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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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verändert festhält und gleichwohl oder vielmehr
gerade durch Erfüllung dieser "Ansichtsforde¬
rung" der höchsten ästhetischen Wirkung teil¬
haftig wird.

Diese bedeutsamen Hauptideen, in welchen
jedenfalls ein nicht zu unterschätzender Wahr¬
heitskern steckt, heben sich nun bei Cornelius
von dem Hintergrunde noch weitergehender,
aber auch in viel höherem Maße anfechtbarer
Vorstellungen ab. Weil ein und derselbe
Gegenstand sehr vcrschiedenwertige Ansichten,
gute und sofort über seine Raumform orien¬
tierende wie schlechte, verzerrte und irreführende
gewähren kann, sieht der Verfasser die wahre
Aufgabe der bildenden Kunst darin, uns glück¬
lichere Bilder oder Gestalteindrücke von den
Dingen zu verschaffen, als die zufällige Be¬
gegnung in der Wirklichkeit häufig darbietet.
Auf diese Art verwandeln sich die im Grunde
bloß technischen Regeln der Schilderung räum¬
licher Formen in letzte kunstästhetische Prin¬
zipien: die eindeutige, nicht zu verkennende
Offenbarung einer bestimmten Gestalt ist das
Wertvolle, auch wenn die Gestalt weder an
sich schön ist, noch als die treffende, charak¬
teristische Darstellung eines natürlichen Vor¬
wurfes erscheint, und die tieferen Gründe
des Wohlgefallens an Kunstwerken, die frei¬
lich je nach der Gattung der Werke ganz
verschiedenen Bereichen angehören, hier die
Treue der Darstellung, dort der direkte For¬
menreiz, noch anderswo die unmittelbar auf¬
gefaßte Zweckmäßigkeit usw., werden bei dieser
Betrachtungsweise ignoriert, die eigentlichen
ästhetischen Faktoren also ausgeschaltet. Wie
es aber Cornelius unterläßt, die Technik der
Produktion von Gestalten, welche aus irgend¬
einem Grunde künstlerischen Reiz haben, von
eben diesen: Grunde zu sondern, so verschlägt
es ihm auch nichts, ob die Raumbilder, welche
die Kunst hervorruft, bloß geschickte Täu¬
schungen sind, wie z. B. der Eindruck man¬
cher architektonischer Bildungen, welcher ab¬
sichtlich von den objektiven Raumverhältnissen
der Werke nichr oder weniger differiert,
und wie gar das Raumbild der Gemälde¬
figuren, wo erst die Phantasie das zur tat¬
sächlichen Gleichheit mit dem gemalten Gegen¬
stande in räumlicher Beziehung Fehlende er¬
gänzen muß, oder ob einfach die Anschauung
der Form, welche das Kunstwerk als realer

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Gegenstand besitzt, auch im Beschauer erweckt
werden soll. Diese Andeutungen müssen ge¬
nügen, auf das Bedenkliche in manchen Lehren
von Cornelius hinzuweisen, dessen Buch trotz
alledem zu den interessantesten und lesens¬
wertesten Erscheinungen unserer ästhetischen
Literatur zählt.

Prof. Dr. Hugo spitze
Vom Schauspieler.

Das Verhältnis zwi¬
schen Dichter und Darsteller ist beim Theater
nicht immer das beste. Hat ein Stück Erfolg,
so liegt das am Stück, d. h, der Erfolg ist
das Verdienst des Dichters, fällt es durch,
haben es die Schauspieler in Grund und
Boden gespielt. In jenem Falle gibt der
Autor gnädig zu, daß die Darstellung unter der
"bewährten Leitung"desbetreffenden Regisseurs
den Erfolg mit herbeigeführt haben könne,
und spendet Darstellern und Leiter Körnchen
oder Scheffel Lobes, je nachdem. Der Ver¬
fasser eines durchgefallenen Stückes bedankt
sich Wohl nur selten für die "vorzügliche" Dar¬
stellung. Umgekehrt denken und reden die
Schauspieler; einen Erfolg haben sie gemacht,
einen Durchfall hat der Dichter verschuldet:
"Ich Hab's ja gleich gesagt, das war ja vor¬
auszusehen." Wo es doch beim Theater immer
"anders" kommt, und niemand weniger Kritik
hat als der Schauspieler! -- Woher dieser
Gegensatz, dieses oft recht unerquickliche Ver¬
hältnis? Etwa daher, daß Dichter und Dar¬
steller verschieden zum Theater stehen, nicht
dasselbe suchen, und nicht immer jeder das
Seine findet? Ist das Theater als Begriff
und als Wirklichkeit um der Dichter oder um
der Schauspieler willen da? Ich behaupte,
seinein Wesen nach um der Schauspieler willen,
und muß versuchen, diese Behauptung zu be¬
gründen.

