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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Aus Hebbels Studienzeit

"Was hab ich getan, was hab ich getan!"

Die Frau kniet nieder, hebt den Kopf in die Höhe und sieht dem toten
Kinde ins Gesicht. Von der Nase aus gehen zwei dünne, schon vertrocknete
Blutrinnen über die halbe Wange. Sonst nichts Erschreckendes.

Sie stülpt den Korb um, mit dein Franz gestern den Mist in den Garten
getragen hat, und setzt sich darauf. Das dürre Weidengeflecht knarrt unter der Last.

Weinend hebt sie das Kind auf den Schoß.

Lange und wie irre läßt sie den Blick durch den Schleier ihrer Tränen
über den Toten gehen.

So sitzt sie vor der grellfarbig gestrichenen Stalltür.

Eine Pieta? Ein mütterliches Weib, aufgelöst in Schmerz über den
Martertod ihres unschuldigen Sohnes?

Oder eine Mörderin, die in zu spätem Reueschmerz ihr gefoltertes
Opfer beweint?

In wenigen Minuten wird der andere und anders und schwerer Schuldige
bei ihr stehen.

Die Posaunen des Gerichtes werden in seine Ohren gellen und ihre
schaurigen Klänge wie donnerndes Wogen durch seine kleine Seele gehen.

Der mütterliche, vor Schmerz zuckende Mund preßt sich auf die Lippen
des Kindes.

"Mein lieber, lieber armer Bub!"

Franz wäre so glücklich, wenn er das hören würde!

Aber er hört nichts mehr.




Aus Hebbels Studienzeit
ttugedruckte Lriefe, herausgegeben von Dr. Paul Börnstein-Vachau

on 1829, seinem sechzehnten Lebensjahr ab, veröffentlicht der
Wesselburener Schreiber Friedrich Hebbel Gedichte, Erzählungen,
dramatische Skizzen, Aphorismen, Anekdoten, Jugendprodukte von
zumeist höchst zweifelhaftem, künstlerischem Wert, im "Ditmarser
und Eiderstedter Boten", einer kleinen, im Verlage von Bade und
Fischer in Friedrichstadt a. d. Eider erscheinenden Wochenschrift; von 1832 an
treten neben den allmählich in den Hintergrund gedrängten "Boten" als eine
freilich höchst bescheidene Erweiterung des Kreises die Hamburger Zeitschriften
der Amalie Schoppe, die "Neuen Pariser Modeblätter" und die für Kinder
bestimmte, übrigens erst vor kurzem neu aufgefundene "Iduna". Im Februar
1835 siedelt dann Hebbel, nachdem ihm die Bemühungen der Schoppe solches
ermöglicht, nach Hamburg über. Hier gelingt dem inzwischen lyrisch zu voller


Aus Hebbels Studienzeit

„Was hab ich getan, was hab ich getan!"

Die Frau kniet nieder, hebt den Kopf in die Höhe und sieht dem toten
Kinde ins Gesicht. Von der Nase aus gehen zwei dünne, schon vertrocknete
Blutrinnen über die halbe Wange. Sonst nichts Erschreckendes.

Sie stülpt den Korb um, mit dein Franz gestern den Mist in den Garten
getragen hat, und setzt sich darauf. Das dürre Weidengeflecht knarrt unter der Last.

Weinend hebt sie das Kind auf den Schoß.

Lange und wie irre läßt sie den Blick durch den Schleier ihrer Tränen
über den Toten gehen.

So sitzt sie vor der grellfarbig gestrichenen Stalltür.

Eine Pieta? Ein mütterliches Weib, aufgelöst in Schmerz über den
Martertod ihres unschuldigen Sohnes?

Oder eine Mörderin, die in zu spätem Reueschmerz ihr gefoltertes
Opfer beweint?

In wenigen Minuten wird der andere und anders und schwerer Schuldige
bei ihr stehen.

Die Posaunen des Gerichtes werden in seine Ohren gellen und ihre
schaurigen Klänge wie donnerndes Wogen durch seine kleine Seele gehen.

Der mütterliche, vor Schmerz zuckende Mund preßt sich auf die Lippen
des Kindes.

