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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

setzungsloser Weisheit ab, so wenn er das
Positive der Religion als wirkliches Leben
dreifach offenbart sieht: als Glauben, der an¬
nimmt und selbst Höheres schafft, als Vor¬
stellung eines Ideals, die durch den Glauben
erst geschaffen wird, und schließlich als die
Begeisterung, die in der Aneignung des Ideals
erfahren und gesteigert wird. Anderseits wird
doch die souveräne Art, die das Religiöse
lediglich als Geist betrachtet und die sym¬
bolischen Formen vernachlässigen zu dürfen
glaubt, schon innerhalb von Boutroux' eigenem
Gedankenkreis Anstosz erregen müssen. Bou¬
troux' Denken überhaupt kann nur als Ganzes
angenommen oder abgelehnt werden, je nach¬
dem die Aufgabe der Philosophie im Mosaik
der Einfälle oder in der Einheit des Systemes
gesucht wird. Den Hauptinhalt des Buches
bildet eine Revue über die zeitgenössischen
Philosophen in ihrer Stellung zu dem Pro¬
bleme des Verhältnisses von Wissenschaft und
Religion. Ausgehend von Kants Dualismus,
den er mit dem Worte: "Gebt dem Kaiser,
was des Kaisers ist..." illustriert, scheidet
er eine naturalistische und spiritualistische Reihe
von Philosophen, innerhalb deren sich über die
Auswahl streiten läßt. Aber indem Boutroux
die verschiedenen Systeme kritisch darstellt, um
dadurch seinen eigenen Standpunkt vorzu¬
bereiten, wird die große Übersicht nur dem
fruchtbar, der gewillt ist, sich am Schlüsse des
Buches von ihm bekehren zu lassen. Daher
interessiert das Werk weniger durch sein Thema,
als weil es die erlesene Bekanntschaft mit
einem unabhängigen Denker vermittelt. Diese
freilich wird uns durch die Eigenart der Dar¬
stellung erschwert, deren Lebhaftigkeit oft ans
Forensische gemahnt, und die auch in der- zu¬
verlässigen deutschen Übersetzung so flimmernd
erscheint, daß ich nicht nur der Terminologie
wegen ständig das Original zu Hilfe ziehen
Dr. Wilhelm Böhm- mußte.

Philosophie des Organischen.

Gifford-
Vorlesungcn, gehalten an der Universität
Aberdeen in den Jahren 1907 und 1908 von
Hans Driesch - Heidelberg. 2 Bände. Leipzig,
Engelmann, 1909.

[Spaltenumbruch]

188S stiftete Lord Gifford für jede schottische
Universität einen außerordentlichen Lehrstuhl
für "natürliche Theologie im weitesten Sinne
des Wortes", der zu Gastkursen vergeben
wird, ganz ohne Rücksicht auf Stellung,
Nationalität und Konfession; er kann sogar
auch an Männer "ot no reliZion", an Skep¬
tiker, Agnostiker und Freidenker vergeben
Werden, wenn diese "sincere lovsrs ok frei
oarnest inquirers siter erndt" sind. Als
solcher rechtfertigt sich Driesch zweifellos mit
seiner "Philosophie des Organischen", in der
er seine bisherigen Arbeiten über das Orga¬
nische zusammenfaßt. Er fühlt sich als einen
Gegner des "seichten Popularmonismus
unserer Tage", indem er der Nnturwissen-
schaft unmittelbar metaphysische Grundlagen
sichern will. Sein Verfahren ist induktiv, und
sein Ausgangspunkt die ihm zunächst vertraute
Biologie, als deren eine Form er auch die
menschliche Geschichte begreift. Aus unend¬
lichen lehrreichen biologischen Einzelheiten
wird ein Prinzip des Organischen gefunden,
die Entelechie, in der organisches Geschehen
und introspektive Erfahrung identisch sind.
Nicht anders sind die Kategorien der Entelechie
zwiefach orientiert, sofern sie zwar vom tätigen
Subjekt nicht erschaffbar sind, aber doch durch
seine introspektive Erfahrung geweckt werden.
So stellt Driesch, auf den Bahnen Aristoteles',
Schellings, E. v. Hartmanns wandelnd, das
denkende Ich in die Materie hinein; aber
wenn die Vorläufer Systematiker waren, die
ein umfassendes Weltbild konstruierten, so muß
dem induktiven Biologen die Notwendigkeit,
über daS Organische hinauszugehen, zum
Prüfstein werden. Hier gesteht er selbst, daß
die Fenster, durch die er ins Absolute zu
blicken vermag, Fenster "von mattem Glase"
sind. So lange er also hier nicht den Weg
ins Freie zu zeigen weiß, wird er den Er¬
kenntnistheoretiker, trotz seiner Bundesgenossen¬
schaft gegen die Mach und Ostwald, kaum
veranlassen, elementare Begriffe gegen eine
erdrückende Fülle von Anschauungen preiszu¬
geben, deren Genuß er übrigens durch eine
reichlich scholastische Terminologie erschwert.

