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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

strömenden Prosa schon herbeiwünschen, --
doch ist eben alles so dem Prinzip reiner
Erzählungskunst unterstellt, daß man, die
Absicht und genaue Komposition der Arbeit
erkennend, sich gerne mit dem -- und so
edel -- Gebotenen bescheidet.

Es stehen in diesem Buche vier Novellen,
die höchsten Kranzes würdig sind? das sind:
Die "Pest im Vintschgau", deren Schluß mit
einer, seit dem "Alexander" nicht wieder¬
gekehrten, ungeheuren Visionskraft entflammt
ward; "Geronimo de Aguilar", von einer
südlichen Farbigkeit und Phantastik, die hin¬
reißt; die kleine Erzählung von "Herrn de
Landa" und seinen zwei Frauen, die lieblichste,
reizvollste von allen; endlich das bedeutendste
Stück: die "Gefangenen auf der Plassenburg".
Anderen stören literaturhistorischc Reminis-
zenzen die volle Wirkung, die sie, ihrer Formung
gemäß, verdient hätten; so der prachtvollen
"Aurora" und dem "Peter Hannibal Meier",
dessen tragikomisches Geschick Gottfried Keller
besser und humorvoller erzählt hat. Die
Geschichte des Grafen Erdmann Promnitz ist
ein zusammengedrängter Roman, der zu
größerer Klarheit weiterer Ausführung bedurft
hätte; der Schluß freilich gehört zum Schönston,
was Wassermann geschaffen hat. Es istunmöglich,
weiter ini Einzelnen zu bleiben, denn was
von dem Ausgeführten gilt, trifft auch für
das bloß skizzierte, Angedeutete, in den
Hauptlinien Festgehaltene zu: die unzähligen
Anekdoten, die sich überstürzen und an denen
nur eben diese Raschheit ihrer Folge getadelt
werden kann. Denn es macht den "Rahmen"
unwirklich, wie sie so unübersehbar, anein¬
ander gereiht, fast zusammenhanglos über
die Lippen des Erzählers kommen. Einmal
ist von englischen Sonderlingen die Rede;
da zählt der Sprechende eine solche Flut von
Beispielen hintereinander auf, daß es dem
Leser endlich so bitter nachwirkt, wie wenn
i" Gesellschaften Witze erzählt werden und
man sich ihrer nicht mehr erwehren kann.
Aber das kann der Bewunderung für solche
Fülle des Stoffes nicht Abbruch tun; seien
es nun erfundene, erlebte, gemerkte, ja selbst
aus Chroniken oder Zeitungen übernommene
Geschichten -- sie setzen ein Bild der Welt
zusammen und besitzen so in ihrer Gesamtheit
größere Bedeutung als der zwar dichtere,

[Spaltenumbruch]

aber beschränktere Weltausschnitt des Romans.
Es ist nicht unmöglich, daß spätere Bücher
Wassermanns hier ansetzen und weiter bauen,
so daß wir ihm noch als Dichter der Anek¬
dote begegnen können.

Der goldene Spiegel, der laut der Be¬
stimmung seiner Spenderin Franziska, einer
schönen, edlen, wenngleich etwas schematisch
gezeichneten Gestalt, dem zufallen sollte, der
das Beste erzählt, wird nicht Eigentum des
Ingenieurs Hadwiger, des Erzählers der
"Aurora". Ein Affe, den der Wirt im Hause
hat und dessen Streiche und Zusammenstöße
mit dem köstlichen Diener Emil das Amü¬
santeste des Buches bilden, hat ihn gestohlen,
ist damit in den Wald geflüchtet und, von
einem Felsen springend, erschlug er sich. Der
goldene Spiegel aber fiel dabei in den See
und blieb verloren. Für diesen tiefen und
dichterisch entzückenden Schluß verlohnte es
sich schon, einen Taucher in den See zu
schicken, daß er das Kleinod heraushole und
wir es dann dem Dichter, Jakob Wassermann,
Dr. Felix Braun überreichen.

Der Junker von Ballantrae. Roman von
R. L. Stevenson. Berlin, Erich Reiß Verlag.

