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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Der Wiesenzaun
Line Dürer-Novelle
Franz Acirl Ginzkoy von
8.

Was weiter mit dem blinden Jörg und seinem Kind geschah, das steht
noch heute in den Nürnberger Ratserlässen zu lesen, die aus jenen bewegten
Tagen auf uns gekommen sind. Es war dem Jörg geglückt, ins Augustiner¬
kloster zu entkommen, noch ehe die Häscher, die es vielleicht nicht allzu eilig
hatten, sich seiner bemächtigen konnten. Und nun geschah das Unerwartete,
daß der hohe Nürnberger Rat, dem es ansonst an geheiligter Strenge nicht
sehlte, in diesem Fall des Jörg eine wunderliche Lauheit und Besinnlichkeit zur
Schau trug.

Im alten Ratsbuch steht zu lesen vom Tage (Zuinta post Innocentium:

"Zu erkundigen, wie die sach zwischen dem plindten Jörg und seinem
Haußwirt Hermann Unfug, stainmetzen, den er tödtlich verwundt hat,
ergangen sey.

Und darneben vleiß thun lassen, ob man Jörgen mög zu Handen pringen,
den knechten darumb ein trinkgeld versprechen."

Das gab zu denken. Es sollte den Häschern ein Trinkgeld versprochen
werden, und diese sollten sehen, ob sie des Jörgen habhaft würden. Diese
Milde erregte Verwunderung. Wir aber ahnen, wessen Einfluß hier am Werke
war. Hatten doch Herr Albrecht Dürer und Herr Willibald Pirkheimer am
Tage nach der traurigen Nacht im Rathaus vorgesprochen und ein vertrauliches
Wort mit dem Bürgermeister und den Schöffen gewechselt.

So verschwieg man den Jörg eine Weile im Kloster und ließ die Gerechtigkeit
sich besinnen. Aber selbst den friedlichen Augustinern schien die Heftigkeit ihres
Schützlings nicht ungefährlich, und es scheint, daß sie selbst die Häscher holen
ließen, damit der Jörg zum mindesten entwaffnet werde, denn wir lesen vom
Tage 8exw viZiliÄ Lircumeissionis ctomini: "dem plindten Jörgen Graff im
augustinercloster sein wehr nehmen lassen."

Doch wenn auch alle Welt zur Milde gestimmt war und eher an einen
unglücklichen Zufall als an die absichtliche Tötung des Meisters Unfug glaubte,
womit ja auch der Wahrheit zu Recht geschah, so war es nun die Witwe des
Erschlagenen, die ruhelos nach Rache schrie und den Jörg dem peinlichen Verhör
im Nürnberger Lochgefängnis ausgeliefert wissen wollte.




Der Wiesenzaun
Line Dürer-Novelle
Franz Acirl Ginzkoy von
8.

Was weiter mit dem blinden Jörg und seinem Kind geschah, das steht
noch heute in den Nürnberger Ratserlässen zu lesen, die aus jenen bewegten
Tagen auf uns gekommen sind. Es war dem Jörg geglückt, ins Augustiner¬
kloster zu entkommen, noch ehe die Häscher, die es vielleicht nicht allzu eilig
hatten, sich seiner bemächtigen konnten. Und nun geschah das Unerwartete,
daß der hohe Nürnberger Rat, dem es ansonst an geheiligter Strenge nicht
sehlte, in diesem Fall des Jörg eine wunderliche Lauheit und Besinnlichkeit zur
Schau trug.

Im alten Ratsbuch steht zu lesen vom Tage (Zuinta post Innocentium:

„Zu erkundigen, wie die sach zwischen dem plindten Jörg und seinem
Haußwirt Hermann Unfug, stainmetzen, den er tödtlich verwundt hat,
ergangen sey.

Und darneben vleiß thun lassen, ob man Jörgen mög zu Handen pringen,
den knechten darumb ein trinkgeld versprechen."

