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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Tagesfragen
Schnlersclbstmord und seine Untersuchung.

In der Pädagogischen Gesellschaft in Freiburg
hat der Psychiater der dortigen Hochschule,
Geheimer Hofrat Prof. or, Hoche, die Gründe
und die Schuldfrage der scheinbar beständig
anwachsenden Schülerselbstmorde eingehend
behandelt und ist zu dem Ergebnis gekommen,
daß von den drei Schuldigen, die in Frage
stehen, die Schule am wenigsten belastet ist,
mehr schon das Elternhaus, am meisten --
teils moralisch, teils Physisch -- der Täter
selbst. Obwohl dies Zeugnis bon einem ab¬
solut unbeteiligten Akademiker stammt, wird
doch systematisch der Schule und den einzelnen
Lehrern bedingungslos die Schuld in die
Schuhe geschoben, ja es wird der Schule
geradezu das Recht abgestritten, in dieser
Sache mitzureden, sie wolle sich doch nur
weiß waschen!

Natürlich will die Schule sich recht¬
fertigen bon so ungeheuren Anklagen I Wer
würde das nicht versuchen? Es fragt sich nur,
ob sie es kann und ob ihr überhaupt die
Mittel zu Gebote stehen, einen Schülerselbst¬
mord bis in die letzten Gründe aufzudecken.

Es ist unbestreitbar wahr, daß im sehnl-
icher vieles nicht stimmt und daß an der
großen Erregung der öffentlichen Meinung
gegen das ganze höhere Schulwesen die
Lehrerschaft mitschuldig ist, daß jedenfalls an
System manches zu bessern wäre.

Wird ein solcher Fall nachgewiesen, wo
das Verhalten eines Lehrers oder einer ganzen
Anstalt den Entschluß eines Knaben, aus dem
Leben zu scheiden, erklärt, dann muß mit
der größten Schürfe gegen die Persönlichkeit
bzw. gegen das ganze System vorgegangen
werden. Läßt sich die Schuld der Schule
aber nicht nachweisen, so darf man es nicht
ruhig mit ansehen, daß das Schulwesen noch
mehr im öffentlichen Ansehen herabgesetzt
wird; dann darf nicht jeder Journalist oder Re¬
porter die ganze höhere Lehrerschaft zu fahr¬
lässigen Mördern und herzlosen Paukern
stempeln. Bor allem müßte die Presse etwas
vorsichtiger sein in der Anwendung deS Aus¬
drucks : Schülerselbstmord.

Jeder Selbstmord einer schulpflichtigen
Person wird als Schülerselbstmord bezeichnet,

[Spaltenumbruch]

zunächst nur wegen des bequemen Schlag¬
worts. Dies Schlagwort ist aber eine An¬
klage gegen die Schule; daher darf es vor
der Aufklärung des Sachverhalts nicht an¬
gewendet werden. Man nennt doch auch nicht
jeden Selbstmord eines Handwerkers "Waren¬
hausselbstmord", weil einige Handwerker im
Kampf mit dem Warenhaus zum Strange
gegriffen haben. Die Warenhäuser würden
diese Bezeichnung ganz gewiß gerichtlich ver¬
folgen. Warum tut die Schule nichts der¬
gleichen? Die Presse hat ferner die soziale
Pflicht, Schülerselbstmorde nicht sensationell
auszubeuten, weil ein Schein von Märtyrer¬
inn! jedem Jungen vorschwebt und viele
Psychisch deprimierte Knaben durch diesen
Schein den Selbstmord erst in den Bereich
der Möglichkeiten ziehen. Zur Volkserziehung
trägt es nicht bei, wenn von der Verschuldung
des Täters nicht die Rede ist.