Auf einem der romantischen Schlösser, wie
sie englische Lithographen und Aquarellisten
abzubilden nicht müde werden, ist der Schau¬
platz dieses prächtigen Abenteuerromans. Dort
begibt eS sich, im achtzehnten Jahrhundert,
daß die beiden Söhne des Lords vonDurrisdeer
zu tödlicher Feindschaft erwachsen. Der eine
ist von konservativer, durch und durch uneigen¬
nütziger und rechtlicher Gesinnung erfüllt; eine
gewisse Wirtschaftlichkeit und Nüchternheit wür¬
den ihm etwas Gewöhnliches geben, verliehe
ihm nicht das Leiden um seine Frau, um
seinen Vater, das Leiden, sich vor den betören¬
den Eigenschaften des Bruders überall zurück¬
gesetzt, ja mißachtet zu sehen, einen schweig¬
samen Adel. Sein Sekretär, der in seinen
Diensten altert, weiß es. Ihn, die einzige
Stütze des jungen Lords unter allen Bewohnern
von Durrisdeer, läßt der Dichter die ganze
Geschichte des unheilbaren Bruderzwists auf¬
zeichnen, und Mr. Mackellar erzählt sie uns
in trockenem, fast pedantischen Ton, doch mit
dem äußersten Streben nach Wahrheit und
Gerechtigkeit, und nicht ohne Treuherzigkeit.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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strömenden Prosa schon herbeiwünschen, —
doch ist eben alles so dem Prinzip reiner
Erzählungskunst unterstellt, daß man, die
Absicht und genaue Komposition der Arbeit
erkennend, sich gerne mit dem — und so
edel — Gebotenen bescheidet.

Es stehen in diesem Buche vier Novellen,
die höchsten Kranzes würdig sind? das sind:
Die „Pest im Vintschgau", deren Schluß mit
einer, seit dem „Alexander" nicht wieder¬
gekehrten, ungeheuren Visionskraft entflammt
ward; „Geronimo de Aguilar", von einer
südlichen Farbigkeit und Phantastik, die hin¬
reißt; die kleine Erzählung von „Herrn de
Landa" und seinen zwei Frauen, die lieblichste,
reizvollste von allen; endlich das bedeutendste
Stück: die „Gefangenen auf der Plassenburg".
Anderen stören literaturhistorischc Reminis-
zenzen die volle Wirkung, die sie, ihrer Formung
gemäß, verdient hätten; so der prachtvollen
„Aurora" und dem „Peter Hannibal Meier",
dessen tragikomisches Geschick Gottfried Keller
besser und humorvoller erzählt hat. Die
Geschichte des Grafen Erdmann Promnitz ist
ein zusammengedrängter Roman, der zu
größerer Klarheit weiterer Ausführung bedurft
hätte; der Schluß freilich gehört zum Schönston,
was Wassermann geschaffen hat. Es istunmöglich,
weiter ini Einzelnen zu bleiben, denn was
von dem Ausgeführten gilt, trifft auch für
das bloß skizzierte, Angedeutete, in den
Hauptlinien Festgehaltene zu: die unzähligen
Anekdoten, die sich überstürzen und an denen
nur eben diese Raschheit ihrer Folge getadelt
werden kann. Denn es macht den „Rahmen"
unwirklich, wie sie so unübersehbar, anein¬
ander gereiht, fast zusammenhanglos über
die Lippen des Erzählers kommen. Einmal
ist von englischen Sonderlingen die Rede;
da zählt der Sprechende eine solche Flut von
Beispielen hintereinander auf, daß es dem
Leser endlich so bitter nachwirkt, wie wenn
i» Gesellschaften Witze erzählt werden und
man sich ihrer nicht mehr erwehren kann.
Aber das kann der Bewunderung für solche
Fülle des Stoffes nicht Abbruch tun; seien
es nun erfundene, erlebte, gemerkte, ja selbst
aus Chroniken oder Zeitungen übernommene
Geschichten — sie setzen ein Bild der Welt
zusammen und besitzen so in ihrer Gesamtheit
größere Bedeutung als der zwar dichtere,

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aber beschränktere Weltausschnitt des Romans.
Es ist nicht unmöglich, daß spätere Bücher
Wassermanns hier ansetzen und weiter bauen,
so daß wir ihm noch als Dichter der Anek¬
dote begegnen können.

