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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Idealismus und Realismus
von Prof. Dr. Ernst Dür

er im Alltagsleben Idealist genannt wird, der kann nicht immer
ganz sicher wissen, ob er das sür ein Lob oder für einen Tadel
nehmen soll. Die Menschen verstehen ja unter den: Wort Idealist
und Idealismus durchaus nicht alle dasselbe, und auch diejenigen,
die es in der gleichen Bedeutung verwenden, nehmen zu dem
damit Bezeichneten oft in geradezu entgegengesetzter Weise Stellung.

Der Idealismus ist für viele eine durch Ideale bestimmte Lebensrichtung.
Wer unzufrieden ist mit den Mängeln der Wirklichkeit und die Welt verbessern
möchte, wer nicht in hatten Behagen schwelgt darüber, wie er es schon so
herrlich weit gebracht, wer vielmehr rastlos strebend sich bemüht, der heißt den
allermeisten ein Idealist.

Aber auch der kampflos abseits vom Leben Stehende, der Träumer und
Sterngucker, der sich aus der rauhen Wirklichkeit in die friedlichen Gefilde der
Ideenwelt flüchtet, wird nicht selten Idealist genannt. Idealismus heißt der
arglose Kinderglaube, den mancher Greis mit jugendlichem Gemüt zeitlebens
nicht verliert, der Glaube, daß das Leben nicht ein Kampf mit widerstrebenden
Gewalten, sondern eine freundliche Fügung sei, daß denen, die nicht nach dem
Irdischen trachten, alles zum Glück Erforderliche von selbst zufallen werde.

Wer unter dem Idealismus eine durch Ideale bestimmte Lebensrichtung
versteht, der wird darin etwas Löbliches oder etwas Tadelnswertes finden, je
nach seiner eigenen Welt- und Lebensanschauung. Der Philister, dem alles
Bestehende durch Gewohnheit und Herkommen geheiligt ist, kennt nichts Ver-
abscheuungswürdigeres als das Streben nach Weltverbesserung. Wer überzeugt
ist, daß alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig sei, daß Gott
die Welt vollkommen geschaffen habe und daß an göttlichen Institutionen nicht
gerüttelt werden dürfe, der ist ein abgesagter Feind des himmelstürmenden
Idealismus. Wer dagegen von Entwicklungsgedanken ergriffen ist und in der
Geschichte nicht den Ausfluß einer bestehenden, sondern den Quellstrom einer
werdenden Vernunft zu erkennen glaubt, der wird es mit den Faustnaturen
halten, die voll Verachtung gegen das satte Philistertum des Lebens höchste
Werte in der Zukunft suchen.




Idealismus und Realismus
von Prof. Dr. Ernst Dür

er im Alltagsleben Idealist genannt wird, der kann nicht immer
ganz sicher wissen, ob er das sür ein Lob oder für einen Tadel
nehmen soll. Die Menschen verstehen ja unter den: Wort Idealist
und Idealismus durchaus nicht alle dasselbe, und auch diejenigen,
die es in der gleichen Bedeutung verwenden, nehmen zu dem
damit Bezeichneten oft in geradezu entgegengesetzter Weise Stellung.

Der Idealismus ist für viele eine durch Ideale bestimmte Lebensrichtung.
Wer unzufrieden ist mit den Mängeln der Wirklichkeit und die Welt verbessern
möchte, wer nicht in hatten Behagen schwelgt darüber, wie er es schon so
herrlich weit gebracht, wer vielmehr rastlos strebend sich bemüht, der heißt den
allermeisten ein Idealist.

Aber auch der kampflos abseits vom Leben Stehende, der Träumer und
Sterngucker, der sich aus der rauhen Wirklichkeit in die friedlichen Gefilde der
Ideenwelt flüchtet, wird nicht selten Idealist genannt. Idealismus heißt der
arglose Kinderglaube, den mancher Greis mit jugendlichem Gemüt zeitlebens
nicht verliert, der Glaube, daß das Leben nicht ein Kampf mit widerstrebenden
Gewalten, sondern eine freundliche Fügung sei, daß denen, die nicht nach dem
Irdischen trachten, alles zum Glück Erforderliche von selbst zufallen werde.

