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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

tief gründlichen Gelehrsamkeit und dem edlen
Charakter des Mannes gerecht werden.

Zum Schluß ein Wort über das Kirchen¬
lied. Wohl nur ein fanatischer Gegner der
Religion wird leugnen, daß unseren schonen
evangelischen Kirchenliedern ein hoher er¬
zieherischer Wert innewohnt. AVer bor einem
"Zuviel" muß gewarnt werden. Wenn ein
Schüler einer höheren Lehranstalt zwölf, allen¬
falls fünfzehn Lieder lernt, so ist dies durch¬
aus genug. Anderseits versäume der Lehrer
nicht, auf die kulturgeschichtliche Bedeutung
auf das Leben des Dichters -- möglichst ohne
Zahlen -- aufmerksam zu machen. Der
ästhetische Wert der Lieder wird, nach meiner
Erfahrung, sehr selten gewürdigt. Wie vor¬
teilhaft unterscheidet sich z. B. das kraftvoll-
schöne Lied "Mir nach, spricht Christus, unser
Held, mir nach, ihr Christen alle" von den
süßlichen, geschraubten Erzeugnissen der
zweiten schlesischen Dichterschule.

Hat nicht Friedrich der Große, trotz seines
geringen Verständnisses für die deutsche
Literatur, recht gehabt, wenn er zu Gnrve
sagte: "Gellert ist der einzige deutsche Dichter,
der zur Nachwelt gelangen wird." Wer liest
noch die Lieder eines Gleim, aber "Wie groß
ist des Allmacht'gen Güte" und "Wenn ich,
o Schöpfer, deine Macht" sind Wohl noch
Gemeingut des Volkes.

"Lasset die Toten ihre Toten begraben",
sagt Christus, das heißt doch so viel, versenkt
euch nicht zu einseitig in die Vergangenheit,
vergeßt nicht infolge der Rückerinnerungen die
Forderungen der Gegenwart. Auch im neun¬
zehnten Jahrhundert haben Dichter gelebt,
die formvollendete, religiös tief empfundene
Gedichte geschrieben haben. Ich erinnere an
Spitta, denKommilitone" Heines in Goldingen,
an Sturm, den Verfasser von "Palme und
Krone", an Gerok. Man sollte diese Dichter
im Religionsunterricht mehr heranziehen, aus
ihren Werken vorlesen, z. B. bei der Durch¬
nahme des Alten Testamentes in Untertertia:
"Mose im Nil und Jephthas Tochter im
Gebirge".

Mit einem Worte: Weniger Gedächtnis¬
kram, mehr Berührung mit dem modernen
Leben, weniger Dogmengeschichte, mehr Dinge,
die das Herz erfreuen, den Sinn erheben.

Prof. Dr. R. Pappritz- [Spaltenumbruch]
Psychologie

Die Seele des Rokoko. Handzeichnungen
von Watteau habe ich vor mir liegen,
Gewandstudien oder Studien von Haltung
und Gebärde: immer wieder diese gleichen
leisen, graziösen Gesten oder ein lässiges Da¬
stehen von unsäglicher Vornehmheit. Aber es
liegt eine verhaltene Schivermut über diesen
weichen, diskreten Bewegungen.

Und ich sehe seine Bilder vor mir: die
rauschenden Feste und die scherzenden Gesell¬
schaften unter den dämmernden Wipfeln der
Parks von Versailles und Se. Cloud. Aber
die Bäume und Gebüsche sind träumerisch¬
imaginär und hingehaucht wie körperlose
Schatten; die tändelnden Damen und Herren
scheinen allzu grazil. Und uun steht schon
die fragwürdige Gestalt des unvergeßlichen
Piorrot groß und schweigend vor dem lichten
Abendhimmel. Eine leise Tragik beginnt sich
zu rühren unter dem bunten Prunk schäfer¬
licher Verkleidung.

Woher diese Tragik? Wann sind dem
Leben solche Feste gefeiert worden wie im
Rokoko? War die Seele dieser Zeit nicht
Freude, sorglose Sinnenfreude?