Die eigentümliche Aufgabe des Schau¬
spielers ist, kurz gesagt, die: aus zweien eins
zu machen. -- Eins machen, eine Einheit, ein
Ganzes schaffen, soll doch aber jede Kunst?
Freilich, aber kein Komponist z.B., kein Dichter,
kein Bildhauer, kein Maler usw. bildet mit
seiner greifbaren Körperlichkeit einen wesent¬
lichen, ja den wesentlichsten Teil jenes einheit¬
lichen Ganzen, das als Kunstwerk des Ohren¬
oder Augenscheins hörbar oder sehvar werden
soll. Musiknoten sind willkürliche, sinnbild¬
liche Zeichen, und das in ihnen geschriebene

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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verändert festhält und gleichwohl oder vielmehr
gerade durch Erfüllung dieser „Ansichtsforde¬
rung" der höchsten ästhetischen Wirkung teil¬
haftig wird.

Diese bedeutsamen Hauptideen, in welchen
jedenfalls ein nicht zu unterschätzender Wahr¬
heitskern steckt, heben sich nun bei Cornelius
von dem Hintergrunde noch weitergehender,
aber auch in viel höherem Maße anfechtbarer
Vorstellungen ab. Weil ein und derselbe
Gegenstand sehr vcrschiedenwertige Ansichten,
gute und sofort über seine Raumform orien¬
tierende wie schlechte, verzerrte und irreführende
gewähren kann, sieht der Verfasser die wahre
Aufgabe der bildenden Kunst darin, uns glück¬
lichere Bilder oder Gestalteindrücke von den
Dingen zu verschaffen, als die zufällige Be¬
gegnung in der Wirklichkeit häufig darbietet.
Auf diese Art verwandeln sich die im Grunde
bloß technischen Regeln der Schilderung räum¬
licher Formen in letzte kunstästhetische Prin¬
zipien: die eindeutige, nicht zu verkennende
Offenbarung einer bestimmten Gestalt ist das
Wertvolle, auch wenn die Gestalt weder an
sich schön ist, noch als die treffende, charak¬
teristische Darstellung eines natürlichen Vor¬
wurfes erscheint, und die tieferen Gründe
des Wohlgefallens an Kunstwerken, die frei¬
lich je nach der Gattung der Werke ganz
verschiedenen Bereichen angehören, hier die
Treue der Darstellung, dort der direkte For¬
menreiz, noch anderswo die unmittelbar auf¬
gefaßte Zweckmäßigkeit usw., werden bei dieser
Betrachtungsweise ignoriert, die eigentlichen
ästhetischen Faktoren also ausgeschaltet. Wie
es aber Cornelius unterläßt, die Technik der
Produktion von Gestalten, welche aus irgend¬
einem Grunde künstlerischen Reiz haben, von
eben diesen: Grunde zu sondern, so verschlägt
es ihm auch nichts, ob die Raumbilder, welche
die Kunst hervorruft, bloß geschickte Täu¬
schungen sind, wie z. B. der Eindruck man¬
cher architektonischer Bildungen, welcher ab¬
sichtlich von den objektiven Raumverhältnissen
der Werke nichr oder weniger differiert,
und wie gar das Raumbild der Gemälde¬
figuren, wo erst die Phantasie das zur tat¬
sächlichen Gleichheit mit dem gemalten Gegen¬
stande in räumlicher Beziehung Fehlende er¬
gänzen muß, oder ob einfach die Anschauung
der Form, welche das Kunstwerk als realer

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Gegenstand besitzt, auch im Beschauer erweckt
werden soll. Diese Andeutungen müssen ge¬
nügen, auf das Bedenkliche in manchen Lehren
von Cornelius hinzuweisen, dessen Buch trotz
alledem zu den interessantesten und lesens¬
wertesten Erscheinungen unserer ästhetischen
Literatur zählt.

