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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Zentrum, Liberale und Regierung

Die Negierung im Joch der Ultrmnontnnen -- Vor sechs und sieben Jahrenl --
Rücktritt Wermuths -- Eine Parallele mit Lindequist -- Begünstigung des Par¬
lamentarismus -- Vorstandssitzung der nationalliberalcn Partei -- Friktionen bei den
Reichsämtern -- Verhandlungen mit England -- Wehrvorlagen

Wer mit Nachdenken die Geschichte liest, wird finden, daß fast immer die¬
selben Szenen vorkommen, in denen nur die Namen der handelnden Personen
geändert zu werden brauchen. An diesen Gedanken Friedrichs des Großen
gemahnen uns wieder einmal die Vorgänge der beiden letzten Wochen in der
inneren Reichspolitik. Es ist, als wenn die Jahre 1904, 1906 und 1906 wieder¬
gekehrt wären und als habe es kein 1907 gegeben. Wieder ringen das Zentrum
und die liberalen Mittelparteien um die Vorherrschaft, und wieder gerät die
Reichsregierung langsam aber sicher unter das kaudinische Joch der
Ultramontanen. Herr v. Bethmann befindet sich genau in der gleichen Lage
wie seinerzeit Fürst Bülow: er ist sich wohl bewußt, daß kein Staat ohne eine
starke Dosis liberaler Prinzipien mehr voran gebracht werden kann; und doch ist er
darauf angewiesen, sich der durchaus nicht liberalen Zentrumspartei zu bedienen,
weil die vorhandenen liberalen Parteien nicht in dem Zustande der Festigkeit
leben, der erforderlich wäre, um darauf eine starke Negierungsautorität zu
begründen. Herr v. Bethmann ist nicht der finstere Reaktionär, als den ihn
manche erscheinen lassen möchten, er rechnet nur mit den gegebenen Faktoren,
was wieder zur Folge hat, daß er sich von der kompakten, zielsicher vorwärts¬
strebender Masse der Mtramontanen mitschleppen läßt, wie sein Vorgänger
argwöhnisch bewacht von den Konservativen, daß er ja den Liberalen kein
Zeichen der Beruhigung zukommen lasse. Die Zentrumspartei macht dagegen
wieder einmal ihrem Namen Ehre: sie bildet den Mittelpunkt der deutschen
Reichspolitik und zwar aus eigener Kraft, trotz sehr anrüchiger Antezedenzien
in nationalen Dingen, lediglich weil sie eine Macht ist!

Vor sechs und sieben Jahren war es das Kolonialamt, heute ist es
das Reichsschatzamt, das den Hintergrund für die Szene bildet, auf der Liberale




Reichsspiegel
Zentrum, Liberale und Regierung

Die Negierung im Joch der Ultrmnontnnen — Vor sechs und sieben Jahrenl —
Rücktritt Wermuths — Eine Parallele mit Lindequist — Begünstigung des Par¬
lamentarismus — Vorstandssitzung der nationalliberalcn Partei — Friktionen bei den
Reichsämtern — Verhandlungen mit England — Wehrvorlagen