Die Seele des Rokoko! Ich möchte auf
sie anwenden, was d'Aunuuzio einmal von
der Seele Venedigs gesagt hat: auf der Ober¬
fläche jeder tiefen Seele schwebe ein Seelchen,
das nichts von der Tiefe Weiß, aus der es
aufsteigt. So funkelt die fiebernde Lebens¬
freude in den lautlos trauernden Wassergassen
dieser verfallenden Stadt, und in schwer¬
mütigen schwarzen Gondeln genießen die
Liebenden unter Blumen den Rausch ihrer
Liebe. Und die annuo Venedigs begreift,
wer einmal das sterbende Lächeln der Duse sah.

Vielleicht war es umgekehrt im Rokoko.
Seine Seele war die Lust zu genießen, und
seine Tragik war nur latent, nur eine snimuls,
die sich in wenigen zum Bewußtsein empor¬
hob; und erst die Nnchgeborenen fühlen sie
ganz, die Tragik wie die große Herrlichkeit
des Rokoko.

Wie fremd geworden sind uns Menschen
einer ernsteren Zeit die Bücher, die das Rokoko
liebte. Die Seelenlosigkeit dieser nicht endenden
Lievesspiele befremdet uns. Wie verständnis¬
los stehen wir heute einer Natur wie Casanova

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Grenzboten I 19126
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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tief gründlichen Gelehrsamkeit und dem edlen
Charakter des Mannes gerecht werden.

Zum Schluß ein Wort über das Kirchen¬
lied. Wohl nur ein fanatischer Gegner der
Religion wird leugnen, daß unseren schonen
evangelischen Kirchenliedern ein hoher er¬
zieherischer Wert innewohnt. AVer bor einem
„Zuviel" muß gewarnt werden. Wenn ein
Schüler einer höheren Lehranstalt zwölf, allen¬
falls fünfzehn Lieder lernt, so ist dies durch¬
aus genug. Anderseits versäume der Lehrer
nicht, auf die kulturgeschichtliche Bedeutung
auf das Leben des Dichters — möglichst ohne
Zahlen — aufmerksam zu machen. Der
ästhetische Wert der Lieder wird, nach meiner
Erfahrung, sehr selten gewürdigt. Wie vor¬
teilhaft unterscheidet sich z. B. das kraftvoll-
schöne Lied „Mir nach, spricht Christus, unser
Held, mir nach, ihr Christen alle" von den
süßlichen, geschraubten Erzeugnissen der
zweiten schlesischen Dichterschule.

Hat nicht Friedrich der Große, trotz seines
geringen Verständnisses für die deutsche
Literatur, recht gehabt, wenn er zu Gnrve
sagte: „Gellert ist der einzige deutsche Dichter,
der zur Nachwelt gelangen wird." Wer liest
noch die Lieder eines Gleim, aber „Wie groß
ist des Allmacht'gen Güte" und „Wenn ich,
o Schöpfer, deine Macht" sind Wohl noch
Gemeingut des Volkes.

„Lasset die Toten ihre Toten begraben",
sagt Christus, das heißt doch so viel, versenkt
euch nicht zu einseitig in die Vergangenheit,
vergeßt nicht infolge der Rückerinnerungen die
Forderungen der Gegenwart. Auch im neun¬
zehnten Jahrhundert haben Dichter gelebt,
die formvollendete, religiös tief empfundene
Gedichte geschrieben haben. Ich erinnere an
Spitta, denKommilitone» Heines in Goldingen,
an Sturm, den Verfasser von „Palme und
Krone", an Gerok. Man sollte diese Dichter
im Religionsunterricht mehr heranziehen, aus
ihren Werken vorlesen, z. B. bei der Durch¬
nahme des Alten Testamentes in Untertertia:
„Mose im Nil und Jephthas Tochter im
Gebirge".

