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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die expenmeiitelle Ästhetik

äußersten Rechten bis zur Linken vertreten. Natürlich werden die muselmanischen
Sonderwünsche scharf betont; besonders wird für die Lösung der Schulfrage in
panislamitischem Sinne stark gearbeitet. Eine neue Erscheinung ist der Druck
von Zeitungen und Büchern in tatarischer Sprache mit russischen Lettern, ein
Mittel, die Angehörigen der russischen Fremdvölker, die die tatarische Sprache
verstehen, aber sie nicht schreiben und lesen können, wohl aber die russische
Schrift beherrschen, in tatarisch - muselmauischem Sinne, im Sinne des Pan-
islamismus und Pcmtürkismus zu bearbeiten. Das Mittel ist besonders für
die Rückführung der Nachkömmlinge der zwangsweise getauften Tataren zu dem
Glauben ihrer Ahnen bestimmt.

Die gesamte Literatur und Presse in tatarischer, türkischer und arabischer
Sprache in Rußland wird durch namhafte Spenden aus dem Inland und
Ausland unterstützt. An Büchern, Broschüren und Flugblättern in diesen Haupt¬
sprachen sind im Jahre 1910 immerhin etwa zweihundert in einer Gesamt¬
auflage von über 2300000 erschienen. Schließlich werden auch bildliche
Darstellungen für die Propaganda benutzt. Die Verherrlichung des islamitischen
Knies, der Schönheiten Stambuls, der Pracht seiner Moscheen, der Macht des
Sultans dienen als Gegenstand. Die Bilder des Padischah, des Thronfolgers
und der Staatsmänner und Offiziere des jungtürkischen Reiches bis zu Envcr
Bey sind weit verbreitet, obwohl es bis vor kurzem als anstößig galt, sich
abbilden zu lassen.

Alles in allem kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, daß die geistige
Arbeit unter der mohammedanischen Bevölkerung Rußlands die Verwirklichung
der muselmanischen Ideale auf offenen und versteckten Wegen im Auge hat, und
daß die Presse ohne Scheu zur Mittätigkeit auffordert.




Die experimentelle Ästhetik
von Prof. Dr. Oswald Külpe

s ist wohl kein Zufall, daß Gustav Theodor Fechner (1801 bis 1887),
I einer der reichsten und produktivsten Geister des neunzehnten Jahr-
! Hunderts, nicht nur der Begründer einer experimentellen Psychologie,
i sondern zugleich auch der Vater der experimentellen Ästhetik geworden
ist. Seiner ganzen Anlage nach hatte er enge natürliche Beziehungen
zur Ästhetik. Ein ursprüngliches Formgefühl, das in seinen Schriften einen
erfreulichen Ausdruck gefunden hat, eine lebendige Phantasie, die ihn auch in
der Philosophie zu den höchsten Höhen trug, eine geschulte ästhetische Urteils¬
kraft, die er namentlich der bildenden Kunst gegenüber bewährte, und dazu die


Die expenmeiitelle Ästhetik

äußersten Rechten bis zur Linken vertreten. Natürlich werden die muselmanischen
Sonderwünsche scharf betont; besonders wird für die Lösung der Schulfrage in
panislamitischem Sinne stark gearbeitet. Eine neue Erscheinung ist der Druck
von Zeitungen und Büchern in tatarischer Sprache mit russischen Lettern, ein
Mittel, die Angehörigen der russischen Fremdvölker, die die tatarische Sprache
verstehen, aber sie nicht schreiben und lesen können, wohl aber die russische
Schrift beherrschen, in tatarisch - muselmauischem Sinne, im Sinne des Pan-
islamismus und Pcmtürkismus zu bearbeiten. Das Mittel ist besonders für
die Rückführung der Nachkömmlinge der zwangsweise getauften Tataren zu dem
Glauben ihrer Ahnen bestimmt.

Die gesamte Literatur und Presse in tatarischer, türkischer und arabischer
Sprache in Rußland wird durch namhafte Spenden aus dem Inland und
Ausland unterstützt. An Büchern, Broschüren und Flugblättern in diesen Haupt¬
sprachen sind im Jahre 1910 immerhin etwa zweihundert in einer Gesamt¬
auflage von über 2300000 erschienen. Schließlich werden auch bildliche
Darstellungen für die Propaganda benutzt. Die Verherrlichung des islamitischen
Knies, der Schönheiten Stambuls, der Pracht seiner Moscheen, der Macht des
Sultans dienen als Gegenstand. Die Bilder des Padischah, des Thronfolgers
und der Staatsmänner und Offiziere des jungtürkischen Reiches bis zu Envcr
Bey sind weit verbreitet, obwohl es bis vor kurzem als anstößig galt, sich
abbilden zu lassen.