Prof. Dr. Hugo spitze
Vom Schauspieler.

Das Verhältnis zwi¬
schen Dichter und Darsteller ist beim Theater
nicht immer das beste. Hat ein Stück Erfolg,
so liegt das am Stück, d. h, der Erfolg ist
das Verdienst des Dichters, fällt es durch,
haben es die Schauspieler in Grund und
Boden gespielt. In jenem Falle gibt der
Autor gnädig zu, daß die Darstellung unter der
„bewährten Leitung"desbetreffenden Regisseurs
den Erfolg mit herbeigeführt haben könne,
und spendet Darstellern und Leiter Körnchen
oder Scheffel Lobes, je nachdem. Der Ver¬
fasser eines durchgefallenen Stückes bedankt
sich Wohl nur selten für die „vorzügliche" Dar¬
stellung. Umgekehrt denken und reden die
Schauspieler; einen Erfolg haben sie gemacht,
einen Durchfall hat der Dichter verschuldet:
„Ich Hab's ja gleich gesagt, das war ja vor¬
auszusehen." Wo es doch beim Theater immer
„anders" kommt, und niemand weniger Kritik
hat als der Schauspieler! — Woher dieser
Gegensatz, dieses oft recht unerquickliche Ver¬
hältnis? Etwa daher, daß Dichter und Dar¬
steller verschieden zum Theater stehen, nicht
dasselbe suchen, und nicht immer jeder das
Seine findet? Ist das Theater als Begriff
und als Wirklichkeit um der Dichter oder um
der Schauspieler willen da? Ich behaupte,
seinein Wesen nach um der Schauspieler willen,
und muß versuchen, diese Behauptung zu be¬
gründen.

Die eigentümliche Aufgabe des Schau¬
spielers ist, kurz gesagt, die: aus zweien eins
zu machen. — Eins machen, eine Einheit, ein
Ganzes schaffen, soll doch aber jede Kunst?
Freilich, aber kein Komponist z.B., kein Dichter,
kein Bildhauer, kein Maler usw. bildet mit
seiner greifbaren Körperlichkeit einen wesent¬
lichen, ja den wesentlichsten Teil jenes einheit¬
lichen Ganzen, das als Kunstwerk des Ohren¬
oder Augenscheins hörbar oder sehvar werden
soll. Musiknoten sind willkürliche, sinnbild¬
liche Zeichen, und das in ihnen geschriebene

