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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

2Z6 S,, die gerade in der Gegenwart mit
ihren religiösen Kämpfen besonders will¬
kommen geheißen werden wird, da hier ein
Philosoph sein freimütiges Glaubensbekenntnis
ausspricht, der rein für die Sache, nicht aber
für irgendeine Partei ficht. Eucken will die
Religion weder konfessionell binden, noch
stimmt er der heute so beliebten Verflüchtigung
zu subjektivem Pathos zu, vielmehr zeigt er
einen dritten Weg. Die Gegenwart mit ihrer
moralischen Schlaffheit bedarf dringend der
Aufrüttelung und Regeneration durch die
moralische Energie des Christentums; denn
in ihm schlummern unermeßliche Kräfte und
es haben sich diese noch keineswegs ausgelebt,
sondern sind noch immer imstande, wieder
hervorzubrechen und mit elementarer Gewalt
das menschliche Leben in neue Bahnen zu
treiben. Die Berührung von Göttlichen und
Menschlichem erzeugt dämonische Mächte, die
umwälzend und erneuernd, aber auch zer¬
störend und verheerend wirken können; sie zu
mäßigen und in fruchtbare Arbeit überzu¬
leiten, ist eine Hauptaufgabe der religiösen
Gemeinschaft. Aber freilich kann, ja muß im
Laufe der Zeit die besondere Fassung zur
Verengung und Erstarrung werden; dann
gilt es, von ihr an die Urkraft zu appellieren
und sie zu neuem Schaffen aufzurufen, so
gewiß eine große Weltreligion nicht ein ab¬
geschlossenes Faktum, sondern eine weltdurch¬
dringende Bewegung bildet. Das aber ist
die Lage in der Gegenwart. Demnach ist
die Frage des Titels dahin zu beantworten,
daß wir Christen nicht nur sein können, son¬
dern sein müssen. Aber wir können es nur,
wenn das Christentum als eine noch mitten
im Fluß befindliche weltgeschichtliche Be¬
wegung anerkannt und wenn es, aufgerüttelt
aus der kirchlichen Erstarrung, auf eine
breitere Grundlage gestellt wird. Hier liegt
demnach die Ausgabe der Zeit und die Hoff¬
nung der Zukunft.

Dr. Brahman
Lrziehnngsfragen

Die Erziehung zum Rhythmus. "Er¬
ziehung zum Rhythmus" ist das allgemeine
Ziel der Bildungsanstalt Jaques - Dalcroze,
die im Jahre 1910 von Genf nach Dresden
verlegt worden ist und dort in der Garten¬

[Spaltenumbruch]

stadt Hellerau dank der tatkräftigen Unter¬
stützung der Brüder Wolf und Harald Dohrn
sich hat ein Heim erbauen können, das in
seiner Zweck- und Ausdrucksgestaltung einzig¬
artig genannt zu werden verdient. Über das
erste Unterrichtsjahr auf deutschem Boden be¬
richtet ein Jahrbuch, das bei Diederichs in
Jena erschienen ist. *) Dieses Jahrbuch wächst
aber weit über den Rahmen eines Schul-
berichteS hinaus und gibt in Aufsätzen von
or. W. Dohrn, Adolphe APPia und Jaques-
Dalcroze selber nicht nur Aufschluß über den
Ursprung und die Entwicklung der rhyth¬
mischen Gymnastik, sondern auch über die
Grundgedanken, auf denen die Erziehung zum
Rhythmus sich aufbaut, und über die Er¬
wartungen, die ihr Schöpfer an sie knüpft.

Dalcroze ist Musiker und kam von der
Musik her zur rhythmischen Gymnastik. Um
bei seinen Schülern die Fähigkeit, den musi¬
kalischen Rhythmus zu empfinden, auszu¬
bilden, ließ er sie den Rhythmus mit körper¬
lichen Bewegungen, zunächst der Arme und
Beine, begleiten, er lehrte sie, den musikali¬
schen Rhythmus "körperlich" zu empfinden.