Wer mit Nachdenken die Geschichte liest, wird finden, daß fast immer die¬
selben Szenen vorkommen, in denen nur die Namen der handelnden Personen
geändert zu werden brauchen. An diesen Gedanken Friedrichs des Großen
gemahnen uns wieder einmal die Vorgänge der beiden letzten Wochen in der
inneren Reichspolitik. Es ist, als wenn die Jahre 1904, 1906 und 1906 wieder¬
gekehrt wären und als habe es kein 1907 gegeben. Wieder ringen das Zentrum
und die liberalen Mittelparteien um die Vorherrschaft, und wieder gerät die
Reichsregierung langsam aber sicher unter das kaudinische Joch der
Ultramontanen. Herr v. Bethmann befindet sich genau in der gleichen Lage
wie seinerzeit Fürst Bülow: er ist sich wohl bewußt, daß kein Staat ohne eine
starke Dosis liberaler Prinzipien mehr voran gebracht werden kann; und doch ist er
darauf angewiesen, sich der durchaus nicht liberalen Zentrumspartei zu bedienen,
weil die vorhandenen liberalen Parteien nicht in dem Zustande der Festigkeit
leben, der erforderlich wäre, um darauf eine starke Negierungsautorität zu
begründen. Herr v. Bethmann ist nicht der finstere Reaktionär, als den ihn
manche erscheinen lassen möchten, er rechnet nur mit den gegebenen Faktoren,
was wieder zur Folge hat, daß er sich von der kompakten, zielsicher vorwärts¬
strebender Masse der Mtramontanen mitschleppen läßt, wie sein Vorgänger
argwöhnisch bewacht von den Konservativen, daß er ja den Liberalen kein
Zeichen der Beruhigung zukommen lasse. Die Zentrumspartei macht dagegen
wieder einmal ihrem Namen Ehre: sie bildet den Mittelpunkt der deutschen
Reichspolitik und zwar aus eigener Kraft, trotz sehr anrüchiger Antezedenzien
in nationalen Dingen, lediglich weil sie eine Macht ist!

Vor sechs und sieben Jahren war es das Kolonialamt, heute ist es
das Reichsschatzamt, das den Hintergrund für die Szene bildet, auf der Liberale


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[0648] [Abbildung] Reichsspiegel Zentrum, Liberale und Regierung Die Negierung im Joch der Ultrmnontnnen — Vor sechs und sieben Jahrenl — Rücktritt Wermuths — Eine Parallele mit Lindequist — Begünstigung des Par¬ lamentarismus — Vorstandssitzung der nationalliberalcn Partei — Friktionen bei den Reichsämtern — Verhandlungen mit England — Wehrvorlagen Wer mit Nachdenken die Geschichte liest, wird finden, daß fast immer die¬ selben Szenen vorkommen, in denen nur die Namen der handelnden Personen geändert zu werden brauchen. An diesen Gedanken Friedrichs des Großen gemahnen uns wieder einmal die Vorgänge der beiden letzten Wochen in der inneren Reichspolitik. Es ist, als wenn die Jahre 1904, 1906 und 1906 wieder¬ gekehrt wären und als habe es kein 1907 gegeben. Wieder ringen das Zentrum und die liberalen Mittelparteien um die Vorherrschaft, und wieder gerät die Reichsregierung langsam aber sicher unter das kaudinische Joch der Ultramontanen. Herr v. Bethmann befindet sich genau in der gleichen Lage wie seinerzeit Fürst Bülow: er ist sich wohl bewußt, daß kein Staat ohne eine starke Dosis liberaler Prinzipien mehr voran gebracht werden kann; und doch ist er darauf angewiesen, sich der durchaus nicht liberalen Zentrumspartei zu bedienen, weil die vorhandenen liberalen Parteien nicht in dem Zustande der Festigkeit leben, der erforderlich wäre, um darauf eine starke Negierungsautorität zu begründen. Herr v. Bethmann ist nicht der finstere Reaktionär, als den ihn manche erscheinen lassen möchten, er rechnet nur mit den gegebenen Faktoren, was wieder zur Folge hat, daß er sich von der kompakten, zielsicher vorwärts¬ strebender Masse der Mtramontanen mitschleppen läßt, wie sein Vorgänger argwöhnisch bewacht von den Konservativen, daß er ja den Liberalen kein Zeichen der Beruhigung zukommen lasse. Die Zentrumspartei macht dagegen wieder einmal ihrem Namen Ehre: sie bildet den Mittelpunkt der deutschen Reichspolitik und zwar aus eigener Kraft, trotz sehr anrüchiger Antezedenzien in nationalen Dingen, lediglich weil sie eine Macht ist! Vor sechs und sieben Jahren war es das Kolonialamt, heute ist es das Reichsschatzamt, das den Hintergrund für die Szene bildet, auf der Liberale

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/648>, abgerufen am 29.04.2024.