Alles in allem kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, daß die geistige
Arbeit unter der mohammedanischen Bevölkerung Rußlands die Verwirklichung
der muselmanischen Ideale auf offenen und versteckten Wegen im Auge hat, und
daß die Presse ohne Scheu zur Mittätigkeit auffordert.




Die experimentelle Ästhetik
von Prof. Dr. Oswald Külpe

s ist wohl kein Zufall, daß Gustav Theodor Fechner (1801 bis 1887),
I einer der reichsten und produktivsten Geister des neunzehnten Jahr-
! Hunderts, nicht nur der Begründer einer experimentellen Psychologie,
i sondern zugleich auch der Vater der experimentellen Ästhetik geworden
ist. Seiner ganzen Anlage nach hatte er enge natürliche Beziehungen
zur Ästhetik. Ein ursprüngliches Formgefühl, das in seinen Schriften einen
erfreulichen Ausdruck gefunden hat, eine lebendige Phantasie, die ihn auch in
der Philosophie zu den höchsten Höhen trug, eine geschulte ästhetische Urteils¬
kraft, die er namentlich der bildenden Kunst gegenüber bewährte, und dazu die


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[0468] Die expenmeiitelle Ästhetik äußersten Rechten bis zur Linken vertreten. Natürlich werden die muselmanischen Sonderwünsche scharf betont; besonders wird für die Lösung der Schulfrage in panislamitischem Sinne stark gearbeitet. Eine neue Erscheinung ist der Druck von Zeitungen und Büchern in tatarischer Sprache mit russischen Lettern, ein Mittel, die Angehörigen der russischen Fremdvölker, die die tatarische Sprache verstehen, aber sie nicht schreiben und lesen können, wohl aber die russische Schrift beherrschen, in tatarisch - muselmauischem Sinne, im Sinne des Pan- islamismus und Pcmtürkismus zu bearbeiten. Das Mittel ist besonders für die Rückführung der Nachkömmlinge der zwangsweise getauften Tataren zu dem Glauben ihrer Ahnen bestimmt. Die gesamte Literatur und Presse in tatarischer, türkischer und arabischer Sprache in Rußland wird durch namhafte Spenden aus dem Inland und Ausland unterstützt. An Büchern, Broschüren und Flugblättern in diesen Haupt¬ sprachen sind im Jahre 1910 immerhin etwa zweihundert in einer Gesamt¬ auflage von über 2300000 erschienen. Schließlich werden auch bildliche Darstellungen für die Propaganda benutzt. Die Verherrlichung des islamitischen Knies, der Schönheiten Stambuls, der Pracht seiner Moscheen, der Macht des Sultans dienen als Gegenstand. Die Bilder des Padischah, des Thronfolgers und der Staatsmänner und Offiziere des jungtürkischen Reiches bis zu Envcr Bey sind weit verbreitet, obwohl es bis vor kurzem als anstößig galt, sich abbilden zu lassen. Alles in allem kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, daß die geistige Arbeit unter der mohammedanischen Bevölkerung Rußlands die Verwirklichung der muselmanischen Ideale auf offenen und versteckten Wegen im Auge hat, und daß die Presse ohne Scheu zur Mittätigkeit auffordert. Die experimentelle Ästhetik von Prof. Dr. Oswald Külpe s ist wohl kein Zufall, daß Gustav Theodor Fechner (1801 bis 1887), I einer der reichsten und produktivsten Geister des neunzehnten Jahr- ! Hunderts, nicht nur der Begründer einer experimentellen Psychologie, i sondern zugleich auch der Vater der experimentellen Ästhetik geworden ist. Seiner ganzen Anlage nach hatte er enge natürliche Beziehungen zur Ästhetik. Ein ursprüngliches Formgefühl, das in seinen Schriften einen erfreulichen Ausdruck gefunden hat, eine lebendige Phantasie, die ihn auch in der Philosophie zu den höchsten Höhen trug, eine geschulte ästhetische Urteils¬ kraft, die er namentlich der bildenden Kunst gegenüber bewährte, und dazu die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/468>, abgerufen am 29.04.2024.