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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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zwar zu sehr verschiedenen Zeiten erschienen
waren, zu einem starken Bande vereinigt
(Kleine Schriften, Band I, Verlag von
Wilhelm Engelmann in Leipzig, 1910), der
nicht bloß eine Wiedergabe dessen, was
schon einmal geboten wurde, sondern viel¬
mehr eine sehr erhebliche Neubearbeitung
der einzelnen Aufsätze darstellt, so daß in
einigen von ihnen das Neue mehr Raum
einnimmt als das Alte. So ist zum Beispiel
die bedeutsame Arbeit über naiven und kri¬
tischen Realismus, die Wundt 1836 in seiner
Zeitschrift "Philosophische Studien" zum ersten¬
mal veröffentlichte, von rund hundert auf zwei¬
hundertfunfzig Seiten angeschwollen. Daß
Wundt auf die Ausarbeitung der gerade in
dieser Abhandlung niedergelegten Gedanken
besondere Mühe verwendet hat, ist in An¬
betracht des Gegenstandes, der zur Erörterung
steht, sicher begreiflich, spielt doch die soge¬
nannte immanente Philosophie und der Em¬
piriokritizismus, mit denen Wundt sich hier
eingehend auseinandersetzt, im philosophischen
Denken der Gegenwart keine geringe Rolle.
Wenn Wundt diesen Erkenntnistheorien gegen¬
über auch eine ablehnende Haltung einnimmt,
so sieht er in ihnen dennoch verdienstliche
Leistungen, "weil es eben nun einmal die
Bestimmung der Philosophie ist, daß sie auch
da, wo bestimmte, irgendwie geschichtlich mo¬
tivierte Bedingungen des Denkens zu Irr¬
tümern verführen, die Folgerungen mit rück¬
sichtsloser Konsequenz ziehe, um damit indirekt
wieder der Wahrheit zu dienen." Wer den
Ansichten von Schuppe, R. von Schubert-
Soldern, Avenarius oder Mach gegenüber
nicht zur Selbständigkeit vorgedrungen ist,
wird zur Beurteilung jener Forscher bei Wundt
reichliche Belehrung und Anregung finden und
überdies den Meister selbst besser kennen lernen,
da es ihm neben der Widerlegung ihm irrig
scheinender Ansichten mehr noch darauf an¬
kommt, eigene Anschauungen klarer als es
bisher geschehen ist zu entwickeln und Mi߬
verständnisse, denen sie begegnet sind, zu be¬
seitigen.

Der für diesen Band neu geschriebene Auf¬
satz handelt vom "Psychologismus und Logi-
zismus", die älteren Abhandlungen erörtern
das "kosmologische Problem", "Kants kosmo-
logische Antinomien und das Problem des

[Spaltenumbruch]

Unendlichen," und "was uns Kant nicht sein
soll", an die sich kurze Ausführungen "Zur
Geschichte und Theorie der abstrakten Begriffe"
anschließen. Der sechshundertvierzig Seiten
starke Band bezeugt in beredter Weise die
großartige Schwungkraft des nie rastenden
Geistes Wundes, dem an Großzügigkeit in der
Forschung Wohl keiner seiner Fachgenossen
gleichsteht. DieLektüre der "Kleinen Schriften"
ist aber nur denen zu empfehlen, die Willens
sind, in ernstem Bemühen um philosophische
Erkenntnis zu ringen.

