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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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sie leicht eine Veränderung erfahren. Seine
Darstellung schließt sich vielmehr nach Mög¬
lichkeit eng an Kants eigene an. Wo Kants
Ausdruck selbst die Präziseste Formulierung
seiner Gedanken ist, wird er unmittelbar über¬
nommen, an den dielen Stellen, wo er dunkel
und mißverständlich bleibt, wird der Versuch
gemacht, ihn durch andere deutliche Worte zu
ersetzen. So ist eine Einleitung in die Kan¬
tischen Hauptwerke entstanden, die ein selb¬
ständiges Buch für sich ist und anderseits doch
auch einen sehr guten Führer durch dieselben
darstellt, den der, welcher mit ihnen noch nicht
dnrch längeres Studium vertraut geworden
ist, bei ihrer Lektüre mit Vorteil neben sich
legen wird, (Cohens kleiner Kant-Kommentar
erstreckt sich leider nur auf die Kritik der reinen
Vernunft,) Freilich, die eigentliche" tiefsten
Dunkelheiten bei Kant, jene nicht wenigen
Stellen, wo seine Philosophie Angriffspunkte
bietet, erfahren auch hier keine volle Auf¬
hellung, woraus dein Verfasser kein Borwurf
gemacht werden soll, denn sie lassen eine be¬
friedigende Aufklärung nicht zu.

Das Buch ist trotz seines geringen Um¬
fanges von großer Vollständigkeit,

Kants populäre Schriften.

Der Neu¬
kantianismus hat seinen Höhepunkt überschritten.
Seine Vertreter werden von Jahr zu Jahr
stärker über ihn hinausgetrieben. Der reine
Kantianismus fängt an aufzuhören, "modern"
zu sein. -- Das sind die Augenblicke, wo
Philosophische Strömungen beginnen populär
zu werden. Gerade die letzten Jahre haben
denn auch eine Fülle neuer Kantausgaben auf
den Büchermarkt gebracht. Meist waren es
die Hauptwerke der kritischen Epoche des
Denkens, die in oft guten, billigen Ausgaben
verbreitet wurden. Aber auch vorkritische
Schriften aus den Jugendstadien der philo¬
sophischen Entwicklung Kants, sodann seine
Briefe, endlich auch Sammlungen von Aper?us
sind in dieser Weise neu aufgelegt worden.
Die neueste Sammlung nennt sich "Kants
PopuläreSchriften". (Berlin,Verlag von
Georg Reimer. 1911. 417 S, 4M, geb. 5M.)
Sie ist unter Mitwirkung der Kcmtgcsellschaft
veranstaltet worden. Ungefähr die Hälfte des
Bandes gibt Schriften oder Stücke von solchen
aus Kants vvrkritischer Zeit! zwei Abschnitte

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aus der "Allgemeinen Naturgeschichte und
Theorie des Himmels", sodann die wesentlich ins
Ästhetisch-Psychologische fallenden "Beobach¬
tungen über das Gefühl des Schönen und
Erhabenen", und die "Träume eines Geister¬
sehers, erläutert durch Träume der Meta¬
physik". Diese Schrift ist eine ungemein
geistreiche, noch heute fesselnde Satire auf den
schwedischen Geisterseher Swedenborg. End¬
lich lernt' der Leser Kant noch als Tröster der
Mutter eines früh verstorbenen jungen Schülers
des Philosophen kennen. Diese relativ frühen
Schriften Kants -- sie reichen nur bis in sein
zweiundvierzigstes Lebensjahr -- zeigen ihn
als eleganten Schriftsteller, der die großen
Autoren der französischen Aufklärung nicht ohne
Nutzen für seinen eigenen Stil gelesen hat.

Daran schließen sich Schriften und Frag¬
mente solcher aus der kritischen Epoche Kants.
Aus den großen Hauptwerken ist freilich nichts
aufgenommen worden, mit Ausnahme eines
Abschnitts aus der "Grundlegung zur Meta¬
physik der Sitten". Alles andere sind Ueber¬
schriften oder stammt aus solchen. Wir zählen
kurz auf: die geschichtsphilosophischen Abhand¬
lungen "Idee zu einer allgemeinen Geschichte
in weltbürgerlicher Absicht", "Beantwortung
derFrage: Was ist Aufklärung?", denreligivns-
Philosophischen Aufsatz: "Über das Mißlingen
aller philosophischen Versuche in derTheodizee",
die Politisch-Philosophische Schrift "Zum ewigen
Frieden". Dazu kommt noch einiges andere
Interessante, darunter ein, soweit ich sehe,
außerhalb der großen von der preußischen
Akademie der Wissenschaften veranstalteten
Gesamtausgabe der Werke Kants hier zum
erstenmal abgedruckter Brief an eine Frau
Maria von Herbert, die in einer dringlichen
Herzensangelegenheit seinen moralischen Bei¬
rat wünschte. Der Ton, den der Einund-
siebzigjährige anschlägt, ist ein recht herber
und rigoristisch strenger. Es ist zu hoffen,
daß die Briesschreiberin in ihren Ent¬
schlüssen nicht ans die Antwort des Philo¬
sophen gewartet hat, denn es dauerte ein
reichliches halbes Jahr, bis sie kam. Und doch
hatte es in jenem Schreiben bewegt geheißen:
"Großer Kant. Zu dir rufe ich wie ein gläubiger
zu seinen Gott um Hilf, um Trost oder um
Bescheid zum Tod", und auch die kategorische
Drohung war nicht ausgeblieben: ". . . nun