Ich glaube, Hoches Behauptung, daß der
Täter in den meisten Fällen der Haupt¬
schuldige ist, muß wenigstens insofern un¬
bedingt gelten, als bei einem Knaben -- wir
sehen ganz von der moralischen Bewertung
ab -- ein triftiger Grund zum Selbstmord
nicht vorliegen kann. Auszuscheiden sind
Fälle, bei denen die psychische Veranlagung
des Täters genügende Erklärung bietet. Ist
der Täter der Hauptschuldige, so muß weiter
gefragt werden: ist Schule oder Elternhaus
mitschuldig, oder sind sie es beide? Obwohl
die Entscheidung dieser Fragen überhaupt
schlechthin das Wichtigste ist bei jeder Unter¬
suchung über Jugendselbstmorde, wird sie nie
mit der gehörigen Energie betrieben. Wohl
wird gefragt, wie das Verhältnis des Täters
zur Schule gewesen ist, gelegentlich auch
Wohl erörtert, ob die Schuld nicht vielleicht
im Elternhause zu suchen sei; es ist aber mit
aller Schärfe die Frage zu stellen und zur
Entscheidung zu bringen: wer ist schuldiger,
Schule oder Elternhaus?

Wie notwendig dies ist, möchte ich um dem
Kieler Jugendselbstmord klar machen, der
noch in frischer Erinnerung ist und doch schon
so weit geklärt, daß man den Zusammenhang
deutlich ahnen kann.

Tatbestand: Ein Schüler wird nach der
Zwölf Uhr-Pause in der Klasse vermißt, der
Lehrer läßt ihn suchen und findet den Jungen

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Tagesfragen
Schnlersclbstmord und seine Untersuchung.

In der Pädagogischen Gesellschaft in Freiburg
hat der Psychiater der dortigen Hochschule,
Geheimer Hofrat Prof. or, Hoche, die Gründe
und die Schuldfrage der scheinbar beständig
anwachsenden Schülerselbstmorde eingehend
behandelt und ist zu dem Ergebnis gekommen,
daß von den drei Schuldigen, die in Frage
stehen, die Schule am wenigsten belastet ist,
mehr schon das Elternhaus, am meisten —
teils moralisch, teils Physisch — der Täter
selbst. Obwohl dies Zeugnis bon einem ab¬
solut unbeteiligten Akademiker stammt, wird
doch systematisch der Schule und den einzelnen
Lehrern bedingungslos die Schuld in die
Schuhe geschoben, ja es wird der Schule
geradezu das Recht abgestritten, in dieser
Sache mitzureden, sie wolle sich doch nur
weiß waschen!

Natürlich will die Schule sich recht¬
fertigen bon so ungeheuren Anklagen I Wer
würde das nicht versuchen? Es fragt sich nur,
ob sie es kann und ob ihr überhaupt die
Mittel zu Gebote stehen, einen Schülerselbst¬
mord bis in die letzten Gründe aufzudecken.

Es ist unbestreitbar wahr, daß im sehnl-
icher vieles nicht stimmt und daß an der
großen Erregung der öffentlichen Meinung
gegen das ganze höhere Schulwesen die
Lehrerschaft mitschuldig ist, daß jedenfalls an
System manches zu bessern wäre.

Wird ein solcher Fall nachgewiesen, wo
das Verhalten eines Lehrers oder einer ganzen
Anstalt den Entschluß eines Knaben, aus dem
Leben zu scheiden, erklärt, dann muß mit
der größten Schürfe gegen die Persönlichkeit
bzw. gegen das ganze System vorgegangen
werden. Läßt sich die Schuld der Schule
aber nicht nachweisen, so darf man es nicht
ruhig mit ansehen, daß das Schulwesen noch
mehr im öffentlichen Ansehen herabgesetzt
wird; dann darf nicht jeder Journalist oder Re¬
porter die ganze höhere Lehrerschaft zu fahr¬
lässigen Mördern und herzlosen Paukern
stempeln. Bor allem müßte die Presse etwas
vorsichtiger sein in der Anwendung deS Aus¬
drucks : Schülerselbstmord.