Ul. K.
Emile Boutroux,

der Nestor der fran¬
zösischen Philosophen, ist der Vertreter eines
Denkens, das sich von dem strengen Deter¬
minismus der exakten Wissenschaften abwendet,
ohne den Ergebnissen derselben untren zu
werden. Boutroux folgert gerade aus diesen
Ergebnissen, daß eine Erscheinung keineswegs
durch die andere bedingt ist, sondern daß Er-
scheinungskomplexe sich gegenübertreten, deren
innere Gesetze in unserer mathematisch-logi¬
schen Formulierung bloß kontingent sind, das
heißt, daß die Gesetze innerhalb dieser Gruppen
auch andere sein können, als sie uns erscheinen.
So wird die Kontinuität des Denkens als
Prinzip des Weltbildes aufgehoben. Boutroux'
Vorgänger in dieser Diskvntinuitätsphilosophie
ist sein Landsmann Renouvier, der sich von
Comte abzweigt. Boutroux' Hauptwerke heißen
"Oe is LvntinAenee 6Sö lois alö la nature"
und "Oe l'ictee nie loi naturelle". Seine
Grundgedanken sind in Deutschland bereits
von Boelitz kritisch beleuchtet; jetzt liegt ein
jüngstes Werk des Meisters "Wissenschaft und
Religion in der Philosophie unserer Zeit"
in deutscher Übersetzung von Emilie Weber vor,
mit einen:Einführungswort von Prof. H. Holtz-
mann (Verlag von Teubner, Leipzig und Berlin,
Sammlung "Wissenschaft und Hypothese").
Boutroux' eigene Stellung zu diesem Problem
steht am Schlüsse des Buches; sie ergibt sich
aus der Anwendung seines eben erörterten
Prinzipes auf diese beiden Sondergebiete.
Boutroux beweist ihre logische Inkommen-
surabilität, um das ganze Problem dann seiner
inneren Berechtigung zu entkleiden und ledig¬
lich als Machtfrage fortbestehen zu lassen, deren
Lösung nur im Unendlichen zu erwarten ist.
Hier fallen denn viele Beobachtungen voraus-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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zwar zu sehr verschiedenen Zeiten erschienen
waren, zu einem starken Bande vereinigt
(Kleine Schriften, Band I, Verlag von
Wilhelm Engelmann in Leipzig, 1910), der
nicht bloß eine Wiedergabe dessen, was
schon einmal geboten wurde, sondern viel¬
mehr eine sehr erhebliche Neubearbeitung
der einzelnen Aufsätze darstellt, so daß in
einigen von ihnen das Neue mehr Raum
einnimmt als das Alte. So ist zum Beispiel
die bedeutsame Arbeit über naiven und kri¬
tischen Realismus, die Wundt 1836 in seiner
Zeitschrift „Philosophische Studien" zum ersten¬
mal veröffentlichte, von rund hundert auf zwei¬
hundertfunfzig Seiten angeschwollen. Daß
Wundt auf die Ausarbeitung der gerade in
dieser Abhandlung niedergelegten Gedanken
besondere Mühe verwendet hat, ist in An¬
betracht des Gegenstandes, der zur Erörterung
steht, sicher begreiflich, spielt doch die soge¬
nannte immanente Philosophie und der Em¬
piriokritizismus, mit denen Wundt sich hier
eingehend auseinandersetzt, im philosophischen
Denken der Gegenwart keine geringe Rolle.
Wenn Wundt diesen Erkenntnistheorien gegen¬
über auch eine ablehnende Haltung einnimmt,
so sieht er in ihnen dennoch verdienstliche
Leistungen, „weil es eben nun einmal die
Bestimmung der Philosophie ist, daß sie auch
da, wo bestimmte, irgendwie geschichtlich mo¬
tivierte Bedingungen des Denkens zu Irr¬
tümern verführen, die Folgerungen mit rück¬
sichtsloser Konsequenz ziehe, um damit indirekt
wieder der Wahrheit zu dienen." Wer den
Ansichten von Schuppe, R. von Schubert-
Soldern, Avenarius oder Mach gegenüber
nicht zur Selbständigkeit vorgedrungen ist,
wird zur Beurteilung jener Forscher bei Wundt
reichliche Belehrung und Anregung finden und
überdies den Meister selbst besser kennen lernen,
da es ihm neben der Widerlegung ihm irrig
scheinender Ansichten mehr noch darauf an¬
kommt, eigene Anschauungen klarer als es
bisher geschehen ist zu entwickeln und Mi߬
verständnisse, denen sie begegnet sind, zu be¬
seitigen.

