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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Wahlparolen

Wahlparole der Regierung -- Heydevrands Stichwahlparole -- Radikalisierung --
Schaden für Landwirte -- Schwerindustrie und Hansabund

Noch kurz vor Toresschluß hat die Regierung durch Vermittlung der
Norddeutschen Allg. Zeitung eine Art Wahlparole in den Wahlkampf geworfen.
In mehreren seit Weihnachten erschienenen Artikeln und Rückblicken des halb¬
amtlichen Blattes wird immer wieder auf die sozialdemokratische Partei als auf
den gemeinsamen Gegner sämtlicher bürgerlichen Parteien hingewiesen und
gleichzeitig immer offener angedeutet, das; dem neuen Reichstage die Bewilligung
einer mehr oder minder großen Heeresvorlage bevorstehe. Heute nun drückt
sich das Blatt noch offener aus und schiebt die Heeresforderungen noch mehr
in den Vordergrund, indem es die Patrioten aufruft, eine solche Zusammen"
Setzung des Reichstages zu schaffen, die es gewährleiste, daß die Heeresforderungen
bewilligt werden.

In der Sache wird man der Regierung nur zustimmen können: Heeres¬
und Flottenausbau tun uns not im Hinblick auf die weltpolitische Lage und
auf die daraus folgende Notwendigkeit, gegen allerhand Überraschungen gerüstet
zu sein. Darüber kann es zwei Meinungen nicht geben. Eine andere Frage
ist, ob das Hervortreten der Regierung in dieser späten Stunde noch einen
Zweck haben kann. Gewiß, sie gemahnt die Wähler, daß es neben den Einzel¬
sorgen auch gemeinsame gibt, aber sie zwingt niemanden, auf ^das Ganze zu
blicken, sie reißt niemanden mit fort. Dazu kommt die Wahlparole zu spät
und dazu ist sie viel zu vorsichtig abgefaßt. Im gegenwärtigen Stadium des
Wahlkampfes aber ziehen nur noch große, sensationelle Mittel. Die sogenannte
Regierungsparole schiebt die negative Seite in den Vordergrund und ver¬
schleiert die positive. Sie unterstreicht dasjenige, was nicht zu tun ist, und
läßt im Hintergrunde, was zu tun ist. Wozu? Den führenden Politikern gibt
sie keinerlei neue Gesichtspunkte und der Masse nur die Erinnerung an neue
Steuern. Der großen Masse wird diese Perspektive von den Radikalen sehr
deutlich gemacht werden und noch dazu in einer Form, die den guten Ab¬
sichten der Regierung nur abträglich sein kann. Die Lauer, die fürchten durch




Reichsspiegel
Wahlparolen

Wahlparole der Regierung — Heydevrands Stichwahlparole — Radikalisierung —
Schaden für Landwirte — Schwerindustrie und Hansabund

Noch kurz vor Toresschluß hat die Regierung durch Vermittlung der
Norddeutschen Allg. Zeitung eine Art Wahlparole in den Wahlkampf geworfen.
In mehreren seit Weihnachten erschienenen Artikeln und Rückblicken des halb¬
amtlichen Blattes wird immer wieder auf die sozialdemokratische Partei als auf
den gemeinsamen Gegner sämtlicher bürgerlichen Parteien hingewiesen und
gleichzeitig immer offener angedeutet, das; dem neuen Reichstage die Bewilligung
einer mehr oder minder großen Heeresvorlage bevorstehe. Heute nun drückt
sich das Blatt noch offener aus und schiebt die Heeresforderungen noch mehr
in den Vordergrund, indem es die Patrioten aufruft, eine solche Zusammen»
Setzung des Reichstages zu schaffen, die es gewährleiste, daß die Heeresforderungen
bewilligt werden.