Wer unter dem Idealismus eine durch Ideale bestimmte Lebensrichtung
versteht, der wird darin etwas Löbliches oder etwas Tadelnswertes finden, je
nach seiner eigenen Welt- und Lebensanschauung. Der Philister, dem alles
Bestehende durch Gewohnheit und Herkommen geheiligt ist, kennt nichts Ver-
abscheuungswürdigeres als das Streben nach Weltverbesserung. Wer überzeugt
ist, daß alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig sei, daß Gott
die Welt vollkommen geschaffen habe und daß an göttlichen Institutionen nicht
gerüttelt werden dürfe, der ist ein abgesagter Feind des himmelstürmenden
Idealismus. Wer dagegen von Entwicklungsgedanken ergriffen ist und in der
Geschichte nicht den Ausfluß einer bestehenden, sondern den Quellstrom einer
werdenden Vernunft zu erkennen glaubt, der wird es mit den Faustnaturen
halten, die voll Verachtung gegen das satte Philistertum des Lebens höchste
Werte in der Zukunft suchen.


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[0419] [Abbildung] Idealismus und Realismus von Prof. Dr. Ernst Dür er im Alltagsleben Idealist genannt wird, der kann nicht immer ganz sicher wissen, ob er das sür ein Lob oder für einen Tadel nehmen soll. Die Menschen verstehen ja unter den: Wort Idealist und Idealismus durchaus nicht alle dasselbe, und auch diejenigen, die es in der gleichen Bedeutung verwenden, nehmen zu dem damit Bezeichneten oft in geradezu entgegengesetzter Weise Stellung. Der Idealismus ist für viele eine durch Ideale bestimmte Lebensrichtung. Wer unzufrieden ist mit den Mängeln der Wirklichkeit und die Welt verbessern möchte, wer nicht in hatten Behagen schwelgt darüber, wie er es schon so herrlich weit gebracht, wer vielmehr rastlos strebend sich bemüht, der heißt den allermeisten ein Idealist. Aber auch der kampflos abseits vom Leben Stehende, der Träumer und Sterngucker, der sich aus der rauhen Wirklichkeit in die friedlichen Gefilde der Ideenwelt flüchtet, wird nicht selten Idealist genannt. Idealismus heißt der arglose Kinderglaube, den mancher Greis mit jugendlichem Gemüt zeitlebens nicht verliert, der Glaube, daß das Leben nicht ein Kampf mit widerstrebenden Gewalten, sondern eine freundliche Fügung sei, daß denen, die nicht nach dem Irdischen trachten, alles zum Glück Erforderliche von selbst zufallen werde. Wer unter dem Idealismus eine durch Ideale bestimmte Lebensrichtung versteht, der wird darin etwas Löbliches oder etwas Tadelnswertes finden, je nach seiner eigenen Welt- und Lebensanschauung. Der Philister, dem alles Bestehende durch Gewohnheit und Herkommen geheiligt ist, kennt nichts Ver- abscheuungswürdigeres als das Streben nach Weltverbesserung. Wer überzeugt ist, daß alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig sei, daß Gott die Welt vollkommen geschaffen habe und daß an göttlichen Institutionen nicht gerüttelt werden dürfe, der ist ein abgesagter Feind des himmelstürmenden Idealismus. Wer dagegen von Entwicklungsgedanken ergriffen ist und in der Geschichte nicht den Ausfluß einer bestehenden, sondern den Quellstrom einer werdenden Vernunft zu erkennen glaubt, der wird es mit den Faustnaturen halten, die voll Verachtung gegen das satte Philistertum des Lebens höchste Werte in der Zukunft suchen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/419>, abgerufen am 29.04.2024.