Der für diesen Band neu geschriebene Auf¬
satz handelt vom „Psychologismus und Logi-
zismus", die älteren Abhandlungen erörtern
das „kosmologische Problem", „Kants kosmo-
logische Antinomien und das Problem des

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Unendlichen," und „was uns Kant nicht sein
soll", an die sich kurze Ausführungen „Zur
Geschichte und Theorie der abstrakten Begriffe"
anschließen. Der sechshundertvierzig Seiten
starke Band bezeugt in beredter Weise die
großartige Schwungkraft des nie rastenden
Geistes Wundes, dem an Großzügigkeit in der
Forschung Wohl keiner seiner Fachgenossen
gleichsteht. DieLektüre der „Kleinen Schriften"
ist aber nur denen zu empfehlen, die Willens
sind, in ernstem Bemühen um philosophische
Erkenntnis zu ringen.

Ul. K.
Emile Boutroux,

der Nestor der fran¬
zösischen Philosophen, ist der Vertreter eines
Denkens, das sich von dem strengen Deter¬
minismus der exakten Wissenschaften abwendet,
ohne den Ergebnissen derselben untren zu
werden. Boutroux folgert gerade aus diesen
Ergebnissen, daß eine Erscheinung keineswegs
durch die andere bedingt ist, sondern daß Er-
scheinungskomplexe sich gegenübertreten, deren
innere Gesetze in unserer mathematisch-logi¬
schen Formulierung bloß kontingent sind, das
heißt, daß die Gesetze innerhalb dieser Gruppen
auch andere sein können, als sie uns erscheinen.
So wird die Kontinuität des Denkens als
Prinzip des Weltbildes aufgehoben. Boutroux'
Vorgänger in dieser Diskvntinuitätsphilosophie
ist sein Landsmann Renouvier, der sich von
Comte abzweigt. Boutroux' Hauptwerke heißen
„Oe is LvntinAenee 6Sö lois alö la nature"
und „Oe l'ictee nie loi naturelle". Seine
Grundgedanken sind in Deutschland bereits
von Boelitz kritisch beleuchtet; jetzt liegt ein
jüngstes Werk des Meisters „Wissenschaft und
Religion in der Philosophie unserer Zeit"
in deutscher Übersetzung von Emilie Weber vor,
mit einen:Einführungswort von Prof. H. Holtz-
mann (Verlag von Teubner, Leipzig und Berlin,
Sammlung „Wissenschaft und Hypothese").
Boutroux' eigene Stellung zu diesem Problem
steht am Schlüsse des Buches; sie ergibt sich
aus der Anwendung seines eben erörterten
Prinzipes auf diese beiden Sondergebiete.
Boutroux beweist ihre logische Inkommen-
surabilität, um das ganze Problem dann seiner
inneren Berechtigung zu entkleiden und ledig¬
lich als Machtfrage fortbestehen zu lassen, deren
Lösung nur im Unendlichen zu erwarten ist.
Hier fallen denn viele Beobachtungen voraus-