In der Sache wird man der Regierung nur zustimmen können: Heeres¬
und Flottenausbau tun uns not im Hinblick auf die weltpolitische Lage und
auf die daraus folgende Notwendigkeit, gegen allerhand Überraschungen gerüstet
zu sein. Darüber kann es zwei Meinungen nicht geben. Eine andere Frage
ist, ob das Hervortreten der Regierung in dieser späten Stunde noch einen
Zweck haben kann. Gewiß, sie gemahnt die Wähler, daß es neben den Einzel¬
sorgen auch gemeinsame gibt, aber sie zwingt niemanden, auf ^das Ganze zu
blicken, sie reißt niemanden mit fort. Dazu kommt die Wahlparole zu spät
und dazu ist sie viel zu vorsichtig abgefaßt. Im gegenwärtigen Stadium des
Wahlkampfes aber ziehen nur noch große, sensationelle Mittel. Die sogenannte
Regierungsparole schiebt die negative Seite in den Vordergrund und ver¬
schleiert die positive. Sie unterstreicht dasjenige, was nicht zu tun ist, und
läßt im Hintergrunde, was zu tun ist. Wozu? Den führenden Politikern gibt
sie keinerlei neue Gesichtspunkte und der Masse nur die Erinnerung an neue
Steuern. Der großen Masse wird diese Perspektive von den Radikalen sehr
deutlich gemacht werden und noch dazu in einer Form, die den guten Ab¬
sichten der Regierung nur abträglich sein kann. Die Lauer, die fürchten durch


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[0098] [Abbildung] Reichsspiegel Wahlparolen Wahlparole der Regierung — Heydevrands Stichwahlparole — Radikalisierung — Schaden für Landwirte — Schwerindustrie und Hansabund Noch kurz vor Toresschluß hat die Regierung durch Vermittlung der Norddeutschen Allg. Zeitung eine Art Wahlparole in den Wahlkampf geworfen. In mehreren seit Weihnachten erschienenen Artikeln und Rückblicken des halb¬ amtlichen Blattes wird immer wieder auf die sozialdemokratische Partei als auf den gemeinsamen Gegner sämtlicher bürgerlichen Parteien hingewiesen und gleichzeitig immer offener angedeutet, das; dem neuen Reichstage die Bewilligung einer mehr oder minder großen Heeresvorlage bevorstehe. Heute nun drückt sich das Blatt noch offener aus und schiebt die Heeresforderungen noch mehr in den Vordergrund, indem es die Patrioten aufruft, eine solche Zusammen» Setzung des Reichstages zu schaffen, die es gewährleiste, daß die Heeresforderungen bewilligt werden. In der Sache wird man der Regierung nur zustimmen können: Heeres¬ und Flottenausbau tun uns not im Hinblick auf die weltpolitische Lage und auf die daraus folgende Notwendigkeit, gegen allerhand Überraschungen gerüstet zu sein. Darüber kann es zwei Meinungen nicht geben. Eine andere Frage ist, ob das Hervortreten der Regierung in dieser späten Stunde noch einen Zweck haben kann. Gewiß, sie gemahnt die Wähler, daß es neben den Einzel¬ sorgen auch gemeinsame gibt, aber sie zwingt niemanden, auf ^das Ganze zu blicken, sie reißt niemanden mit fort. Dazu kommt die Wahlparole zu spät und dazu ist sie viel zu vorsichtig abgefaßt. Im gegenwärtigen Stadium des Wahlkampfes aber ziehen nur noch große, sensationelle Mittel. Die sogenannte Regierungsparole schiebt die negative Seite in den Vordergrund und ver¬ schleiert die positive. Sie unterstreicht dasjenige, was nicht zu tun ist, und läßt im Hintergrunde, was zu tun ist. Wozu? Den führenden Politikern gibt sie keinerlei neue Gesichtspunkte und der Masse nur die Erinnerung an neue Steuern. Der großen Masse wird diese Perspektive von den Radikalen sehr deutlich gemacht werden und noch dazu in einer Form, die den guten Ab¬ sichten der Regierung nur abträglich sein kann. Die Lauer, die fürchten durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/98>, abgerufen am 29.04.2024.