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[0645] Maßgebliches und Unmaßgebliches verändert festhält und gleichwohl oder vielmehr gerade durch Erfüllung dieser „Ansichtsforde¬ rung" der höchsten ästhetischen Wirkung teil¬ haftig wird. Diese bedeutsamen Hauptideen, in welchen jedenfalls ein nicht zu unterschätzender Wahr¬ heitskern steckt, heben sich nun bei Cornelius von dem Hintergrunde noch weitergehender, aber auch in viel höherem Maße anfechtbarer Vorstellungen ab. Weil ein und derselbe Gegenstand sehr vcrschiedenwertige Ansichten, gute und sofort über seine Raumform orien¬ tierende wie schlechte, verzerrte und irreführende gewähren kann, sieht der Verfasser die wahre Aufgabe der bildenden Kunst darin, uns glück¬ lichere Bilder oder Gestalteindrücke von den Dingen zu verschaffen, als die zufällige Be¬ gegnung in der Wirklichkeit häufig darbietet. Auf diese Art verwandeln sich die im Grunde bloß technischen Regeln der Schilderung räum¬ licher Formen in letzte kunstästhetische Prin¬ zipien: die eindeutige, nicht zu verkennende Offenbarung einer bestimmten Gestalt ist das Wertvolle, auch wenn die Gestalt weder an sich schön ist, noch als die treffende, charak¬ teristische Darstellung eines natürlichen Vor¬ wurfes erscheint, und die tieferen Gründe des Wohlgefallens an Kunstwerken, die frei¬ lich je nach der Gattung der Werke ganz verschiedenen Bereichen angehören, hier die Treue der Darstellung, dort der direkte For¬ menreiz, noch anderswo die unmittelbar auf¬ gefaßte Zweckmäßigkeit usw., werden bei dieser Betrachtungsweise ignoriert, die eigentlichen ästhetischen Faktoren also ausgeschaltet. Wie es aber Cornelius unterläßt, die Technik der Produktion von Gestalten, welche aus irgend¬ einem Grunde künstlerischen Reiz haben, von eben diesen: Grunde zu sondern, so verschlägt es ihm auch nichts, ob die Raumbilder, welche die Kunst hervorruft, bloß geschickte Täu¬ schungen sind, wie z. B. der Eindruck man¬ cher architektonischer Bildungen, welcher ab¬ sichtlich von den objektiven Raumverhältnissen der Werke nichr oder weniger differiert, und wie gar das Raumbild der Gemälde¬ figuren, wo erst die Phantasie das zur tat¬ sächlichen Gleichheit mit dem gemalten Gegen¬ stande in räumlicher Beziehung Fehlende er¬ gänzen muß, oder ob einfach die Anschauung der Form, welche das Kunstwerk als realer Gegenstand besitzt, auch im Beschauer erweckt werden soll. Diese Andeutungen müssen ge¬ nügen, auf das Bedenkliche in manchen Lehren von Cornelius hinzuweisen, dessen Buch trotz alledem zu den interessantesten und lesens¬ wertesten Erscheinungen unserer ästhetischen Literatur zählt. Prof. Dr. Hugo spitze Vom Schauspieler. Das Verhältnis zwi¬ schen Dichter und Darsteller ist beim Theater nicht immer das beste. Hat ein Stück Erfolg, so liegt das am Stück, d. h, der Erfolg ist das Verdienst des Dichters, fällt es durch, haben es die Schauspieler in Grund und Boden gespielt. In jenem Falle gibt der Autor gnädig zu, daß die Darstellung unter der „bewährten Leitung"desbetreffenden Regisseurs den Erfolg mit herbeigeführt haben könne, und spendet Darstellern und Leiter Körnchen oder Scheffel Lobes, je nachdem. Der Ver¬ fasser eines durchgefallenen Stückes bedankt sich Wohl nur selten für die „vorzügliche" Dar¬ stellung. Umgekehrt denken und reden die Schauspieler; einen Erfolg haben sie gemacht, einen Durchfall hat der Dichter verschuldet: „Ich Hab's ja gleich gesagt, das war ja vor¬ auszusehen." Wo es doch beim Theater immer „anders" kommt, und niemand weniger Kritik hat als der Schauspieler! — Woher dieser Gegensatz, dieses oft recht unerquickliche Ver¬ hältnis? Etwa daher, daß Dichter und Dar¬ steller verschieden zum Theater stehen, nicht dasselbe suchen, und nicht immer jeder das Seine findet? Ist das Theater als Begriff und als Wirklichkeit um der Dichter oder um der Schauspieler willen da? Ich behaupte, seinein Wesen nach um der Schauspieler willen, und muß versuchen, diese Behauptung zu be¬ gründen. Die eigentümliche Aufgabe des Schau¬ spielers ist, kurz gesagt, die: aus zweien eins zu machen. — Eins machen, eine Einheit, ein Ganzes schaffen, soll doch aber jede Kunst? Freilich, aber kein Komponist z.B., kein Dichter, kein Bildhauer, kein Maler usw. bildet mit seiner greifbaren Körperlichkeit einen wesent¬ lichen, ja den wesentlichsten Teil jenes einheit¬ lichen Ganzen, das als Kunstwerk des Ohren¬ oder Augenscheins hörbar oder sehvar werden soll. Musiknoten sind willkürliche, sinnbild¬ liche Zeichen, und das in ihnen geschriebene

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/645>, abgerufen am 18.05.2024.