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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung

Der Realist unterscheidet ebenso wie zwischen Abstraktem und Konkretem,
zwischen Nichtwirklichem (Bloßgedachtem oder Bloßvorgestelltem) und Wirklichem,
auch zwischen den flüchtigen Geschehnissen, den Prozessen körperlicher und
seelischer Art, und den dauerhafteren Bedingungen dieser Geschehnisse, den
Substanzen, aus deren Wechselwirkung die Bewegungs- und Bewußtseinsvorgänge
sich ergeben.

Diese realistische Ausfassung als Grundgedanke der allgemeinen Welt¬
betrachtung beeinflußt natürlich auch die Lebensanschauung. Wir wissen nicht,
woher wir kommen und wohin wir gehen. Aber wir wissen, daß die Welt
nicht eine Ausgeburt unserer Phantasie oder ein flüchtiges Spiel unserer
Gedanken ist, sondern daß sie lange ohne uns bestanden hat und ohne uns
weiterbestehen wird. Statt daher die unsinnige Forderung aufzustellen, daß der
Weltlauf sich nach uns richte, oder statt des kindischen Bestrebens, die Welt nach
unserer Laune zurecht zu denken, müssen wir uns bemühen, unsere Stellung im
Weltlauf zu begreifen und dieser Erkenntnis entsprechend zu handeln. Wir sind
ja ein Teil von jener Kraft, die langsam aber unaufhörlich an der Vervoll¬
kommnung der Wirklichkeit arbeitet. Wirft man daher in dem Streit zwischen
praktischem Idealismus und Realismus die prinzipielle Frage auf, was wert¬
voller sei, das Ideal oder die Wirklichkeit, so werden wir antworten: das
Ideal, sofern darunter die bessere zukünftige Wirklichkeit verstanden wird, das
Kinderland, an dessen wunschgemäßer Gestaltung wir unter kluger Berück¬
sichtigung der unverrückbar feststehenden Gesetze des Weltgeschehens arbeiten
dürfen und arbeiten sollen. Ein Idealismus dieser Art, der es sich zur Aufgabe
macht, das klar erfaßte, verwirklichungsfähige Ideal in die Wirklichkeit hinein¬
zubilden, ist edelster Realismus. Den Idealismus dagegen, der die Forderung
aufstellt: Fliehet aus dem engen dumpfen Leben in des Ideales Reich I wollen
wir den Müden und Kranken überlassen, und nur in flüchtigen Stimmungen der
Weltverdrofsenheit mag es geschehen, daß auch der Gesunde und Starke einmal
an solch resignierter Weisheit Gefallen findet.




Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung

! le Reichsgesetzgebung auf dem Gebiete der Arbeiterverstcherung ist
mit der Reichsverstcherungsordnung und dem Versicherungsgesetz
für Angestellte zu einem gewissen Abschlüsse gelangt. Sieht man
> von dem reichsgesetzlich vielleicht überhaupt unlösbaren, jedenfalls
gegenwärtig nicht spruchreifen Problem der Arbeitslosenversicherung
ab, so werden wohl hinsichtlich des Kreises der dem Versicherungszwang zu


Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung

Der Realist unterscheidet ebenso wie zwischen Abstraktem und Konkretem,
zwischen Nichtwirklichem (Bloßgedachtem oder Bloßvorgestelltem) und Wirklichem,
auch zwischen den flüchtigen Geschehnissen, den Prozessen körperlicher und
seelischer Art, und den dauerhafteren Bedingungen dieser Geschehnisse, den
Substanzen, aus deren Wechselwirkung die Bewegungs- und Bewußtseinsvorgänge
sich ergeben.

