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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Allgemeine Mehrpflicht und Präsenzstärke

der einigermaßen als Ersatz für den idealen Wert der Leistung der Dienst¬
tuenden angesehen werden kann.

Nimmt man nun aber an, daß ein junger Handwerker oder Arbeiter von
zwanzig bis dreiundzwanzig Jahren an einem Arbeitstage 4 Mark, also in
dreihundert Arbeitstagen oder einem Jahre 1200 Mark, zu verdienen, in der
Lage ist, und rechnet man weiter, daß ein solcher Arbeiter für Wohnung, Ver¬
pflegung und Kleidung, die er ja beim Militär geliefert bekommt, rund 900 Mark
jährlich auszugeben hat, so würde also ein solcher Arbeiter, wenn er nicht dienen
müßte, jährlich 300 Mark auf die Seite bringen können, also in zwei Jahren
600, in drei Jahren 900 Mark und mit seinen Reserve- und Landwehrübungen
etwa 1000 Mark.

Hierzu ist nun noch die Prämie für die ideellen Opfer zu schlagen, welche
der Diensttuer dadurch bringt, daß er im Kriegsfalle und manchmal auch im
Frieden Gesundheit und Leben in die Schanze schlagen muß und daß bei der
ungenügenden Löhnung des Soldaten dieser in der Regel ganz erhebliche Geld¬
opfer aus eigenen Mitteln oder aus denen seiner Eltern aufzuwenden hat.

Wie hoch die militärische Dienstzeit des Soldaten materiell zu berechnen
ist, geht am deutlichsten aus den Loskaufsummen hervor, welche in früheren
Zeiten von den vom Heerdienst Befreiten aufzuwenden waren. So betrug z. B.
schon zur Zeit Napoleons des Dritten in Frankreich die Loskaufsumme für drei¬
jährige Dienstzeit 2400 Franken oder 1920 Mark, ein Betrag, der auf Grund
der heutigen Lebensmittelpreise und Lohnsätze auf mindestens 4000 Mark
angesetzt werden müßte.

Angesichts dieses erheblichen materiellen und ideellen Wertes der aktiven
Militärdienstzeit ist es begreiflich, daß mit der steigenden Zahl von Wehr¬
pflichtigen, die nicht zum persönlichen Dienst.herangezogen wird, die Un¬
zufriedenheit im Volke über die ungleiche Belastung durch die Wehrpflicht
wächst und die Forderung einer materiellen Gegenleistung des Staats an die
zum Dienst Herangezogenen einerseits und einer wirtschaftlichen Gegenleistung
der vom Heerdienst Befreiten anderseits immer lauter erschallt.


III.
7- Das Vorrecht der gedienten Wehrpflichtigen auf die öffentlichen
Ämter als materielle Gegenleistung des Staats

Der materielle Ausgleich der ungleichmäßigen Belastung der Wehrpflichtigen
durch die Dienstpflicht ist auf zweierlei Weise möglich: entweder legt man allen
nicht oder nicht voll zum Dienst Herangezogenen materielle Lasten auf, oder
man genährt den zum Dienst Herangezogenen besondere Vorrechte, namentlich
in bezug auf die Übertragung von Ämtern im Staatsdienste, oder man ver¬
bindet beide Wege.

Längst wird es in weiten Kreisen als schweres Unrecht empfunden, daß
der militärfrei gewordene Kandidat für ein Staatsamt vor dem Dienstpflichtigen


Grenzboten I 1912 ^
Allgemeine Mehrpflicht und Präsenzstärke

der einigermaßen als Ersatz für den idealen Wert der Leistung der Dienst¬
tuenden angesehen werden kann.

Nimmt man nun aber an, daß ein junger Handwerker oder Arbeiter von
zwanzig bis dreiundzwanzig Jahren an einem Arbeitstage 4 Mark, also in
dreihundert Arbeitstagen oder einem Jahre 1200 Mark, zu verdienen, in der
Lage ist, und rechnet man weiter, daß ein solcher Arbeiter für Wohnung, Ver¬
pflegung und Kleidung, die er ja beim Militär geliefert bekommt, rund 900 Mark
jährlich auszugeben hat, so würde also ein solcher Arbeiter, wenn er nicht dienen
müßte, jährlich 300 Mark auf die Seite bringen können, also in zwei Jahren
600, in drei Jahren 900 Mark und mit seinen Reserve- und Landwehrübungen
etwa 1000 Mark.

Hierzu ist nun noch die Prämie für die ideellen Opfer zu schlagen, welche
der Diensttuer dadurch bringt, daß er im Kriegsfalle und manchmal auch im
Frieden Gesundheit und Leben in die Schanze schlagen muß und daß bei der
ungenügenden Löhnung des Soldaten dieser in der Regel ganz erhebliche Geld¬
opfer aus eigenen Mitteln oder aus denen seiner Eltern aufzuwenden hat.