„Mein lieber, lieber armer Bub!"

Franz wäre so glücklich, wenn er das hören würde!

Aber er hört nichts mehr.




Aus Hebbels Studienzeit
ttugedruckte Lriefe, herausgegeben von Dr. Paul Börnstein-Vachau

on 1829, seinem sechzehnten Lebensjahr ab, veröffentlicht der
Wesselburener Schreiber Friedrich Hebbel Gedichte, Erzählungen,
dramatische Skizzen, Aphorismen, Anekdoten, Jugendprodukte von
zumeist höchst zweifelhaftem, künstlerischem Wert, im „Ditmarser
und Eiderstedter Boten", einer kleinen, im Verlage von Bade und
Fischer in Friedrichstadt a. d. Eider erscheinenden Wochenschrift; von 1832 an
treten neben den allmählich in den Hintergrund gedrängten „Boten" als eine
freilich höchst bescheidene Erweiterung des Kreises die Hamburger Zeitschriften
der Amalie Schoppe, die „Neuen Pariser Modeblätter" und die für Kinder
bestimmte, übrigens erst vor kurzem neu aufgefundene „Iduna". Im Februar
1835 siedelt dann Hebbel, nachdem ihm die Bemühungen der Schoppe solches
ermöglicht, nach Hamburg über. Hier gelingt dem inzwischen lyrisch zu voller


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[0631] Aus Hebbels Studienzeit „Was hab ich getan, was hab ich getan!" Die Frau kniet nieder, hebt den Kopf in die Höhe und sieht dem toten Kinde ins Gesicht. Von der Nase aus gehen zwei dünne, schon vertrocknete Blutrinnen über die halbe Wange. Sonst nichts Erschreckendes. Sie stülpt den Korb um, mit dein Franz gestern den Mist in den Garten getragen hat, und setzt sich darauf. Das dürre Weidengeflecht knarrt unter der Last. Weinend hebt sie das Kind auf den Schoß. Lange und wie irre läßt sie den Blick durch den Schleier ihrer Tränen über den Toten gehen. So sitzt sie vor der grellfarbig gestrichenen Stalltür. Eine Pieta? Ein mütterliches Weib, aufgelöst in Schmerz über den Martertod ihres unschuldigen Sohnes? Oder eine Mörderin, die in zu spätem Reueschmerz ihr gefoltertes Opfer beweint? In wenigen Minuten wird der andere und anders und schwerer Schuldige bei ihr stehen. Die Posaunen des Gerichtes werden in seine Ohren gellen und ihre schaurigen Klänge wie donnerndes Wogen durch seine kleine Seele gehen. Der mütterliche, vor Schmerz zuckende Mund preßt sich auf die Lippen des Kindes. „Mein lieber, lieber armer Bub!" Franz wäre so glücklich, wenn er das hören würde! Aber er hört nichts mehr. Aus Hebbels Studienzeit ttugedruckte Lriefe, herausgegeben von Dr. Paul Börnstein-Vachau on 1829, seinem sechzehnten Lebensjahr ab, veröffentlicht der Wesselburener Schreiber Friedrich Hebbel Gedichte, Erzählungen, dramatische Skizzen, Aphorismen, Anekdoten, Jugendprodukte von zumeist höchst zweifelhaftem, künstlerischem Wert, im „Ditmarser und Eiderstedter Boten", einer kleinen, im Verlage von Bade und Fischer in Friedrichstadt a. d. Eider erscheinenden Wochenschrift; von 1832 an treten neben den allmählich in den Hintergrund gedrängten „Boten" als eine freilich höchst bescheidene Erweiterung des Kreises die Hamburger Zeitschriften der Amalie Schoppe, die „Neuen Pariser Modeblätter" und die für Kinder bestimmte, übrigens erst vor kurzem neu aufgefundene „Iduna". Im Februar 1835 siedelt dann Hebbel, nachdem ihm die Bemühungen der Schoppe solches ermöglicht, nach Hamburg über. Hier gelingt dem inzwischen lyrisch zu voller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/631>, abgerufen am 29.04.2024.