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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Förderung des Handwerks auf Rösten der Industrie?

"Handelsgewerbe" und "Kaufmann" durchaus abweichende Anhaltspunkte gaben,
während die von den zuständigen Behörden und vom Reichsgericht ergangenen
Entscheidungen für die Begriffe "Fabrik" und "Handwerk" wiederum eine Reihe
neuer Merkmale aufstellten. Es ist hierdurch die Komplikation und Verdunkelung
einer an sich zweifelsfreien Sachlage stark beeinflußt wordeu, und es erscheint
daher angebracht, diese drei in einander greifenden Momente zunächst im einzelnen
einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

I.
Die treibenden Momente in der Streitfrage "Fabrik und Handwerk"
1. "Fabrik und Handwerk" in der Gewerbeordnung

Infolge der völligen Gewerbefreiheit, die die Gewerbeordnung vom
21. Juni 1869 gegen den Willen und gegen die Wünsche der überwiegenden
Mehrheit des Handwerks einführte, erhob sich in Handwerkskreisen eine an
Kraft und Nachhaltigkeit ständig zunehmende Bewegung, die trotz des
anfänglichen Widerstrebens der Regierung zwar langsam, aber allmählich
den gewünschten Erfolg hatte, zumal sich ihrer das Zentrum und die
Konservativen sehr nachdrücklich im Reichstage annahmen. Die Forderungen
des Handwerks gingen einerseits auf die Wiedereinführung des Befähigungs¬
nachweises für Meister und Gesellen, andrerseits auf Einrichtung von
Zwangsinnungen und Handwerkskammern und auf die Regelung des Lehrlings¬
wesens. Schritt für Schritt sind diese Forderungen durchgesetzt worden
durch die Novellen zur Gewerbeordnung vom 7. Juli 1877 und von:
8. Dezember 1884, durch welche die Ausbildung des Handmerkernachwuchses
gesetzlich geregelt wurde, durch die Novellen vom 26. April 1886 und vom
6. Juli 1887, welche die Rechte der Innungen erweiterten, durch die große
Gewerbeordnungsnovelle vom 26. Juli 1897 (sogenanntes Handwerkerorgani-
sationsgesetz), welche die Zwangsinnungen und Handwerkskammern schuf, und
endlich durch das Gesetz vom 30. Mai 1908, das den Handwerkern die so
heiß begehrte Wiedereinführung des Befähigungsnachweises brachte und damit
wohl den Abschluß der eigentlichen Handwerkergesetzgebung gebildet haben
dürfte.

Durch die beiden letzterwähnten Gesetze ist die Kontroverse "Fabrik und
Handwerk" besonders aktuell und für die Industrie von steigender Bedeutung
geworden, nachdem der Keim zu dem Problem der Abgrenzung zwischen Hand¬
werks- und Fabrikbetrieben schon seit langer Zeit bestanden hatte. Bei viel¬
fachen Gelegenheiten hatten sich Bestrebungen bemerkbar gemacht, die Gesetz¬
gebung zugunsten des Handwerks gegenüber der mächtigen Konkurrenz der
Fabriken zu beeinflussen, mindestens aber eine deutliche Grenze zwischen beiden
zu schaffen. Bereits im Jahre 1848 forderte eine Petition zahlreicher Hand¬
werksmeister der Stadt Bonn von dem Minister von Camphausen unter anderem


Förderung des Handwerks auf Rösten der Industrie?

„Handelsgewerbe" und „Kaufmann" durchaus abweichende Anhaltspunkte gaben,
während die von den zuständigen Behörden und vom Reichsgericht ergangenen
Entscheidungen für die Begriffe „Fabrik" und „Handwerk" wiederum eine Reihe
neuer Merkmale aufstellten. Es ist hierdurch die Komplikation und Verdunkelung
einer an sich zweifelsfreien Sachlage stark beeinflußt wordeu, und es erscheint
daher angebracht, diese drei in einander greifenden Momente zunächst im einzelnen
einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

I.
Die treibenden Momente in der Streitfrage „Fabrik und Handwerk"
1. „Fabrik und Handwerk" in der Gewerbeordnung

Infolge der völligen Gewerbefreiheit, die die Gewerbeordnung vom
21. Juni 1869 gegen den Willen und gegen die Wünsche der überwiegenden
Mehrheit des Handwerks einführte, erhob sich in Handwerkskreisen eine an
Kraft und Nachhaltigkeit ständig zunehmende Bewegung, die trotz des
anfänglichen Widerstrebens der Regierung zwar langsam, aber allmählich
den gewünschten Erfolg hatte, zumal sich ihrer das Zentrum und die
Konservativen sehr nachdrücklich im Reichstage annahmen. Die Forderungen
des Handwerks gingen einerseits auf die Wiedereinführung des Befähigungs¬
nachweises für Meister und Gesellen, andrerseits auf Einrichtung von
Zwangsinnungen und Handwerkskammern und auf die Regelung des Lehrlings¬
wesens. Schritt für Schritt sind diese Forderungen durchgesetzt worden
durch die Novellen zur Gewerbeordnung vom 7. Juli 1877 und von:
8. Dezember 1884, durch welche die Ausbildung des Handmerkernachwuchses
gesetzlich geregelt wurde, durch die Novellen vom 26. April 1886 und vom
6. Juli 1887, welche die Rechte der Innungen erweiterten, durch die große
Gewerbeordnungsnovelle vom 26. Juli 1897 (sogenanntes Handwerkerorgani-
sationsgesetz), welche die Zwangsinnungen und Handwerkskammern schuf, und
endlich durch das Gesetz vom 30. Mai 1908, das den Handwerkern die so
heiß begehrte Wiedereinführung des Befähigungsnachweises brachte und damit
wohl den Abschluß der eigentlichen Handwerkergesetzgebung gebildet haben
dürfte.