Mit einem Worte: Weniger Gedächtnis¬
kram, mehr Berührung mit dem modernen
Leben, weniger Dogmengeschichte, mehr Dinge,
die das Herz erfreuen, den Sinn erheben.

Prof. Dr. R. Pappritz- [Spaltenumbruch]
Psychologie

Die Seele des Rokoko. Handzeichnungen
von Watteau habe ich vor mir liegen,
Gewandstudien oder Studien von Haltung
und Gebärde: immer wieder diese gleichen
leisen, graziösen Gesten oder ein lässiges Da¬
stehen von unsäglicher Vornehmheit. Aber es
liegt eine verhaltene Schivermut über diesen
weichen, diskreten Bewegungen.

Und ich sehe seine Bilder vor mir: die
rauschenden Feste und die scherzenden Gesell¬
schaften unter den dämmernden Wipfeln der
Parks von Versailles und Se. Cloud. Aber
die Bäume und Gebüsche sind träumerisch¬
imaginär und hingehaucht wie körperlose
Schatten; die tändelnden Damen und Herren
scheinen allzu grazil. Und uun steht schon
die fragwürdige Gestalt des unvergeßlichen
Piorrot groß und schweigend vor dem lichten
Abendhimmel. Eine leise Tragik beginnt sich
zu rühren unter dem bunten Prunk schäfer¬
licher Verkleidung.

Woher diese Tragik? Wann sind dem
Leben solche Feste gefeiert worden wie im
Rokoko? War die Seele dieser Zeit nicht
Freude, sorglose Sinnenfreude?

Die Seele des Rokoko! Ich möchte auf
sie anwenden, was d'Aunuuzio einmal von
der Seele Venedigs gesagt hat: auf der Ober¬
fläche jeder tiefen Seele schwebe ein Seelchen,
das nichts von der Tiefe Weiß, aus der es
aufsteigt. So funkelt die fiebernde Lebens¬
freude in den lautlos trauernden Wassergassen
dieser verfallenden Stadt, und in schwer¬
mütigen schwarzen Gondeln genießen die
Liebenden unter Blumen den Rausch ihrer
Liebe. Und die annuo Venedigs begreift,
wer einmal das sterbende Lächeln der Duse sah.

Vielleicht war es umgekehrt im Rokoko.
Seine Seele war die Lust zu genießen, und
seine Tragik war nur latent, nur eine snimuls,
die sich in wenigen zum Bewußtsein empor¬
hob; und erst die Nnchgeborenen fühlen sie
ganz, die Tragik wie die große Herrlichkeit
des Rokoko.

Wie fremd geworden sind uns Menschen
einer ernsteren Zeit die Bücher, die das Rokoko
liebte. Die Seelenlosigkeit dieser nicht endenden
Lievesspiele befremdet uns. Wie verständnis¬
los stehen wir heute einer Natur wie Casanova

