhen, Liebe zur Tugend und Haß des Lasters geben und Begeisterung zu großer Tat." Mit dieser Erklärung ist Rotteck an die Spitze derjenigen Historiker getreten, die bewußt Zweck und Ziel der historischen Untersuchung und Darstellung auch auf einem Gebiete suchten, das außerhalb der bloßen Erkenntnis liegt; die also nicht eine rein wissenschaftliche, sondern eine ethisch-pädagogische Tendenz für die Geschichtsschreibung in Anspruch nahmen. Wie sehr eine solche Zielsetzung dem Zeitgeist entgegenkam, sieht man an den fünfundzwanzig Auflagen, die Rottecks Werk in den folgenden Jahr¬ zehnten erlebte, und daran, daß die gleichzeitigen Geschichtschreiber fast alle in ähnlichem Sinne ihre Aufgabe faßten. Es ist nach der Eigenart des geschicht¬ lichen Stoffes klar, daß die angedeutete Tendenz sich vom rein moralischen auf das politische Gebiet erstreckte. Die Geschichtschreiber legten an die Geschehnisse der Vergangenheit die Maßstäbe ihrer moralischen und politischen Überzeugungen an, sie beurteilten die Persönlichkeiten der Vergangenheit durch den Vergleich mit ihrem eigenen politischen Heldenideal. „Sie haßten und verklagten die einen, als wären sie ihre persönlichen Gegner, und priesen diejenigen hoch, in denen sie die eigenen oder verwandte Überzeugungen wiederzufinden glaubten; die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/174>, abgerufen am 29.04.2024.