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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Zur Dardanellenfrage

Aber der gute Wille allein ist ohnmächtig und nichts nütze ohne Erkenntnis
und Überwindung der Hindernisse; und derer sind viele. Es ist hier nicht der
Ort, auf die Einzelheiten der Hindernisse einzugehen. Das größte Hindernis
aber liegt bei unseren deutschen Landwirten sowohl als Arbeitsgebern, wie als
wirtschaftlich-politische Partei. So lange der deutsche Großgrundbesitzer nicht
erkannt hat, daß die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft gerade aus
der Arbeiterfrage heraus immer näher rückt, so lange er sich nicht besinnt auf
die nationalen Pflichten, die ihm die Zukunft seines Gewerbes auferlegt,
so lange wird es auch nicht möglich sein, die bessernde Hand an die Einzel¬
hemmnisse zu legen. Gehen die Dinge so weiter, wie in den letzten zwanzig
Jahren, so ist die Stunde nicht mehr fern, in der das deutsche Volk sagen wird:
Du Landwirtschaft bist kein deutsches Gewerbe mehr, du beschäftigst keine deutschen
Arbeiter, an den Herden deiner arbeitenden Bevölkerung wird nicht mehr deutsch
gesprochen, du stellst keinen deutschen Heeresersatz mehr. Nur das Geld, die
Rente, die Besitzer sind an dir noch deutsch. Darum sind wir nicht mehr
gesonnen, für dich Opfer zu bringen. .




Zur Zardanellenfrage
von Dr. rer. pol. Max Linde

s kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß
der italienisch-türkische Krieg zu einer in nicht allzufernen Zukunft
zu erwartenden Aufrollung der Dardanellenfrage erheblich beitragen
wird. Wir werden allem Anschein nach in den nächsten Zeiten
noch mancherlei über diese Angelegenheit zu hören bekommen, und
es ist daher nicht ganz überflüssig, die Geschichte der Dardanellenfrage, die als
ein Bestandteil der orientalischen Frage in der europäischen Politik seit mehr
als einem Jahrhundert den Gegenstand ernstester Sorge der Kabinette bildet,
in kurzen Zügen zu skizzieren.

Es gab keine Pontus- und keine Dardanellenfrage, solange nicht nur die
Dardanellen, das Marmarameer und der Bosporus, sondern auch das Schwarze
Meer vollständig von türkischen Territorien eingeschlossen waren. Sie tauchte
aber in demselben Zeitpunkt auf, in dem Rußland seine Grenzen von Norden
her bis an die Gestade des Schwarzen Meeres vorschob. Dieser Zeitpunkt wird
bezeichnet durch das Jahr 1774, in dem der russisch-türkische Friede von Kutschuck-
Kainardsche geschlossen wurde. Das Vordringen Rußlands an den Pontus hatte


Grenzboten II 1912 63
Zur Dardanellenfrage

Aber der gute Wille allein ist ohnmächtig und nichts nütze ohne Erkenntnis
und Überwindung der Hindernisse; und derer sind viele. Es ist hier nicht der
Ort, auf die Einzelheiten der Hindernisse einzugehen. Das größte Hindernis
aber liegt bei unseren deutschen Landwirten sowohl als Arbeitsgebern, wie als
wirtschaftlich-politische Partei. So lange der deutsche Großgrundbesitzer nicht
erkannt hat, daß die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft gerade aus
der Arbeiterfrage heraus immer näher rückt, so lange er sich nicht besinnt auf
die nationalen Pflichten, die ihm die Zukunft seines Gewerbes auferlegt,
so lange wird es auch nicht möglich sein, die bessernde Hand an die Einzel¬
hemmnisse zu legen. Gehen die Dinge so weiter, wie in den letzten zwanzig
Jahren, so ist die Stunde nicht mehr fern, in der das deutsche Volk sagen wird:
Du Landwirtschaft bist kein deutsches Gewerbe mehr, du beschäftigst keine deutschen
Arbeiter, an den Herden deiner arbeitenden Bevölkerung wird nicht mehr deutsch
gesprochen, du stellst keinen deutschen Heeresersatz mehr. Nur das Geld, die
Rente, die Besitzer sind an dir noch deutsch. Darum sind wir nicht mehr
gesonnen, für dich Opfer zu bringen. .