Das zusammen, die Synthese von Musik
oder besser von Rhythmus und Körper¬
bewegung, macht Dalcroze nun zur Grund¬
lage eines ganzen Erziehungssystems und er¬
wartet von ihm nicht nur für die Musik und
die Gymnastik, sondern auch für die Willens¬
erziehung und die Erziehung zur Persönlich¬
keit sehr viel, ich möchte fast vermuten, zuviel.

In der Tat liefert die rhythmische Gym¬
nastik für die Musik nicht zu unterschätzende
Werte. Sie arbeitet nicht nnr der "Arhythmie"
unseres Zeitalters im allgemeinen entgegen,
von der Dalcroze häufig spricht; sondern da¬
durch, daß sie den Rhythmus auf Körper¬
bewegung stützt, ihn körperlich durch das In¬
dividuum selbst darstellen und empfinden läßt,
hat sie für die Erziehung des rhythmischen
Sinnes im Individuum ein Hilfsmittel ent¬
deckt und planmäßig verwertet, dessen Wich¬
tigkeit durch die erzielten Resultate illustriert
wird: Kinder, deren rhythmischer Sinn sich

[Ende Spaltensatz]
*) "Der Rhythmus." Ein Jahrbuch. Her¬
ausgegeben von der Bildungsanstalt JaqueS-
Dalcroze, Dresden-Hellerau. I. Bd. Jena,
Diederichs, 1911. Preis 1,60 M.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

2Z6 S,, die gerade in der Gegenwart mit
ihren religiösen Kämpfen besonders will¬
kommen geheißen werden wird, da hier ein
Philosoph sein freimütiges Glaubensbekenntnis
ausspricht, der rein für die Sache, nicht aber
für irgendeine Partei ficht. Eucken will die
Religion weder konfessionell binden, noch
stimmt er der heute so beliebten Verflüchtigung
zu subjektivem Pathos zu, vielmehr zeigt er
einen dritten Weg. Die Gegenwart mit ihrer
moralischen Schlaffheit bedarf dringend der
Aufrüttelung und Regeneration durch die
moralische Energie des Christentums; denn
in ihm schlummern unermeßliche Kräfte und
es haben sich diese noch keineswegs ausgelebt,
sondern sind noch immer imstande, wieder
hervorzubrechen und mit elementarer Gewalt
das menschliche Leben in neue Bahnen zu
treiben. Die Berührung von Göttlichen und
Menschlichem erzeugt dämonische Mächte, die
umwälzend und erneuernd, aber auch zer¬
störend und verheerend wirken können; sie zu
mäßigen und in fruchtbare Arbeit überzu¬
leiten, ist eine Hauptaufgabe der religiösen
Gemeinschaft. Aber freilich kann, ja muß im
Laufe der Zeit die besondere Fassung zur
Verengung und Erstarrung werden; dann
gilt es, von ihr an die Urkraft zu appellieren
und sie zu neuem Schaffen aufzurufen, so
gewiß eine große Weltreligion nicht ein ab¬
geschlossenes Faktum, sondern eine weltdurch¬
dringende Bewegung bildet. Das aber ist
die Lage in der Gegenwart. Demnach ist
die Frage des Titels dahin zu beantworten,
daß wir Christen nicht nur sein können, son¬
dern sein müssen. Aber wir können es nur,
wenn das Christentum als eine noch mitten
im Fluß befindliche weltgeschichtliche Be¬
wegung anerkannt und wenn es, aufgerüttelt
aus der kirchlichen Erstarrung, auf eine
breitere Grundlage gestellt wird. Hier liegt
demnach die Ausgabe der Zeit und die Hoff¬
nung der Zukunft.