Diese realistische Ausfassung als Grundgedanke der allgemeinen Welt¬
betrachtung beeinflußt natürlich auch die Lebensanschauung. Wir wissen nicht,
woher wir kommen und wohin wir gehen. Aber wir wissen, daß die Welt
nicht eine Ausgeburt unserer Phantasie oder ein flüchtiges Spiel unserer
Gedanken ist, sondern daß sie lange ohne uns bestanden hat und ohne uns
weiterbestehen wird. Statt daher die unsinnige Forderung aufzustellen, daß der
Weltlauf sich nach uns richte, oder statt des kindischen Bestrebens, die Welt nach
unserer Laune zurecht zu denken, müssen wir uns bemühen, unsere Stellung im
Weltlauf zu begreifen und dieser Erkenntnis entsprechend zu handeln. Wir sind
ja ein Teil von jener Kraft, die langsam aber unaufhörlich an der Vervoll¬
kommnung der Wirklichkeit arbeitet. Wirft man daher in dem Streit zwischen
praktischem Idealismus und Realismus die prinzipielle Frage auf, was wert¬
voller sei, das Ideal oder die Wirklichkeit, so werden wir antworten: das
Ideal, sofern darunter die bessere zukünftige Wirklichkeit verstanden wird, das
Kinderland, an dessen wunschgemäßer Gestaltung wir unter kluger Berück¬
sichtigung der unverrückbar feststehenden Gesetze des Weltgeschehens arbeiten
dürfen und arbeiten sollen. Ein Idealismus dieser Art, der es sich zur Aufgabe
macht, das klar erfaßte, verwirklichungsfähige Ideal in die Wirklichkeit hinein¬
zubilden, ist edelster Realismus. Den Idealismus dagegen, der die Forderung
aufstellt: Fliehet aus dem engen dumpfen Leben in des Ideales Reich I wollen
wir den Müden und Kranken überlassen, und nur in flüchtigen Stimmungen der
Weltverdrofsenheit mag es geschehen, daß auch der Gesunde und Starke einmal
an solch resignierter Weisheit Gefallen findet.




Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung

! le Reichsgesetzgebung auf dem Gebiete der Arbeiterverstcherung ist
mit der Reichsverstcherungsordnung und dem Versicherungsgesetz
für Angestellte zu einem gewissen Abschlüsse gelangt. Sieht man
> von dem reichsgesetzlich vielleicht überhaupt unlösbaren, jedenfalls
gegenwärtig nicht spruchreifen Problem der Arbeitslosenversicherung
ab, so werden wohl hinsichtlich des Kreises der dem Versicherungszwang zu


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[0427] Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung Der Realist unterscheidet ebenso wie zwischen Abstraktem und Konkretem, zwischen Nichtwirklichem (Bloßgedachtem oder Bloßvorgestelltem) und Wirklichem, auch zwischen den flüchtigen Geschehnissen, den Prozessen körperlicher und seelischer Art, und den dauerhafteren Bedingungen dieser Geschehnisse, den Substanzen, aus deren Wechselwirkung die Bewegungs- und Bewußtseinsvorgänge sich ergeben. Diese realistische Ausfassung als Grundgedanke der allgemeinen Welt¬ betrachtung beeinflußt natürlich auch die Lebensanschauung. Wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir gehen. Aber wir wissen, daß die Welt nicht eine Ausgeburt unserer Phantasie oder ein flüchtiges Spiel unserer Gedanken ist, sondern daß sie lange ohne uns bestanden hat und ohne uns weiterbestehen wird. Statt daher die unsinnige Forderung aufzustellen, daß der Weltlauf sich nach uns richte, oder statt des kindischen Bestrebens, die Welt nach unserer Laune zurecht zu denken, müssen wir uns bemühen, unsere Stellung im Weltlauf zu begreifen und dieser Erkenntnis entsprechend zu handeln. Wir sind ja ein Teil von jener Kraft, die langsam aber unaufhörlich an der Vervoll¬ kommnung der Wirklichkeit arbeitet. Wirft man daher in dem Streit zwischen praktischem Idealismus und Realismus die prinzipielle Frage auf, was wert¬ voller sei, das Ideal oder die Wirklichkeit, so werden wir antworten: das Ideal, sofern darunter die bessere zukünftige Wirklichkeit verstanden wird, das Kinderland, an dessen wunschgemäßer Gestaltung wir unter kluger Berück¬ sichtigung der unverrückbar feststehenden Gesetze des Weltgeschehens arbeiten dürfen und arbeiten sollen. Ein Idealismus dieser Art, der es sich zur Aufgabe macht, das klar erfaßte, verwirklichungsfähige Ideal in die Wirklichkeit hinein¬ zubilden, ist edelster Realismus. Den Idealismus dagegen, der die Forderung aufstellt: Fliehet aus dem engen dumpfen Leben in des Ideales Reich I wollen wir den Müden und Kranken überlassen, und nur in flüchtigen Stimmungen der Weltverdrofsenheit mag es geschehen, daß auch der Gesunde und Starke einmal an solch resignierter Weisheit Gefallen findet. Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung ! le Reichsgesetzgebung auf dem Gebiete der Arbeiterverstcherung ist mit der Reichsverstcherungsordnung und dem Versicherungsgesetz für Angestellte zu einem gewissen Abschlüsse gelangt. Sieht man > von dem reichsgesetzlich vielleicht überhaupt unlösbaren, jedenfalls gegenwärtig nicht spruchreifen Problem der Arbeitslosenversicherung ab, so werden wohl hinsichtlich des Kreises der dem Versicherungszwang zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/427>, abgerufen am 29.04.2024.