Jeder Selbstmord einer schulpflichtigen
Person wird als Schülerselbstmord bezeichnet,

[Spaltenumbruch]

zunächst nur wegen des bequemen Schlag¬
worts. Dies Schlagwort ist aber eine An¬
klage gegen die Schule; daher darf es vor
der Aufklärung des Sachverhalts nicht an¬
gewendet werden. Man nennt doch auch nicht
jeden Selbstmord eines Handwerkers „Waren¬
hausselbstmord", weil einige Handwerker im
Kampf mit dem Warenhaus zum Strange
gegriffen haben. Die Warenhäuser würden
diese Bezeichnung ganz gewiß gerichtlich ver¬
folgen. Warum tut die Schule nichts der¬
gleichen? Die Presse hat ferner die soziale
Pflicht, Schülerselbstmorde nicht sensationell
auszubeuten, weil ein Schein von Märtyrer¬
inn! jedem Jungen vorschwebt und viele
Psychisch deprimierte Knaben durch diesen
Schein den Selbstmord erst in den Bereich
der Möglichkeiten ziehen. Zur Volkserziehung
trägt es nicht bei, wenn von der Verschuldung
des Täters nicht die Rede ist.

Ich glaube, Hoches Behauptung, daß der
Täter in den meisten Fällen der Haupt¬
schuldige ist, muß wenigstens insofern un¬
bedingt gelten, als bei einem Knaben — wir
sehen ganz von der moralischen Bewertung
ab — ein triftiger Grund zum Selbstmord
nicht vorliegen kann. Auszuscheiden sind
Fälle, bei denen die psychische Veranlagung
des Täters genügende Erklärung bietet. Ist
der Täter der Hauptschuldige, so muß weiter
gefragt werden: ist Schule oder Elternhaus
mitschuldig, oder sind sie es beide? Obwohl
die Entscheidung dieser Fragen überhaupt
schlechthin das Wichtigste ist bei jeder Unter¬
suchung über Jugendselbstmorde, wird sie nie
mit der gehörigen Energie betrieben. Wohl
wird gefragt, wie das Verhältnis des Täters
zur Schule gewesen ist, gelegentlich auch
Wohl erörtert, ob die Schuld nicht vielleicht
im Elternhause zu suchen sei; es ist aber mit
aller Schärfe die Frage zu stellen und zur
Entscheidung zu bringen: wer ist schuldiger,
Schule oder Elternhaus?

Wie notwendig dies ist, möchte ich um dem
Kieler Jugendselbstmord klar machen, der
noch in frischer Erinnerung ist und doch schon
so weit geklärt, daß man den Zusammenhang
deutlich ahnen kann.

Tatbestand: Ein Schüler wird nach der
Zwölf Uhr-Pause in der Klasse vermißt, der
Lehrer läßt ihn suchen und findet den Jungen

