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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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tut und redet, wie er sich kleidet und bewegt, ja selbst wie er denkt und fühlt,
an feste kanonische Satzungen gebunden ist, geht dem Individuum oft jede
Individualität verloren, während es anderseits wohl kaum eine schärfer aus¬
gesprochene Volksindividualität gibt als die chinesische. Das eine ist eben die
Folge des anderen...




Von unserer lieben Muttersprache
Von W, Haape in

an will bemerkt haben, daß die Deutschen, sonst so gemütliche
und friedliche Leute, leicht in die Hitze geraten und unter Um¬
ständen sogar grob werden können, wenn sie über die liebe Mutter¬
sprache streiten. Und sie gibt so viel Anlaß zum Streit! Ich
erinnere mich aus meinem Leben, daß zwei mit einander befreundete
Rechtsbeflissene sich eine Zeitlang schief ansahen, weil sie sich zu scharf darüber
gezankt hatten, ob es heißen müsse: "gemäß dem Gesetz" oder "gemäß des
Gesetzes". So töricht solche Empfindlichkeit ist, so beweist sie doch, daß die
Muttersprache uns wichtig ist und uns am Herzen liegt.

Über eine Äußerlichkeit, dasKleid der Sprache, d. h. über die sogenannte
deutsche und lateinische Schrift, gelehrter: über Fraktur und Antiqua, hat man
im Reichstage mit demselben Feuer gekämpft wie über die bedeutendsten poli¬
tischen Fragen, und die vaterländische Erregung hat im Volke nachgezittert.
"Deutsche, wahrt eure heiligsten Güter, eure Schrift!" schallte es von der
einen Seite; von der anderen Seite wies man darauf hin, daß die deutsche
Schrift aus der lateinischen hervorgegangen ist, daß die meisten Reichsboten ihre
Namen lateinisch schreiben, und daß der Deutscheste der Deutschen, Jakob Grimm,
lateinisch geschrieben hat. Ein greifbares Ergebnis hat die Verhandlung nicht
gehabt; es bleibt beim Alten, und das ist, denke ich, kein Unglück. Die beiden
Schriftarten ergänzen einander. Es wird behauptet, unsere Frauenwelt, namentlich
die jüngere, bevorzuge die lateinische Schrift mit ihren großen einfachen Zügen.
Da es sich um eine Kleidungsfrage handelt, würde das Urteil der Frauen aller¬
dings sehr ins Gewicht fallen!

Die sprachliche Form der einzelnen Wörter ist bekanntlich festgestellt durch
die neue Rechtschreibung. Diese ist amtlich; und vor allem Amtlichen hat der
Deutsche immer noch eine gewisse Hochachtung, wenn er auch darüber schimpft.
Man hat ja auch manches an der neuen Schreibweise auszusetzen, aber man
fügt sich im allgemeinen der Vorschrift. Besonders ein Punkt hat vielseitigen
Widerspruch hervorgerufen und, wie ich glaube, nicht ohne Grund; es ist die
Wiedereinführung der Schreibweise -leren in der Endung der fremden Zeit-


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tut und redet, wie er sich kleidet und bewegt, ja selbst wie er denkt und fühlt,
an feste kanonische Satzungen gebunden ist, geht dem Individuum oft jede
Individualität verloren, während es anderseits wohl kaum eine schärfer aus¬
gesprochene Volksindividualität gibt als die chinesische. Das eine ist eben die
Folge des anderen...




Von unserer lieben Muttersprache
Von W, Haape in

an will bemerkt haben, daß die Deutschen, sonst so gemütliche
und friedliche Leute, leicht in die Hitze geraten und unter Um¬
ständen sogar grob werden können, wenn sie über die liebe Mutter¬
sprache streiten. Und sie gibt so viel Anlaß zum Streit! Ich
erinnere mich aus meinem Leben, daß zwei mit einander befreundete
Rechtsbeflissene sich eine Zeitlang schief ansahen, weil sie sich zu scharf darüber
gezankt hatten, ob es heißen müsse: „gemäß dem Gesetz" oder „gemäß des
Gesetzes". So töricht solche Empfindlichkeit ist, so beweist sie doch, daß die
Muttersprache uns wichtig ist und uns am Herzen liegt.