Das gab zu denken. Es sollte den Häschern ein Trinkgeld versprochen
werden, und diese sollten sehen, ob sie des Jörgen habhaft würden. Diese
Milde erregte Verwunderung. Wir aber ahnen, wessen Einfluß hier am Werke
war. Hatten doch Herr Albrecht Dürer und Herr Willibald Pirkheimer am
Tage nach der traurigen Nacht im Rathaus vorgesprochen und ein vertrauliches
Wort mit dem Bürgermeister und den Schöffen gewechselt.

So verschwieg man den Jörg eine Weile im Kloster und ließ die Gerechtigkeit
sich besinnen. Aber selbst den friedlichen Augustinern schien die Heftigkeit ihres
Schützlings nicht ungefährlich, und es scheint, daß sie selbst die Häscher holen
ließen, damit der Jörg zum mindesten entwaffnet werde, denn wir lesen vom
Tage 8exw viZiliÄ Lircumeissionis ctomini: „dem plindten Jörgen Graff im
augustinercloster sein wehr nehmen lassen."

Doch wenn auch alle Welt zur Milde gestimmt war und eher an einen
unglücklichen Zufall als an die absichtliche Tötung des Meisters Unfug glaubte,
womit ja auch der Wahrheit zu Recht geschah, so war es nun die Witwe des
Erschlagenen, die ruhelos nach Rache schrie und den Jörg dem peinlichen Verhör
im Nürnberger Lochgefängnis ausgeliefert wissen wollte.


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[0398] [Abbildung] Der Wiesenzaun Line Dürer-Novelle Franz Acirl Ginzkoy von 8. Was weiter mit dem blinden Jörg und seinem Kind geschah, das steht noch heute in den Nürnberger Ratserlässen zu lesen, die aus jenen bewegten Tagen auf uns gekommen sind. Es war dem Jörg geglückt, ins Augustiner¬ kloster zu entkommen, noch ehe die Häscher, die es vielleicht nicht allzu eilig hatten, sich seiner bemächtigen konnten. Und nun geschah das Unerwartete, daß der hohe Nürnberger Rat, dem es ansonst an geheiligter Strenge nicht sehlte, in diesem Fall des Jörg eine wunderliche Lauheit und Besinnlichkeit zur Schau trug. Im alten Ratsbuch steht zu lesen vom Tage (Zuinta post Innocentium: „Zu erkundigen, wie die sach zwischen dem plindten Jörg und seinem Haußwirt Hermann Unfug, stainmetzen, den er tödtlich verwundt hat, ergangen sey. Und darneben vleiß thun lassen, ob man Jörgen mög zu Handen pringen, den knechten darumb ein trinkgeld versprechen." Das gab zu denken. Es sollte den Häschern ein Trinkgeld versprochen werden, und diese sollten sehen, ob sie des Jörgen habhaft würden. Diese Milde erregte Verwunderung. Wir aber ahnen, wessen Einfluß hier am Werke war. Hatten doch Herr Albrecht Dürer und Herr Willibald Pirkheimer am Tage nach der traurigen Nacht im Rathaus vorgesprochen und ein vertrauliches Wort mit dem Bürgermeister und den Schöffen gewechselt. So verschwieg man den Jörg eine Weile im Kloster und ließ die Gerechtigkeit sich besinnen. Aber selbst den friedlichen Augustinern schien die Heftigkeit ihres Schützlings nicht ungefährlich, und es scheint, daß sie selbst die Häscher holen ließen, damit der Jörg zum mindesten entwaffnet werde, denn wir lesen vom Tage 8exw viZiliÄ Lircumeissionis ctomini: „dem plindten Jörgen Graff im augustinercloster sein wehr nehmen lassen." Doch wenn auch alle Welt zur Milde gestimmt war und eher an einen unglücklichen Zufall als an die absichtliche Tötung des Meisters Unfug glaubte, womit ja auch der Wahrheit zu Recht geschah, so war es nun die Witwe des Erschlagenen, die ruhelos nach Rache schrie und den Jörg dem peinlichen Verhör im Nürnberger Lochgefängnis ausgeliefert wissen wollte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/398>, abgerufen am 19.05.2024.