Der goldene Spiegel, der laut der Be¬
stimmung seiner Spenderin Franziska, einer
schönen, edlen, wenngleich etwas schematisch
gezeichneten Gestalt, dem zufallen sollte, der
das Beste erzählt, wird nicht Eigentum des
Ingenieurs Hadwiger, des Erzählers der
„Aurora". Ein Affe, den der Wirt im Hause
hat und dessen Streiche und Zusammenstöße
mit dem köstlichen Diener Emil das Amü¬
santeste des Buches bilden, hat ihn gestohlen,
ist damit in den Wald geflüchtet und, von
einem Felsen springend, erschlug er sich. Der
goldene Spiegel aber fiel dabei in den See
und blieb verloren. Für diesen tiefen und
dichterisch entzückenden Schluß verlohnte es
sich schon, einen Taucher in den See zu
schicken, daß er das Kleinod heraushole und
wir es dann dem Dichter, Jakob Wassermann,
Dr. Felix Braun überreichen.

Der Junker von Ballantrae. Roman von
R. L. Stevenson. Berlin, Erich Reiß Verlag.

Auf einem der romantischen Schlösser, wie
sie englische Lithographen und Aquarellisten
abzubilden nicht müde werden, ist der Schau¬
platz dieses prächtigen Abenteuerromans. Dort
begibt eS sich, im achtzehnten Jahrhundert,
daß die beiden Söhne des Lords vonDurrisdeer
zu tödlicher Feindschaft erwachsen. Der eine
ist von konservativer, durch und durch uneigen¬
nütziger und rechtlicher Gesinnung erfüllt; eine
gewisse Wirtschaftlichkeit und Nüchternheit wür¬
den ihm etwas Gewöhnliches geben, verliehe
ihm nicht das Leiden um seine Frau, um
seinen Vater, das Leiden, sich vor den betören¬
den Eigenschaften des Bruders überall zurück¬
gesetzt, ja mißachtet zu sehen, einen schweig¬
samen Adel. Sein Sekretär, der in seinen
Diensten altert, weiß es. Ihn, die einzige
Stütze des jungen Lords unter allen Bewohnern
von Durrisdeer, läßt der Dichter die ganze
Geschichte des unheilbaren Bruderzwists auf¬
zeichnen, und Mr. Mackellar erzählt sie uns
in trockenem, fast pedantischen Ton, doch mit
dem äußersten Streben nach Wahrheit und
Gerechtigkeit, und nicht ohne Treuherzigkeit.

