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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel
preußischer jDartiknlarisinus

Die großen nationalen Ideen, die unser Volk in den siebziger Jahren
beherrschten und die Debatten unseres Reichstages und vieler Landtage ans ein
erfreulich hohes Niveau erhoben, beginnen immer mehr zu verblassen. Es ist
als ob der Einheitsgedanke seine ganze Kraft erschöpft habe in einer einzigen
großen Tat, welche ein Jahrzehnt noch in denen nachwirkte, die mit voller
Hingabe an ihr gearbeitet hatten, welche aber, je weiter wir uns zeitlich von
ihr entfernen, um so weniger unser politisches Empfinden und Handeln noch
zu bestimmen vermag. Gewiß, wir haben in der Zwischenzeit ein einheitliches
bürgerliches Recht geschaffen, aber auch seine Wurzeln ruhen in der Zeit um
1870/71; gewiß, es sind andere, wenn auch vielfach weniger weitreichende
nationale Gedanken verwirklicht worden, aber sie wurden nicht getragen von
breiteren Kreisen des Volkes, und unsere nationalen Parteien haben sich in den
Parlamenten nicht so für sie eingesetzt, wie man es hätte erwarten dürfen und
wie es früher geschehen ist. Auf die mannigfachen politischen und wirtschaft¬
lichen Ursachen dieser unerfreulichen Erscheinung ist in den Grenzboten oft
hingewiesen worden. Einen neuen Beweis für sie boten die Verhandlungen des
Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses, als ihnen die Etats der
Eisenbahnen im Reich und in Preußen Gelegenheit gaben, die wichtige Frage
der Vereinheitlichung der deutschen Eisenbahnen zu erörtern. Auf der rechten
Seite in beiden Häusern satte Zufriedenheit mit dem ausgezeichneten Zustand
unseres Eisenbahnwesens, der die Forderungen des Artikels 41 bis 47 der Reichs¬
verfassung weit hinter sich lasse; bei den Linksliberalen eine "sympathische
Stellung" zu dem Gedanken der Vereinheitlichung. Außer bei einem Vertreter
der Nationalliberalen im Reichstag, der als das zu erstrebende Ziel der Ent¬
wicklung die volle Eiseubahngemeinschaft auf föderativer Grundlage hinstellte,
nirgends Wärme und freudige Zustimmung zu einem Gedanken, der zum
mindesten ernstester Überlegung und Prüfung bedürfte. Und die Regierungen?
In Preußen ist man aus leicht erklärlichen Gründen entschiedener Gegner des
Gedankens. Und der Herr Präsident des Reichseisenbahnamtes hat nicht viel
mehr als sein "Interesse" bekundet und die Möglichkeit, daß eine weitergehende
Vereinheitlichung der Bahnen möglich sei, zugegeben. Aber selbst diese äußerst
vorsichtige Haltung brachte ihm im Abgeordnetenhause eine Rüge von konser-