Dr. Wilhelm Böhm- [Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

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setzungsloser Weisheit ab, so wenn er das
Positive der Religion als wirkliches Leben
dreifach offenbart sieht: als Glauben, der an¬
nimmt und selbst Höheres schafft, als Vor¬
stellung eines Ideals, die durch den Glauben
erst geschaffen wird, und schließlich als die
Begeisterung, die in der Aneignung des Ideals
erfahren und gesteigert wird. Anderseits wird
doch die souveräne Art, die das Religiöse
lediglich als Geist betrachtet und die sym¬
bolischen Formen vernachlässigen zu dürfen
glaubt, schon innerhalb von Boutroux' eigenem
Gedankenkreis Anstosz erregen müssen. Bou¬
troux' Denken überhaupt kann nur als Ganzes
angenommen oder abgelehnt werden, je nach¬
dem die Aufgabe der Philosophie im Mosaik
der Einfälle oder in der Einheit des Systemes
gesucht wird. Den Hauptinhalt des Buches
bildet eine Revue über die zeitgenössischen
Philosophen in ihrer Stellung zu dem Pro¬
bleme des Verhältnisses von Wissenschaft und
Religion. Ausgehend von Kants Dualismus,
den er mit dem Worte: „Gebt dem Kaiser,
was des Kaisers ist..." illustriert, scheidet
er eine naturalistische und spiritualistische Reihe
von Philosophen, innerhalb deren sich über die
Auswahl streiten läßt. Aber indem Boutroux
die verschiedenen Systeme kritisch darstellt, um
dadurch seinen eigenen Standpunkt vorzu¬
bereiten, wird die große Übersicht nur dem
fruchtbar, der gewillt ist, sich am Schlüsse des
Buches von ihm bekehren zu lassen. Daher
interessiert das Werk weniger durch sein Thema,
als weil es die erlesene Bekanntschaft mit
einem unabhängigen Denker vermittelt. Diese
freilich wird uns durch die Eigenart der Dar¬
stellung erschwert, deren Lebhaftigkeit oft ans
Forensische gemahnt, und die auch in der- zu¬
verlässigen deutschen Übersetzung so flimmernd
erscheint, daß ich nicht nur der Terminologie
wegen ständig das Original zu Hilfe ziehen
Dr. Wilhelm Böhm- mußte.

Philosophie des Organischen.

Gifford-
Vorlesungcn, gehalten an der Universität
Aberdeen in den Jahren 1907 und 1908 von
Hans Driesch - Heidelberg. 2 Bände. Leipzig,
Engelmann, 1909.

[Spaltenumbruch]

188S stiftete Lord Gifford für jede schottische
Universität einen außerordentlichen Lehrstuhl
für „natürliche Theologie im weitesten Sinne
des Wortes", der zu Gastkursen vergeben
wird, ganz ohne Rücksicht auf Stellung,
Nationalität und Konfession; er kann sogar
auch an Männer „ot no reliZion", an Skep¬
tiker, Agnostiker und Freidenker vergeben
Werden, wenn diese „sincere lovsrs ok frei
oarnest inquirers siter erndt" sind. Als
solcher rechtfertigt sich Driesch zweifellos mit
seiner „Philosophie des Organischen", in der
er seine bisherigen Arbeiten über das Orga¬
nische zusammenfaßt. Er fühlt sich als einen
Gegner des „seichten Popularmonismus
unserer Tage", indem er der Nnturwissen-
schaft unmittelbar metaphysische Grundlagen
sichern will. Sein Verfahren ist induktiv, und
sein Ausgangspunkt die ihm zunächst vertraute
Biologie, als deren eine Form er auch die
menschliche Geschichte begreift. Aus unend¬
lichen lehrreichen biologischen Einzelheiten
wird ein Prinzip des Organischen gefunden,
die Entelechie, in der organisches Geschehen
und introspektive Erfahrung identisch sind.
Nicht anders sind die Kategorien der Entelechie
zwiefach orientiert, sofern sie zwar vom tätigen
Subjekt nicht erschaffbar sind, aber doch durch
seine introspektive Erfahrung geweckt werden.
So stellt Driesch, auf den Bahnen Aristoteles',
Schellings, E. v. Hartmanns wandelnd, das
denkende Ich in die Materie hinein; aber
wenn die Vorläufer Systematiker waren, die
ein umfassendes Weltbild konstruierten, so muß
dem induktiven Biologen die Notwendigkeit,
über daS Organische hinauszugehen, zum
Prüfstein werden. Hier gesteht er selbst, daß
die Fenster, durch die er ins Absolute zu
blicken vermag, Fenster „von mattem Glase"
sind. So lange er also hier nicht den Weg
ins Freie zu zeigen weiß, wird er den Er¬
kenntnistheoretiker, trotz seiner Bundesgenossen¬
schaft gegen die Mach und Ostwald, kaum
veranlassen, elementare Begriffe gegen eine
erdrückende Fülle von Anschauungen preiszu¬
geben, deren Genuß er übrigens durch eine
reichlich scholastische Terminologie erschwert.