Dr. Brahman
Lrziehnngsfragen

Die Erziehung zum Rhythmus. „Er¬
ziehung zum Rhythmus" ist das allgemeine
Ziel der Bildungsanstalt Jaques - Dalcroze,
die im Jahre 1910 von Genf nach Dresden
verlegt worden ist und dort in der Garten¬

[Spaltenumbruch]

stadt Hellerau dank der tatkräftigen Unter¬
stützung der Brüder Wolf und Harald Dohrn
sich hat ein Heim erbauen können, das in
seiner Zweck- und Ausdrucksgestaltung einzig¬
artig genannt zu werden verdient. Über das
erste Unterrichtsjahr auf deutschem Boden be¬
richtet ein Jahrbuch, das bei Diederichs in
Jena erschienen ist. *) Dieses Jahrbuch wächst
aber weit über den Rahmen eines Schul-
berichteS hinaus und gibt in Aufsätzen von
or. W. Dohrn, Adolphe APPia und Jaques-
Dalcroze selber nicht nur Aufschluß über den
Ursprung und die Entwicklung der rhyth¬
mischen Gymnastik, sondern auch über die
Grundgedanken, auf denen die Erziehung zum
Rhythmus sich aufbaut, und über die Er¬
wartungen, die ihr Schöpfer an sie knüpft.

Dalcroze ist Musiker und kam von der
Musik her zur rhythmischen Gymnastik. Um
bei seinen Schülern die Fähigkeit, den musi¬
kalischen Rhythmus zu empfinden, auszu¬
bilden, ließ er sie den Rhythmus mit körper¬
lichen Bewegungen, zunächst der Arme und
Beine, begleiten, er lehrte sie, den musikali¬
schen Rhythmus „körperlich" zu empfinden.

Das zusammen, die Synthese von Musik
oder besser von Rhythmus und Körper¬
bewegung, macht Dalcroze nun zur Grund¬
lage eines ganzen Erziehungssystems und er¬
wartet von ihm nicht nur für die Musik und
die Gymnastik, sondern auch für die Willens¬
erziehung und die Erziehung zur Persönlich¬
keit sehr viel, ich möchte fast vermuten, zuviel.

In der Tat liefert die rhythmische Gym¬
nastik für die Musik nicht zu unterschätzende
Werte. Sie arbeitet nicht nnr der „Arhythmie"
unseres Zeitalters im allgemeinen entgegen,
von der Dalcroze häufig spricht; sondern da¬
durch, daß sie den Rhythmus auf Körper¬
bewegung stützt, ihn körperlich durch das In¬
dividuum selbst darstellen und empfinden läßt,
hat sie für die Erziehung des rhythmischen
Sinnes im Individuum ein Hilfsmittel ent¬
deckt und planmäßig verwertet, dessen Wich¬
tigkeit durch die erzielten Resultate illustriert
wird: Kinder, deren rhythmischer Sinn sich