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Grenzboten I 19126
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[0053] Maßgebliches und Unmaßgebliches tief gründlichen Gelehrsamkeit und dem edlen Charakter des Mannes gerecht werden. Zum Schluß ein Wort über das Kirchen¬ lied. Wohl nur ein fanatischer Gegner der Religion wird leugnen, daß unseren schonen evangelischen Kirchenliedern ein hoher er¬ zieherischer Wert innewohnt. AVer bor einem „Zuviel" muß gewarnt werden. Wenn ein Schüler einer höheren Lehranstalt zwölf, allen¬ falls fünfzehn Lieder lernt, so ist dies durch¬ aus genug. Anderseits versäume der Lehrer nicht, auf die kulturgeschichtliche Bedeutung auf das Leben des Dichters — möglichst ohne Zahlen — aufmerksam zu machen. Der ästhetische Wert der Lieder wird, nach meiner Erfahrung, sehr selten gewürdigt. Wie vor¬ teilhaft unterscheidet sich z. B. das kraftvoll- schöne Lied „Mir nach, spricht Christus, unser Held, mir nach, ihr Christen alle" von den süßlichen, geschraubten Erzeugnissen der zweiten schlesischen Dichterschule. Hat nicht Friedrich der Große, trotz seines geringen Verständnisses für die deutsche Literatur, recht gehabt, wenn er zu Gnrve sagte: „Gellert ist der einzige deutsche Dichter, der zur Nachwelt gelangen wird." Wer liest noch die Lieder eines Gleim, aber „Wie groß ist des Allmacht'gen Güte" und „Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht" sind Wohl noch Gemeingut des Volkes. „Lasset die Toten ihre Toten begraben", sagt Christus, das heißt doch so viel, versenkt euch nicht zu einseitig in die Vergangenheit, vergeßt nicht infolge der Rückerinnerungen die Forderungen der Gegenwart. Auch im neun¬ zehnten Jahrhundert haben Dichter gelebt, die formvollendete, religiös tief empfundene Gedichte geschrieben haben. Ich erinnere an Spitta, denKommilitone» Heines in Goldingen, an Sturm, den Verfasser von „Palme und Krone", an Gerok. Man sollte diese Dichter im Religionsunterricht mehr heranziehen, aus ihren Werken vorlesen, z. B. bei der Durch¬ nahme des Alten Testamentes in Untertertia: „Mose im Nil und Jephthas Tochter im Gebirge". Mit einem Worte: Weniger Gedächtnis¬ kram, mehr Berührung mit dem modernen Leben, weniger Dogmengeschichte, mehr Dinge, die das Herz erfreuen, den Sinn erheben. Prof. Dr. R. Pappritz- Psychologie Die Seele des Rokoko. Handzeichnungen von Watteau habe ich vor mir liegen, Gewandstudien oder Studien von Haltung und Gebärde: immer wieder diese gleichen leisen, graziösen Gesten oder ein lässiges Da¬ stehen von unsäglicher Vornehmheit. Aber es liegt eine verhaltene Schivermut über diesen weichen, diskreten Bewegungen. Und ich sehe seine Bilder vor mir: die rauschenden Feste und die scherzenden Gesell¬ schaften unter den dämmernden Wipfeln der Parks von Versailles und Se. Cloud. Aber die Bäume und Gebüsche sind träumerisch¬ imaginär und hingehaucht wie körperlose Schatten; die tändelnden Damen und Herren scheinen allzu grazil. Und uun steht schon die fragwürdige Gestalt des unvergeßlichen Piorrot groß und schweigend vor dem lichten Abendhimmel. Eine leise Tragik beginnt sich zu rühren unter dem bunten Prunk schäfer¬ licher Verkleidung. Woher diese Tragik? Wann sind dem Leben solche Feste gefeiert worden wie im Rokoko? War die Seele dieser Zeit nicht Freude, sorglose Sinnenfreude? Die Seele des Rokoko! Ich möchte auf sie anwenden, was d'Aunuuzio einmal von der Seele Venedigs gesagt hat: auf der Ober¬ fläche jeder tiefen Seele schwebe ein Seelchen, das nichts von der Tiefe Weiß, aus der es aufsteigt. So funkelt die fiebernde Lebens¬ freude in den lautlos trauernden Wassergassen dieser verfallenden Stadt, und in schwer¬ mütigen schwarzen Gondeln genießen die Liebenden unter Blumen den Rausch ihrer Liebe. Und die annuo Venedigs begreift, wer einmal das sterbende Lächeln der Duse sah. Vielleicht war es umgekehrt im Rokoko. Seine Seele war die Lust zu genießen, und seine Tragik war nur latent, nur eine snimuls, die sich in wenigen zum Bewußtsein empor¬ hob; und erst die Nnchgeborenen fühlen sie ganz, die Tragik wie die große Herrlichkeit des Rokoko. Wie fremd geworden sind uns Menschen einer ernsteren Zeit die Bücher, die das Rokoko liebte. Die Seelenlosigkeit dieser nicht endenden Lievesspiele befremdet uns. Wie verständnis¬ los stehen wir heute einer Natur wie Casanova Grenzboten I 19126

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/53>, abgerufen am 29.04.2024.