Reichsspiegel
preußischer jDartiknlarisinus

Die großen nationalen Ideen, die unser Volk in den siebziger Jahren
beherrschten und die Debatten unseres Reichstages und vieler Landtage ans ein
erfreulich hohes Niveau erhoben, beginnen immer mehr zu verblassen. Es ist
als ob der Einheitsgedanke seine ganze Kraft erschöpft habe in einer einzigen
großen Tat, welche ein Jahrzehnt noch in denen nachwirkte, die mit voller
Hingabe an ihr gearbeitet hatten, welche aber, je weiter wir uns zeitlich von
ihr entfernen, um so weniger unser politisches Empfinden und Handeln noch
zu bestimmen vermag. Gewiß, wir haben in der Zwischenzeit ein einheitliches
bürgerliches Recht geschaffen, aber auch seine Wurzeln ruhen in der Zeit um
1870/71; gewiß, es sind andere, wenn auch vielfach weniger weitreichende
nationale Gedanken verwirklicht worden, aber sie wurden nicht getragen von
breiteren Kreisen des Volkes, und unsere nationalen Parteien haben sich in den
Parlamenten nicht so für sie eingesetzt, wie man es hätte erwarten dürfen und
wie es früher geschehen ist. Auf die mannigfachen politischen und wirtschaft¬
lichen Ursachen dieser unerfreulichen Erscheinung ist in den Grenzboten oft
hingewiesen worden. Einen neuen Beweis für sie boten die Verhandlungen des
Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses, als ihnen die Etats der
Eisenbahnen im Reich und in Preußen Gelegenheit gaben, die wichtige Frage
der Vereinheitlichung der deutschen Eisenbahnen zu erörtern. Auf der rechten
Seite in beiden Häusern satte Zufriedenheit mit dem ausgezeichneten Zustand
unseres Eisenbahnwesens, der die Forderungen des Artikels 41 bis 47 der Reichs¬
verfassung weit hinter sich lasse; bei den Linksliberalen eine „sympathische
Stellung" zu dem Gedanken der Vereinheitlichung. Außer bei einem Vertreter
der Nationalliberalen im Reichstag, der als das zu erstrebende Ziel der Ent¬
wicklung die volle Eiseubahngemeinschaft auf föderativer Grundlage hinstellte,
nirgends Wärme und freudige Zustimmung zu einem Gedanken, der zum
mindesten ernstester Überlegung und Prüfung bedürfte. Und die Regierungen?
In Preußen ist man aus leicht erklärlichen Gründen entschiedener Gegner des
Gedankens. Und der Herr Präsident des Reichseisenbahnamtes hat nicht viel
mehr als sein „Interesse" bekundet und die Möglichkeit, daß eine weitergehende
Vereinheitlichung der Bahnen möglich sei, zugegeben. Aber selbst diese äußerst
vorsichtige Haltung brachte ihm im Abgeordnetenhause eine Rüge von konser-


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[0311] [Abbildung] Reichsspiegel preußischer jDartiknlarisinus Die großen nationalen Ideen, die unser Volk in den siebziger Jahren beherrschten und die Debatten unseres Reichstages und vieler Landtage ans ein erfreulich hohes Niveau erhoben, beginnen immer mehr zu verblassen. Es ist als ob der Einheitsgedanke seine ganze Kraft erschöpft habe in einer einzigen großen Tat, welche ein Jahrzehnt noch in denen nachwirkte, die mit voller Hingabe an ihr gearbeitet hatten, welche aber, je weiter wir uns zeitlich von ihr entfernen, um so weniger unser politisches Empfinden und Handeln noch zu bestimmen vermag. Gewiß, wir haben in der Zwischenzeit ein einheitliches bürgerliches Recht geschaffen, aber auch seine Wurzeln ruhen in der Zeit um 1870/71; gewiß, es sind andere, wenn auch vielfach weniger weitreichende nationale Gedanken verwirklicht worden, aber sie wurden nicht getragen von breiteren Kreisen des Volkes, und unsere nationalen Parteien haben sich in den Parlamenten nicht so für sie eingesetzt, wie man es hätte erwarten dürfen und wie es früher geschehen ist. Auf die mannigfachen politischen und wirtschaft¬ lichen Ursachen dieser unerfreulichen Erscheinung ist in den Grenzboten oft hingewiesen worden. Einen neuen Beweis für sie boten die Verhandlungen des Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses, als ihnen die Etats der Eisenbahnen im Reich und in Preußen Gelegenheit gaben, die wichtige Frage der Vereinheitlichung der deutschen Eisenbahnen zu erörtern. Auf der rechten Seite in beiden Häusern satte Zufriedenheit mit dem ausgezeichneten Zustand unseres Eisenbahnwesens, der die Forderungen des Artikels 41 bis 47 der Reichs¬ verfassung weit hinter sich lasse; bei den Linksliberalen eine „sympathische Stellung" zu dem Gedanken der Vereinheitlichung. Außer bei einem Vertreter der Nationalliberalen im Reichstag, der als das zu erstrebende Ziel der Ent¬ wicklung die volle Eiseubahngemeinschaft auf föderativer Grundlage hinstellte, nirgends Wärme und freudige Zustimmung zu einem Gedanken, der zum mindesten ernstester Überlegung und Prüfung bedürfte. Und die Regierungen? In Preußen ist man aus leicht erklärlichen Gründen entschiedener Gegner des Gedankens. Und der Herr Präsident des Reichseisenbahnamtes hat nicht viel mehr als sein „Interesse" bekundet und die Möglichkeit, daß eine weitergehende Vereinheitlichung der Bahnen möglich sei, zugegeben. Aber selbst diese äußerst vorsichtige Haltung brachte ihm im Abgeordnetenhause eine Rüge von konser-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/311>, abgerufen am 19.05.2024.