[Ende Spaltensatz]
*) „Der Rhythmus." Ein Jahrbuch. Her¬
ausgegeben von der Bildungsanstalt JaqueS-
Dalcroze, Dresden-Hellerau. I. Bd. Jena,
Diederichs, 1911. Preis 1,60 M.
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[0406] Maßgebliches und Unmaßgebliches 2Z6 S,, die gerade in der Gegenwart mit ihren religiösen Kämpfen besonders will¬ kommen geheißen werden wird, da hier ein Philosoph sein freimütiges Glaubensbekenntnis ausspricht, der rein für die Sache, nicht aber für irgendeine Partei ficht. Eucken will die Religion weder konfessionell binden, noch stimmt er der heute so beliebten Verflüchtigung zu subjektivem Pathos zu, vielmehr zeigt er einen dritten Weg. Die Gegenwart mit ihrer moralischen Schlaffheit bedarf dringend der Aufrüttelung und Regeneration durch die moralische Energie des Christentums; denn in ihm schlummern unermeßliche Kräfte und es haben sich diese noch keineswegs ausgelebt, sondern sind noch immer imstande, wieder hervorzubrechen und mit elementarer Gewalt das menschliche Leben in neue Bahnen zu treiben. Die Berührung von Göttlichen und Menschlichem erzeugt dämonische Mächte, die umwälzend und erneuernd, aber auch zer¬ störend und verheerend wirken können; sie zu mäßigen und in fruchtbare Arbeit überzu¬ leiten, ist eine Hauptaufgabe der religiösen Gemeinschaft. Aber freilich kann, ja muß im Laufe der Zeit die besondere Fassung zur Verengung und Erstarrung werden; dann gilt es, von ihr an die Urkraft zu appellieren und sie zu neuem Schaffen aufzurufen, so gewiß eine große Weltreligion nicht ein ab¬ geschlossenes Faktum, sondern eine weltdurch¬ dringende Bewegung bildet. Das aber ist die Lage in der Gegenwart. Demnach ist die Frage des Titels dahin zu beantworten, daß wir Christen nicht nur sein können, son¬ dern sein müssen. Aber wir können es nur, wenn das Christentum als eine noch mitten im Fluß befindliche weltgeschichtliche Be¬ wegung anerkannt und wenn es, aufgerüttelt aus der kirchlichen Erstarrung, auf eine breitere Grundlage gestellt wird. Hier liegt demnach die Ausgabe der Zeit und die Hoff¬ nung der Zukunft. Dr. Brahman Lrziehnngsfragen Die Erziehung zum Rhythmus. „Er¬ ziehung zum Rhythmus" ist das allgemeine Ziel der Bildungsanstalt Jaques - Dalcroze, die im Jahre 1910 von Genf nach Dresden verlegt worden ist und dort in der Garten¬ stadt Hellerau dank der tatkräftigen Unter¬ stützung der Brüder Wolf und Harald Dohrn sich hat ein Heim erbauen können, das in seiner Zweck- und Ausdrucksgestaltung einzig¬ artig genannt zu werden verdient. Über das erste Unterrichtsjahr auf deutschem Boden be¬ richtet ein Jahrbuch, das bei Diederichs in Jena erschienen ist. *) Dieses Jahrbuch wächst aber weit über den Rahmen eines Schul- berichteS hinaus und gibt in Aufsätzen von or. W. Dohrn, Adolphe APPia und Jaques- Dalcroze selber nicht nur Aufschluß über den Ursprung und die Entwicklung der rhyth¬ mischen Gymnastik, sondern auch über die Grundgedanken, auf denen die Erziehung zum Rhythmus sich aufbaut, und über die Er¬ wartungen, die ihr Schöpfer an sie knüpft. Dalcroze ist Musiker und kam von der Musik her zur rhythmischen Gymnastik. Um bei seinen Schülern die Fähigkeit, den musi¬ kalischen Rhythmus zu empfinden, auszu¬ bilden, ließ er sie den Rhythmus mit körper¬ lichen Bewegungen, zunächst der Arme und Beine, begleiten, er lehrte sie, den musikali¬ schen Rhythmus „körperlich" zu empfinden. Das zusammen, die Synthese von Musik oder besser von Rhythmus und Körper¬ bewegung, macht Dalcroze nun zur Grund¬ lage eines ganzen Erziehungssystems und er¬ wartet von ihm nicht nur für die Musik und die Gymnastik, sondern auch für die Willens¬ erziehung und die Erziehung zur Persönlich¬ keit sehr viel, ich möchte fast vermuten, zuviel. In der Tat liefert die rhythmische Gym¬ nastik für die Musik nicht zu unterschätzende Werte. Sie arbeitet nicht nnr der „Arhythmie" unseres Zeitalters im allgemeinen entgegen, von der Dalcroze häufig spricht; sondern da¬ durch, daß sie den Rhythmus auf Körper¬ bewegung stützt, ihn körperlich durch das In¬ dividuum selbst darstellen und empfinden läßt, hat sie für die Erziehung des rhythmischen Sinnes im Individuum ein Hilfsmittel ent¬ deckt und planmäßig verwertet, dessen Wich¬ tigkeit durch die erzielten Resultate illustriert wird: Kinder, deren rhythmischer Sinn sich *) „Der Rhythmus." Ein Jahrbuch. Her¬ ausgegeben von der Bildungsanstalt JaqueS- Dalcroze, Dresden-Hellerau. I. Bd. Jena, Diederichs, 1911. Preis 1,60 M.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/406>, abgerufen am 19.05.2024.