Wie hoch die militärische Dienstzeit des Soldaten materiell zu berechnen
ist, geht am deutlichsten aus den Loskaufsummen hervor, welche in früheren
Zeiten von den vom Heerdienst Befreiten aufzuwenden waren. So betrug z. B.
schon zur Zeit Napoleons des Dritten in Frankreich die Loskaufsumme für drei¬
jährige Dienstzeit 2400 Franken oder 1920 Mark, ein Betrag, der auf Grund
der heutigen Lebensmittelpreise und Lohnsätze auf mindestens 4000 Mark
angesetzt werden müßte.

Angesichts dieses erheblichen materiellen und ideellen Wertes der aktiven
Militärdienstzeit ist es begreiflich, daß mit der steigenden Zahl von Wehr¬
pflichtigen, die nicht zum persönlichen Dienst.herangezogen wird, die Un¬
zufriedenheit im Volke über die ungleiche Belastung durch die Wehrpflicht
wächst und die Forderung einer materiellen Gegenleistung des Staats an die
zum Dienst Herangezogenen einerseits und einer wirtschaftlichen Gegenleistung
der vom Heerdienst Befreiten anderseits immer lauter erschallt.


III.
7- Das Vorrecht der gedienten Wehrpflichtigen auf die öffentlichen
Ämter als materielle Gegenleistung des Staats

Der materielle Ausgleich der ungleichmäßigen Belastung der Wehrpflichtigen
durch die Dienstpflicht ist auf zweierlei Weise möglich: entweder legt man allen
nicht oder nicht voll zum Dienst Herangezogenen materielle Lasten auf, oder
man genährt den zum Dienst Herangezogenen besondere Vorrechte, namentlich
in bezug auf die Übertragung von Ämtern im Staatsdienste, oder man ver¬
bindet beide Wege.

Längst wird es in weiten Kreisen als schweres Unrecht empfunden, daß
der militärfrei gewordene Kandidat für ein Staatsamt vor dem Dienstpflichtigen


Grenzboten I 1912 ^
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[0373] Allgemeine Mehrpflicht und Präsenzstärke der einigermaßen als Ersatz für den idealen Wert der Leistung der Dienst¬ tuenden angesehen werden kann. Nimmt man nun aber an, daß ein junger Handwerker oder Arbeiter von zwanzig bis dreiundzwanzig Jahren an einem Arbeitstage 4 Mark, also in dreihundert Arbeitstagen oder einem Jahre 1200 Mark, zu verdienen, in der Lage ist, und rechnet man weiter, daß ein solcher Arbeiter für Wohnung, Ver¬ pflegung und Kleidung, die er ja beim Militär geliefert bekommt, rund 900 Mark jährlich auszugeben hat, so würde also ein solcher Arbeiter, wenn er nicht dienen müßte, jährlich 300 Mark auf die Seite bringen können, also in zwei Jahren 600, in drei Jahren 900 Mark und mit seinen Reserve- und Landwehrübungen etwa 1000 Mark. Hierzu ist nun noch die Prämie für die ideellen Opfer zu schlagen, welche der Diensttuer dadurch bringt, daß er im Kriegsfalle und manchmal auch im Frieden Gesundheit und Leben in die Schanze schlagen muß und daß bei der ungenügenden Löhnung des Soldaten dieser in der Regel ganz erhebliche Geld¬ opfer aus eigenen Mitteln oder aus denen seiner Eltern aufzuwenden hat. Wie hoch die militärische Dienstzeit des Soldaten materiell zu berechnen ist, geht am deutlichsten aus den Loskaufsummen hervor, welche in früheren Zeiten von den vom Heerdienst Befreiten aufzuwenden waren. So betrug z. B. schon zur Zeit Napoleons des Dritten in Frankreich die Loskaufsumme für drei¬ jährige Dienstzeit 2400 Franken oder 1920 Mark, ein Betrag, der auf Grund der heutigen Lebensmittelpreise und Lohnsätze auf mindestens 4000 Mark angesetzt werden müßte. Angesichts dieses erheblichen materiellen und ideellen Wertes der aktiven Militärdienstzeit ist es begreiflich, daß mit der steigenden Zahl von Wehr¬ pflichtigen, die nicht zum persönlichen Dienst.herangezogen wird, die Un¬ zufriedenheit im Volke über die ungleiche Belastung durch die Wehrpflicht wächst und die Forderung einer materiellen Gegenleistung des Staats an die zum Dienst Herangezogenen einerseits und einer wirtschaftlichen Gegenleistung der vom Heerdienst Befreiten anderseits immer lauter erschallt. III. 7- Das Vorrecht der gedienten Wehrpflichtigen auf die öffentlichen Ämter als materielle Gegenleistung des Staats Der materielle Ausgleich der ungleichmäßigen Belastung der Wehrpflichtigen durch die Dienstpflicht ist auf zweierlei Weise möglich: entweder legt man allen nicht oder nicht voll zum Dienst Herangezogenen materielle Lasten auf, oder man genährt den zum Dienst Herangezogenen besondere Vorrechte, namentlich in bezug auf die Übertragung von Ämtern im Staatsdienste, oder man ver¬ bindet beide Wege. Längst wird es in weiten Kreisen als schweres Unrecht empfunden, daß der militärfrei gewordene Kandidat für ein Staatsamt vor dem Dienstpflichtigen Grenzboten I 1912 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/373>, abgerufen am 29.04.2024.