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[0644] Maßgebliches und Unmaßgebliches Tagesfragen Schnlersclbstmord und seine Untersuchung. In der Pädagogischen Gesellschaft in Freiburg hat der Psychiater der dortigen Hochschule, Geheimer Hofrat Prof. or, Hoche, die Gründe und die Schuldfrage der scheinbar beständig anwachsenden Schülerselbstmorde eingehend behandelt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß von den drei Schuldigen, die in Frage stehen, die Schule am wenigsten belastet ist, mehr schon das Elternhaus, am meisten — teils moralisch, teils Physisch — der Täter selbst. Obwohl dies Zeugnis bon einem ab¬ solut unbeteiligten Akademiker stammt, wird doch systematisch der Schule und den einzelnen Lehrern bedingungslos die Schuld in die Schuhe geschoben, ja es wird der Schule geradezu das Recht abgestritten, in dieser Sache mitzureden, sie wolle sich doch nur weiß waschen! Natürlich will die Schule sich recht¬ fertigen bon so ungeheuren Anklagen I Wer würde das nicht versuchen? Es fragt sich nur, ob sie es kann und ob ihr überhaupt die Mittel zu Gebote stehen, einen Schülerselbst¬ mord bis in die letzten Gründe aufzudecken. Es ist unbestreitbar wahr, daß im sehnl- icher vieles nicht stimmt und daß an der großen Erregung der öffentlichen Meinung gegen das ganze höhere Schulwesen die Lehrerschaft mitschuldig ist, daß jedenfalls an System manches zu bessern wäre. Wird ein solcher Fall nachgewiesen, wo das Verhalten eines Lehrers oder einer ganzen Anstalt den Entschluß eines Knaben, aus dem Leben zu scheiden, erklärt, dann muß mit der größten Schürfe gegen die Persönlichkeit bzw. gegen das ganze System vorgegangen werden. Läßt sich die Schuld der Schule aber nicht nachweisen, so darf man es nicht ruhig mit ansehen, daß das Schulwesen noch mehr im öffentlichen Ansehen herabgesetzt wird; dann darf nicht jeder Journalist oder Re¬ porter die ganze höhere Lehrerschaft zu fahr¬ lässigen Mördern und herzlosen Paukern stempeln. Bor allem müßte die Presse etwas vorsichtiger sein in der Anwendung deS Aus¬ drucks : Schülerselbstmord. Jeder Selbstmord einer schulpflichtigen Person wird als Schülerselbstmord bezeichnet, zunächst nur wegen des bequemen Schlag¬ worts. Dies Schlagwort ist aber eine An¬ klage gegen die Schule; daher darf es vor der Aufklärung des Sachverhalts nicht an¬ gewendet werden. Man nennt doch auch nicht jeden Selbstmord eines Handwerkers „Waren¬ hausselbstmord", weil einige Handwerker im Kampf mit dem Warenhaus zum Strange gegriffen haben. Die Warenhäuser würden diese Bezeichnung ganz gewiß gerichtlich ver¬ folgen. Warum tut die Schule nichts der¬ gleichen? Die Presse hat ferner die soziale Pflicht, Schülerselbstmorde nicht sensationell auszubeuten, weil ein Schein von Märtyrer¬ inn! jedem Jungen vorschwebt und viele Psychisch deprimierte Knaben durch diesen Schein den Selbstmord erst in den Bereich der Möglichkeiten ziehen. Zur Volkserziehung trägt es nicht bei, wenn von der Verschuldung des Täters nicht die Rede ist. Ich glaube, Hoches Behauptung, daß der Täter in den meisten Fällen der Haupt¬ schuldige ist, muß wenigstens insofern un¬ bedingt gelten, als bei einem Knaben — wir sehen ganz von der moralischen Bewertung ab — ein triftiger Grund zum Selbstmord nicht vorliegen kann. Auszuscheiden sind Fälle, bei denen die psychische Veranlagung des Täters genügende Erklärung bietet. Ist der Täter der Hauptschuldige, so muß weiter gefragt werden: ist Schule oder Elternhaus mitschuldig, oder sind sie es beide? Obwohl die Entscheidung dieser Fragen überhaupt schlechthin das Wichtigste ist bei jeder Unter¬ suchung über Jugendselbstmorde, wird sie nie mit der gehörigen Energie betrieben. Wohl wird gefragt, wie das Verhältnis des Täters zur Schule gewesen ist, gelegentlich auch Wohl erörtert, ob die Schuld nicht vielleicht im Elternhause zu suchen sei; es ist aber mit aller Schärfe die Frage zu stellen und zur Entscheidung zu bringen: wer ist schuldiger, Schule oder Elternhaus? Wie notwendig dies ist, möchte ich um dem Kieler Jugendselbstmord klar machen, der noch in frischer Erinnerung ist und doch schon so weit geklärt, daß man den Zusammenhang deutlich ahnen kann. Tatbestand: Ein Schüler wird nach der Zwölf Uhr-Pause in der Klasse vermißt, der Lehrer läßt ihn suchen und findet den Jungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/644>, abgerufen am 29.04.2024.