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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sie leicht eine Veränderung erfahren. Seine
Darstellung schließt sich vielmehr nach Mög¬
lichkeit eng an Kants eigene an. Wo Kants
Ausdruck selbst die Präziseste Formulierung
seiner Gedanken ist, wird er unmittelbar über¬
nommen, an den dielen Stellen, wo er dunkel
und mißverständlich bleibt, wird der Versuch
gemacht, ihn durch andere deutliche Worte zu
ersetzen. So ist eine Einleitung in die Kan¬
tischen Hauptwerke entstanden, die ein selb¬
ständiges Buch für sich ist und anderseits doch
auch einen sehr guten Führer durch dieselben
darstellt, den der, welcher mit ihnen noch nicht
dnrch längeres Studium vertraut geworden
ist, bei ihrer Lektüre mit Vorteil neben sich
legen wird, (Cohens kleiner Kant-Kommentar
erstreckt sich leider nur auf die Kritik der reinen
Vernunft,) Freilich, die eigentliche» tiefsten
Dunkelheiten bei Kant, jene nicht wenigen
Stellen, wo seine Philosophie Angriffspunkte
bietet, erfahren auch hier keine volle Auf¬
hellung, woraus dein Verfasser kein Borwurf
gemacht werden soll, denn sie lassen eine be¬
friedigende Aufklärung nicht zu.

Das Buch ist trotz seines geringen Um¬
fanges von großer Vollständigkeit,

Kants populäre Schriften.

Der Neu¬
kantianismus hat seinen Höhepunkt überschritten.
Seine Vertreter werden von Jahr zu Jahr
stärker über ihn hinausgetrieben. Der reine
Kantianismus fängt an aufzuhören, „modern"
zu sein. — Das sind die Augenblicke, wo
Philosophische Strömungen beginnen populär
zu werden. Gerade die letzten Jahre haben
denn auch eine Fülle neuer Kantausgaben auf
den Büchermarkt gebracht. Meist waren es
die Hauptwerke der kritischen Epoche des
Denkens, die in oft guten, billigen Ausgaben
verbreitet wurden. Aber auch vorkritische
Schriften aus den Jugendstadien der philo¬
sophischen Entwicklung Kants, sodann seine
Briefe, endlich auch Sammlungen von Aper?us
sind in dieser Weise neu aufgelegt worden.
Die neueste Sammlung nennt sich „Kants
PopuläreSchriften". (Berlin,Verlag von
Georg Reimer. 1911. 417 S, 4M, geb. 5M.)
Sie ist unter Mitwirkung der Kcmtgcsellschaft
veranstaltet worden. Ungefähr die Hälfte des
Bandes gibt Schriften oder Stücke von solchen
aus Kants vvrkritischer Zeit! zwei Abschnitte

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aus der „Allgemeinen Naturgeschichte und
Theorie des Himmels", sodann die wesentlich ins
Ästhetisch-Psychologische fallenden „Beobach¬
tungen über das Gefühl des Schönen und
Erhabenen", und die „Träume eines Geister¬
sehers, erläutert durch Träume der Meta¬
physik". Diese Schrift ist eine ungemein
geistreiche, noch heute fesselnde Satire auf den
schwedischen Geisterseher Swedenborg. End¬
lich lernt' der Leser Kant noch als Tröster der
Mutter eines früh verstorbenen jungen Schülers
des Philosophen kennen. Diese relativ frühen
Schriften Kants — sie reichen nur bis in sein
zweiundvierzigstes Lebensjahr — zeigen ihn
als eleganten Schriftsteller, der die großen
Autoren der französischen Aufklärung nicht ohne
Nutzen für seinen eigenen Stil gelesen hat.

Daran schließen sich Schriften und Frag¬
mente solcher aus der kritischen Epoche Kants.
Aus den großen Hauptwerken ist freilich nichts
aufgenommen worden, mit Ausnahme eines
Abschnitts aus der „Grundlegung zur Meta¬
physik der Sitten". Alles andere sind Ueber¬
schriften oder stammt aus solchen. Wir zählen
kurz auf: die geschichtsphilosophischen Abhand¬
lungen „Idee zu einer allgemeinen Geschichte
in weltbürgerlicher Absicht", „Beantwortung
derFrage: Was ist Aufklärung?", denreligivns-
Philosophischen Aufsatz: „Über das Mißlingen
aller philosophischen Versuche in derTheodizee",
die Politisch-Philosophische Schrift „Zum ewigen
Frieden". Dazu kommt noch einiges andere
Interessante, darunter ein, soweit ich sehe,
außerhalb der großen von der preußischen
Akademie der Wissenschaften veranstalteten
Gesamtausgabe der Werke Kants hier zum
erstenmal abgedruckter Brief an eine Frau
Maria von Herbert, die in einer dringlichen
Herzensangelegenheit seinen moralischen Bei¬
rat wünschte. Der Ton, den der Einund-
siebzigjährige anschlägt, ist ein recht herber
und rigoristisch strenger. Es ist zu hoffen,
daß die Briesschreiberin in ihren Ent¬
schlüssen nicht ans die Antwort des Philo¬
sophen gewartet hat, denn es dauerte ein
reichliches halbes Jahr, bis sie kam. Und doch
hatte es in jenem Schreiben bewegt geheißen:
„Großer Kant. Zu dir rufe ich wie ein gläubiger
zu seinen Gott um Hilf, um Trost oder um
Bescheid zum Tod", und auch die kategorische
Drohung war nicht ausgeblieben: „. . . nun

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/49>, abgerufen am 19.05.2024.