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[0199] Maßgebliches und Unmaßgebliches setzungsloser Weisheit ab, so wenn er das Positive der Religion als wirkliches Leben dreifach offenbart sieht: als Glauben, der an¬ nimmt und selbst Höheres schafft, als Vor¬ stellung eines Ideals, die durch den Glauben erst geschaffen wird, und schließlich als die Begeisterung, die in der Aneignung des Ideals erfahren und gesteigert wird. Anderseits wird doch die souveräne Art, die das Religiöse lediglich als Geist betrachtet und die sym¬ bolischen Formen vernachlässigen zu dürfen glaubt, schon innerhalb von Boutroux' eigenem Gedankenkreis Anstosz erregen müssen. Bou¬ troux' Denken überhaupt kann nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden, je nach¬ dem die Aufgabe der Philosophie im Mosaik der Einfälle oder in der Einheit des Systemes gesucht wird. Den Hauptinhalt des Buches bildet eine Revue über die zeitgenössischen Philosophen in ihrer Stellung zu dem Pro¬ bleme des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion. Ausgehend von Kants Dualismus, den er mit dem Worte: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist..." illustriert, scheidet er eine naturalistische und spiritualistische Reihe von Philosophen, innerhalb deren sich über die Auswahl streiten läßt. Aber indem Boutroux die verschiedenen Systeme kritisch darstellt, um dadurch seinen eigenen Standpunkt vorzu¬ bereiten, wird die große Übersicht nur dem fruchtbar, der gewillt ist, sich am Schlüsse des Buches von ihm bekehren zu lassen. Daher interessiert das Werk weniger durch sein Thema, als weil es die erlesene Bekanntschaft mit einem unabhängigen Denker vermittelt. Diese freilich wird uns durch die Eigenart der Dar¬ stellung erschwert, deren Lebhaftigkeit oft ans Forensische gemahnt, und die auch in der- zu¬ verlässigen deutschen Übersetzung so flimmernd erscheint, daß ich nicht nur der Terminologie wegen ständig das Original zu Hilfe ziehen Dr. Wilhelm Böhm- mußte. Philosophie des Organischen. Gifford- Vorlesungcn, gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907 und 1908 von Hans Driesch - Heidelberg. 2 Bände. Leipzig, Engelmann, 1909. 188S stiftete Lord Gifford für jede schottische Universität einen außerordentlichen Lehrstuhl für „natürliche Theologie im weitesten Sinne des Wortes", der zu Gastkursen vergeben wird, ganz ohne Rücksicht auf Stellung, Nationalität und Konfession; er kann sogar auch an Männer „ot no reliZion", an Skep¬ tiker, Agnostiker und Freidenker vergeben Werden, wenn diese „sincere lovsrs ok frei oarnest inquirers siter erndt" sind. Als solcher rechtfertigt sich Driesch zweifellos mit seiner „Philosophie des Organischen", in der er seine bisherigen Arbeiten über das Orga¬ nische zusammenfaßt. Er fühlt sich als einen Gegner des „seichten Popularmonismus unserer Tage", indem er der Nnturwissen- schaft unmittelbar metaphysische Grundlagen sichern will. Sein Verfahren ist induktiv, und sein Ausgangspunkt die ihm zunächst vertraute Biologie, als deren eine Form er auch die menschliche Geschichte begreift. Aus unend¬ lichen lehrreichen biologischen Einzelheiten wird ein Prinzip des Organischen gefunden, die Entelechie, in der organisches Geschehen und introspektive Erfahrung identisch sind. Nicht anders sind die Kategorien der Entelechie zwiefach orientiert, sofern sie zwar vom tätigen Subjekt nicht erschaffbar sind, aber doch durch seine introspektive Erfahrung geweckt werden. So stellt Driesch, auf den Bahnen Aristoteles', Schellings, E. v. Hartmanns wandelnd, das denkende Ich in die Materie hinein; aber wenn die Vorläufer Systematiker waren, die ein umfassendes Weltbild konstruierten, so muß dem induktiven Biologen die Notwendigkeit, über daS Organische hinauszugehen, zum Prüfstein werden. Hier gesteht er selbst, daß die Fenster, durch die er ins Absolute zu blicken vermag, Fenster „von mattem Glase" sind. So lange er also hier nicht den Weg ins Freie zu zeigen weiß, wird er den Er¬ kenntnistheoretiker, trotz seiner Bundesgenossen¬ schaft gegen die Mach und Ostwald, kaum veranlassen, elementare Begriffe gegen eine erdrückende Fülle von Anschauungen preiszu¬ geben, deren Genuß er übrigens durch eine reichlich scholastische Terminologie erschwert. Dr. Wilhelm Böhm-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/199>, abgerufen am 05.05.2024.