Durch die beiden letzterwähnten Gesetze ist die Kontroverse „Fabrik und
Handwerk" besonders aktuell und für die Industrie von steigender Bedeutung
geworden, nachdem der Keim zu dem Problem der Abgrenzung zwischen Hand¬
werks- und Fabrikbetrieben schon seit langer Zeit bestanden hatte. Bei viel¬
fachen Gelegenheiten hatten sich Bestrebungen bemerkbar gemacht, die Gesetz¬
gebung zugunsten des Handwerks gegenüber der mächtigen Konkurrenz der
Fabriken zu beeinflussen, mindestens aber eine deutliche Grenze zwischen beiden
zu schaffen. Bereits im Jahre 1848 forderte eine Petition zahlreicher Hand¬
werksmeister der Stadt Bonn von dem Minister von Camphausen unter anderem


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[0175] Förderung des Handwerks auf Rösten der Industrie? „Handelsgewerbe" und „Kaufmann" durchaus abweichende Anhaltspunkte gaben, während die von den zuständigen Behörden und vom Reichsgericht ergangenen Entscheidungen für die Begriffe „Fabrik" und „Handwerk" wiederum eine Reihe neuer Merkmale aufstellten. Es ist hierdurch die Komplikation und Verdunkelung einer an sich zweifelsfreien Sachlage stark beeinflußt wordeu, und es erscheint daher angebracht, diese drei in einander greifenden Momente zunächst im einzelnen einer näheren Betrachtung zu unterziehen. I. Die treibenden Momente in der Streitfrage „Fabrik und Handwerk" 1. „Fabrik und Handwerk" in der Gewerbeordnung Infolge der völligen Gewerbefreiheit, die die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 gegen den Willen und gegen die Wünsche der überwiegenden Mehrheit des Handwerks einführte, erhob sich in Handwerkskreisen eine an Kraft und Nachhaltigkeit ständig zunehmende Bewegung, die trotz des anfänglichen Widerstrebens der Regierung zwar langsam, aber allmählich den gewünschten Erfolg hatte, zumal sich ihrer das Zentrum und die Konservativen sehr nachdrücklich im Reichstage annahmen. Die Forderungen des Handwerks gingen einerseits auf die Wiedereinführung des Befähigungs¬ nachweises für Meister und Gesellen, andrerseits auf Einrichtung von Zwangsinnungen und Handwerkskammern und auf die Regelung des Lehrlings¬ wesens. Schritt für Schritt sind diese Forderungen durchgesetzt worden durch die Novellen zur Gewerbeordnung vom 7. Juli 1877 und von: 8. Dezember 1884, durch welche die Ausbildung des Handmerkernachwuchses gesetzlich geregelt wurde, durch die Novellen vom 26. April 1886 und vom 6. Juli 1887, welche die Rechte der Innungen erweiterten, durch die große Gewerbeordnungsnovelle vom 26. Juli 1897 (sogenanntes Handwerkerorgani- sationsgesetz), welche die Zwangsinnungen und Handwerkskammern schuf, und endlich durch das Gesetz vom 30. Mai 1908, das den Handwerkern die so heiß begehrte Wiedereinführung des Befähigungsnachweises brachte und damit wohl den Abschluß der eigentlichen Handwerkergesetzgebung gebildet haben dürfte. Durch die beiden letzterwähnten Gesetze ist die Kontroverse „Fabrik und Handwerk" besonders aktuell und für die Industrie von steigender Bedeutung geworden, nachdem der Keim zu dem Problem der Abgrenzung zwischen Hand¬ werks- und Fabrikbetrieben schon seit langer Zeit bestanden hatte. Bei viel¬ fachen Gelegenheiten hatten sich Bestrebungen bemerkbar gemacht, die Gesetz¬ gebung zugunsten des Handwerks gegenüber der mächtigen Konkurrenz der Fabriken zu beeinflussen, mindestens aber eine deutliche Grenze zwischen beiden zu schaffen. Bereits im Jahre 1848 forderte eine Petition zahlreicher Hand¬ werksmeister der Stadt Bonn von dem Minister von Camphausen unter anderem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/175>, abgerufen am 26.05.2024.