Zur Zardanellenfrage
von Dr. rer. pol. Max Linde

s kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß
der italienisch-türkische Krieg zu einer in nicht allzufernen Zukunft
zu erwartenden Aufrollung der Dardanellenfrage erheblich beitragen
wird. Wir werden allem Anschein nach in den nächsten Zeiten
noch mancherlei über diese Angelegenheit zu hören bekommen, und
es ist daher nicht ganz überflüssig, die Geschichte der Dardanellenfrage, die als
ein Bestandteil der orientalischen Frage in der europäischen Politik seit mehr
als einem Jahrhundert den Gegenstand ernstester Sorge der Kabinette bildet,
in kurzen Zügen zu skizzieren.

Es gab keine Pontus- und keine Dardanellenfrage, solange nicht nur die
Dardanellen, das Marmarameer und der Bosporus, sondern auch das Schwarze
Meer vollständig von türkischen Territorien eingeschlossen waren. Sie tauchte
aber in demselben Zeitpunkt auf, in dem Rußland seine Grenzen von Norden
her bis an die Gestade des Schwarzen Meeres vorschob. Dieser Zeitpunkt wird
bezeichnet durch das Jahr 1774, in dem der russisch-türkische Friede von Kutschuck-
Kainardsche geschlossen wurde. Das Vordringen Rußlands an den Pontus hatte


Grenzboten II 1912 63
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[0425] Zur Dardanellenfrage Aber der gute Wille allein ist ohnmächtig und nichts nütze ohne Erkenntnis und Überwindung der Hindernisse; und derer sind viele. Es ist hier nicht der Ort, auf die Einzelheiten der Hindernisse einzugehen. Das größte Hindernis aber liegt bei unseren deutschen Landwirten sowohl als Arbeitsgebern, wie als wirtschaftlich-politische Partei. So lange der deutsche Großgrundbesitzer nicht erkannt hat, daß die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft gerade aus der Arbeiterfrage heraus immer näher rückt, so lange er sich nicht besinnt auf die nationalen Pflichten, die ihm die Zukunft seines Gewerbes auferlegt, so lange wird es auch nicht möglich sein, die bessernde Hand an die Einzel¬ hemmnisse zu legen. Gehen die Dinge so weiter, wie in den letzten zwanzig Jahren, so ist die Stunde nicht mehr fern, in der das deutsche Volk sagen wird: Du Landwirtschaft bist kein deutsches Gewerbe mehr, du beschäftigst keine deutschen Arbeiter, an den Herden deiner arbeitenden Bevölkerung wird nicht mehr deutsch gesprochen, du stellst keinen deutschen Heeresersatz mehr. Nur das Geld, die Rente, die Besitzer sind an dir noch deutsch. Darum sind wir nicht mehr gesonnen, für dich Opfer zu bringen. . Zur Zardanellenfrage von Dr. rer. pol. Max Linde s kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß der italienisch-türkische Krieg zu einer in nicht allzufernen Zukunft zu erwartenden Aufrollung der Dardanellenfrage erheblich beitragen wird. Wir werden allem Anschein nach in den nächsten Zeiten noch mancherlei über diese Angelegenheit zu hören bekommen, und es ist daher nicht ganz überflüssig, die Geschichte der Dardanellenfrage, die als ein Bestandteil der orientalischen Frage in der europäischen Politik seit mehr als einem Jahrhundert den Gegenstand ernstester Sorge der Kabinette bildet, in kurzen Zügen zu skizzieren. Es gab keine Pontus- und keine Dardanellenfrage, solange nicht nur die Dardanellen, das Marmarameer und der Bosporus, sondern auch das Schwarze Meer vollständig von türkischen Territorien eingeschlossen waren. Sie tauchte aber in demselben Zeitpunkt auf, in dem Rußland seine Grenzen von Norden her bis an die Gestade des Schwarzen Meeres vorschob. Dieser Zeitpunkt wird bezeichnet durch das Jahr 1774, in dem der russisch-türkische Friede von Kutschuck- Kainardsche geschlossen wurde. Das Vordringen Rußlands an den Pontus hatte Grenzboten II 1912 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/425>, abgerufen am 26.05.2024.