Über eine Äußerlichkeit, dasKleid der Sprache, d. h. über die sogenannte
deutsche und lateinische Schrift, gelehrter: über Fraktur und Antiqua, hat man
im Reichstage mit demselben Feuer gekämpft wie über die bedeutendsten poli¬
tischen Fragen, und die vaterländische Erregung hat im Volke nachgezittert.
„Deutsche, wahrt eure heiligsten Güter, eure Schrift!" schallte es von der
einen Seite; von der anderen Seite wies man darauf hin, daß die deutsche
Schrift aus der lateinischen hervorgegangen ist, daß die meisten Reichsboten ihre
Namen lateinisch schreiben, und daß der Deutscheste der Deutschen, Jakob Grimm,
lateinisch geschrieben hat. Ein greifbares Ergebnis hat die Verhandlung nicht
gehabt; es bleibt beim Alten, und das ist, denke ich, kein Unglück. Die beiden
Schriftarten ergänzen einander. Es wird behauptet, unsere Frauenwelt, namentlich
die jüngere, bevorzuge die lateinische Schrift mit ihren großen einfachen Zügen.
Da es sich um eine Kleidungsfrage handelt, würde das Urteil der Frauen aller¬
dings sehr ins Gewicht fallen!

Die sprachliche Form der einzelnen Wörter ist bekanntlich festgestellt durch
die neue Rechtschreibung. Diese ist amtlich; und vor allem Amtlichen hat der
Deutsche immer noch eine gewisse Hochachtung, wenn er auch darüber schimpft.
Man hat ja auch manches an der neuen Schreibweise auszusetzen, aber man
fügt sich im allgemeinen der Vorschrift. Besonders ein Punkt hat vielseitigen
Widerspruch hervorgerufen und, wie ich glaube, nicht ohne Grund; es ist die
Wiedereinführung der Schreibweise -leren in der Endung der fremden Zeit-


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[0146] von »nscrer lieben Muttersprache tut und redet, wie er sich kleidet und bewegt, ja selbst wie er denkt und fühlt, an feste kanonische Satzungen gebunden ist, geht dem Individuum oft jede Individualität verloren, während es anderseits wohl kaum eine schärfer aus¬ gesprochene Volksindividualität gibt als die chinesische. Das eine ist eben die Folge des anderen... Von unserer lieben Muttersprache Von W, Haape in an will bemerkt haben, daß die Deutschen, sonst so gemütliche und friedliche Leute, leicht in die Hitze geraten und unter Um¬ ständen sogar grob werden können, wenn sie über die liebe Mutter¬ sprache streiten. Und sie gibt so viel Anlaß zum Streit! Ich erinnere mich aus meinem Leben, daß zwei mit einander befreundete Rechtsbeflissene sich eine Zeitlang schief ansahen, weil sie sich zu scharf darüber gezankt hatten, ob es heißen müsse: „gemäß dem Gesetz" oder „gemäß des Gesetzes". So töricht solche Empfindlichkeit ist, so beweist sie doch, daß die Muttersprache uns wichtig ist und uns am Herzen liegt. Über eine Äußerlichkeit, dasKleid der Sprache, d. h. über die sogenannte deutsche und lateinische Schrift, gelehrter: über Fraktur und Antiqua, hat man im Reichstage mit demselben Feuer gekämpft wie über die bedeutendsten poli¬ tischen Fragen, und die vaterländische Erregung hat im Volke nachgezittert. „Deutsche, wahrt eure heiligsten Güter, eure Schrift!" schallte es von der einen Seite; von der anderen Seite wies man darauf hin, daß die deutsche Schrift aus der lateinischen hervorgegangen ist, daß die meisten Reichsboten ihre Namen lateinisch schreiben, und daß der Deutscheste der Deutschen, Jakob Grimm, lateinisch geschrieben hat. Ein greifbares Ergebnis hat die Verhandlung nicht gehabt; es bleibt beim Alten, und das ist, denke ich, kein Unglück. Die beiden Schriftarten ergänzen einander. Es wird behauptet, unsere Frauenwelt, namentlich die jüngere, bevorzuge die lateinische Schrift mit ihren großen einfachen Zügen. Da es sich um eine Kleidungsfrage handelt, würde das Urteil der Frauen aller¬ dings sehr ins Gewicht fallen! Die sprachliche Form der einzelnen Wörter ist bekanntlich festgestellt durch die neue Rechtschreibung. Diese ist amtlich; und vor allem Amtlichen hat der Deutsche immer noch eine gewisse Hochachtung, wenn er auch darüber schimpft. Man hat ja auch manches an der neuen Schreibweise auszusetzen, aber man fügt sich im allgemeinen der Vorschrift. Besonders ein Punkt hat vielseitigen Widerspruch hervorgerufen und, wie ich glaube, nicht ohne Grund; es ist die Wiedereinführung der Schreibweise -leren in der Endung der fremden Zeit-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/146>, abgerufen am 18.05.2024.