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[0301] Maßgebliches und Unmaßgebliches strömenden Prosa schon herbeiwünschen, — doch ist eben alles so dem Prinzip reiner Erzählungskunst unterstellt, daß man, die Absicht und genaue Komposition der Arbeit erkennend, sich gerne mit dem — und so edel — Gebotenen bescheidet. Es stehen in diesem Buche vier Novellen, die höchsten Kranzes würdig sind? das sind: Die „Pest im Vintschgau", deren Schluß mit einer, seit dem „Alexander" nicht wieder¬ gekehrten, ungeheuren Visionskraft entflammt ward; „Geronimo de Aguilar", von einer südlichen Farbigkeit und Phantastik, die hin¬ reißt; die kleine Erzählung von „Herrn de Landa" und seinen zwei Frauen, die lieblichste, reizvollste von allen; endlich das bedeutendste Stück: die „Gefangenen auf der Plassenburg". Anderen stören literaturhistorischc Reminis- zenzen die volle Wirkung, die sie, ihrer Formung gemäß, verdient hätten; so der prachtvollen „Aurora" und dem „Peter Hannibal Meier", dessen tragikomisches Geschick Gottfried Keller besser und humorvoller erzählt hat. Die Geschichte des Grafen Erdmann Promnitz ist ein zusammengedrängter Roman, der zu größerer Klarheit weiterer Ausführung bedurft hätte; der Schluß freilich gehört zum Schönston, was Wassermann geschaffen hat. Es istunmöglich, weiter ini Einzelnen zu bleiben, denn was von dem Ausgeführten gilt, trifft auch für das bloß skizzierte, Angedeutete, in den Hauptlinien Festgehaltene zu: die unzähligen Anekdoten, die sich überstürzen und an denen nur eben diese Raschheit ihrer Folge getadelt werden kann. Denn es macht den „Rahmen" unwirklich, wie sie so unübersehbar, anein¬ ander gereiht, fast zusammenhanglos über die Lippen des Erzählers kommen. Einmal ist von englischen Sonderlingen die Rede; da zählt der Sprechende eine solche Flut von Beispielen hintereinander auf, daß es dem Leser endlich so bitter nachwirkt, wie wenn i» Gesellschaften Witze erzählt werden und man sich ihrer nicht mehr erwehren kann. Aber das kann der Bewunderung für solche Fülle des Stoffes nicht Abbruch tun; seien es nun erfundene, erlebte, gemerkte, ja selbst aus Chroniken oder Zeitungen übernommene Geschichten — sie setzen ein Bild der Welt zusammen und besitzen so in ihrer Gesamtheit größere Bedeutung als der zwar dichtere, aber beschränktere Weltausschnitt des Romans. Es ist nicht unmöglich, daß spätere Bücher Wassermanns hier ansetzen und weiter bauen, so daß wir ihm noch als Dichter der Anek¬ dote begegnen können. Der goldene Spiegel, der laut der Be¬ stimmung seiner Spenderin Franziska, einer schönen, edlen, wenngleich etwas schematisch gezeichneten Gestalt, dem zufallen sollte, der das Beste erzählt, wird nicht Eigentum des Ingenieurs Hadwiger, des Erzählers der „Aurora". Ein Affe, den der Wirt im Hause hat und dessen Streiche und Zusammenstöße mit dem köstlichen Diener Emil das Amü¬ santeste des Buches bilden, hat ihn gestohlen, ist damit in den Wald geflüchtet und, von einem Felsen springend, erschlug er sich. Der goldene Spiegel aber fiel dabei in den See und blieb verloren. Für diesen tiefen und dichterisch entzückenden Schluß verlohnte es sich schon, einen Taucher in den See zu schicken, daß er das Kleinod heraushole und wir es dann dem Dichter, Jakob Wassermann, Dr. Felix Braun überreichen. Der Junker von Ballantrae. Roman von R. L. Stevenson. Berlin, Erich Reiß Verlag. Auf einem der romantischen Schlösser, wie sie englische Lithographen und Aquarellisten abzubilden nicht müde werden, ist der Schau¬ platz dieses prächtigen Abenteuerromans. Dort begibt eS sich, im achtzehnten Jahrhundert, daß die beiden Söhne des Lords vonDurrisdeer zu tödlicher Feindschaft erwachsen. Der eine ist von konservativer, durch und durch uneigen¬ nütziger und rechtlicher Gesinnung erfüllt; eine gewisse Wirtschaftlichkeit und Nüchternheit wür¬ den ihm etwas Gewöhnliches geben, verliehe ihm nicht das Leiden um seine Frau, um seinen Vater, das Leiden, sich vor den betören¬ den Eigenschaften des Bruders überall zurück¬ gesetzt, ja mißachtet zu sehen, einen schweig¬ samen Adel. Sein Sekretär, der in seinen Diensten altert, weiß es. Ihn, die einzige Stütze des jungen Lords unter allen Bewohnern von Durrisdeer, läßt der Dichter die ganze Geschichte des unheilbaren Bruderzwists auf¬ zeichnen, und Mr. Mackellar erzählt sie uns in trockenem, fast pedantischen Ton, doch mit dem äußersten Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit, und nicht ohne Treuherzigkeit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/301>, abgerufen am 29.04.2024.