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[0198] Maßgebliches und Unmaßgebliches zwar zu sehr verschiedenen Zeiten erschienen waren, zu einem starken Bande vereinigt (Kleine Schriften, Band I, Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig, 1910), der nicht bloß eine Wiedergabe dessen, was schon einmal geboten wurde, sondern viel¬ mehr eine sehr erhebliche Neubearbeitung der einzelnen Aufsätze darstellt, so daß in einigen von ihnen das Neue mehr Raum einnimmt als das Alte. So ist zum Beispiel die bedeutsame Arbeit über naiven und kri¬ tischen Realismus, die Wundt 1836 in seiner Zeitschrift „Philosophische Studien" zum ersten¬ mal veröffentlichte, von rund hundert auf zwei¬ hundertfunfzig Seiten angeschwollen. Daß Wundt auf die Ausarbeitung der gerade in dieser Abhandlung niedergelegten Gedanken besondere Mühe verwendet hat, ist in An¬ betracht des Gegenstandes, der zur Erörterung steht, sicher begreiflich, spielt doch die soge¬ nannte immanente Philosophie und der Em¬ piriokritizismus, mit denen Wundt sich hier eingehend auseinandersetzt, im philosophischen Denken der Gegenwart keine geringe Rolle. Wenn Wundt diesen Erkenntnistheorien gegen¬ über auch eine ablehnende Haltung einnimmt, so sieht er in ihnen dennoch verdienstliche Leistungen, „weil es eben nun einmal die Bestimmung der Philosophie ist, daß sie auch da, wo bestimmte, irgendwie geschichtlich mo¬ tivierte Bedingungen des Denkens zu Irr¬ tümern verführen, die Folgerungen mit rück¬ sichtsloser Konsequenz ziehe, um damit indirekt wieder der Wahrheit zu dienen." Wer den Ansichten von Schuppe, R. von Schubert- Soldern, Avenarius oder Mach gegenüber nicht zur Selbständigkeit vorgedrungen ist, wird zur Beurteilung jener Forscher bei Wundt reichliche Belehrung und Anregung finden und überdies den Meister selbst besser kennen lernen, da es ihm neben der Widerlegung ihm irrig scheinender Ansichten mehr noch darauf an¬ kommt, eigene Anschauungen klarer als es bisher geschehen ist zu entwickeln und Mi߬ verständnisse, denen sie begegnet sind, zu be¬ seitigen. Der für diesen Band neu geschriebene Auf¬ satz handelt vom „Psychologismus und Logi- zismus", die älteren Abhandlungen erörtern das „kosmologische Problem", „Kants kosmo- logische Antinomien und das Problem des Unendlichen," und „was uns Kant nicht sein soll", an die sich kurze Ausführungen „Zur Geschichte und Theorie der abstrakten Begriffe" anschließen. Der sechshundertvierzig Seiten starke Band bezeugt in beredter Weise die großartige Schwungkraft des nie rastenden Geistes Wundes, dem an Großzügigkeit in der Forschung Wohl keiner seiner Fachgenossen gleichsteht. DieLektüre der „Kleinen Schriften" ist aber nur denen zu empfehlen, die Willens sind, in ernstem Bemühen um philosophische Erkenntnis zu ringen. Ul. K. Emile Boutroux, der Nestor der fran¬ zösischen Philosophen, ist der Vertreter eines Denkens, das sich von dem strengen Deter¬ minismus der exakten Wissenschaften abwendet, ohne den Ergebnissen derselben untren zu werden. Boutroux folgert gerade aus diesen Ergebnissen, daß eine Erscheinung keineswegs durch die andere bedingt ist, sondern daß Er- scheinungskomplexe sich gegenübertreten, deren innere Gesetze in unserer mathematisch-logi¬ schen Formulierung bloß kontingent sind, das heißt, daß die Gesetze innerhalb dieser Gruppen auch andere sein können, als sie uns erscheinen. So wird die Kontinuität des Denkens als Prinzip des Weltbildes aufgehoben. Boutroux' Vorgänger in dieser Diskvntinuitätsphilosophie ist sein Landsmann Renouvier, der sich von Comte abzweigt. Boutroux' Hauptwerke heißen „Oe is LvntinAenee 6Sö lois alö la nature" und „Oe l'ictee nie loi naturelle". Seine Grundgedanken sind in Deutschland bereits von Boelitz kritisch beleuchtet; jetzt liegt ein jüngstes Werk des Meisters „Wissenschaft und Religion in der Philosophie unserer Zeit" in deutscher Übersetzung von Emilie Weber vor, mit einen:Einführungswort von Prof. H. Holtz- mann (Verlag von Teubner, Leipzig und Berlin, Sammlung „Wissenschaft und Hypothese"). Boutroux' eigene Stellung zu diesem Problem steht am Schlüsse des Buches; sie ergibt sich aus der Anwendung seines eben erörterten Prinzipes auf diese beiden Sondergebiete. Boutroux beweist ihre logische Inkommen- surabilität, um das ganze Problem dann seiner inneren Berechtigung zu entkleiden und ledig¬ lich als Machtfrage fortbestehen zu lassen, deren Lösung nur im Unendlichen zu erwarten ist. Hier fallen denn viele Beobachtungen voraus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/198>, abgerufen am 05.05.2024.