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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Der Balkankrieg und die politische Lage

Der status amo -- Stellung Deutschlands -- Kirchliche Rivalitäten

Gegenwärtig wird die von Herrn Poincare in die Verhandlung geworfene
Formel des status quo auf dem Balkan vielfach ins Lächerliche gezogen, da sie
ja doch für den Ausgang des Balkankrieges keine rechte Autorität habe, nachdem
es sich herausgestellt, daß die vereinigten Slawen der Türkei überlegen seien. Ganz
abgesehen davon, daß die Überlegenheit der Slawen noch nicht absolut fest¬
steht, so daß es auch durchaus noch nicht ausgemachte Sache ist, ob am
status c>no der Türkei wird gerüttelt werden dürfen, hat die Formel doch den
einen großen Erfolg gezeitigt, den sie vor allem anderen bezweckte. Sie hat
den Ausbruch eines Krieges unter den Großmächten, der in bestimmten Tagen
sehr viel näher stand, als selbst die Börse es ahnte, verhindert. Neben diesem
großen Erfolge, der natürlich nur möglich war, weil weder die Russen den
Bulgaren, noch die Franzosen den Türken bezüglich ihrer kriegerischen Leistungen
ganz trauten, spielt der Ausbruch eines lokalisierten Balkankrieges, wie er gegen¬
wärtig tobt, doch nur eine geringe Rolle. Bulgarien, Serbien, Montenegro und
Griechenland sind keine Vasallenstaaten irgendeiner europäischen Macht und eben¬
sowenig hat irgendeine europäische Macht das Protektorat über die Türkei über¬
nommen. Wenn die vier zuerst genannten Staaten den Zeitpunkt zum Angriff
auf die Türkei trotz allen Verwarnungen der Großmächte für gekommen erachteten,
so lag es nicht in der Hand irgendeiner Großmacht, ihnen in den Arm zu fallen,
ohne selbst das Schwert zu ziehen. Wer also hier von einer "öffentlichen Nieder¬
lage" der Diplomatie spricht, kennt entweder die Umstände nicht, oder er wirft sie
gutgläubig oder absichtlich durcheinander. Die Formel vom status quo ist
natürlich nur solange haltbar, wie die Türkei in der Lage ist, ihr Land selbst zu
verteidigen. Vermag die Türkei dies nicht, so nutzt ihr auch die Formel nichts,
und speziell wir Deutschen, die aus tausend Gründen ideeller und materieller Art
der Türkei sympathisch gegenüberstehen, werden uns dem ehernen Spruch eines


Grenzboten IV 1912 31


Reichsspiegel
Der Balkankrieg und die politische Lage

Der status amo — Stellung Deutschlands — Kirchliche Rivalitäten

Gegenwärtig wird die von Herrn Poincare in die Verhandlung geworfene
Formel des status quo auf dem Balkan vielfach ins Lächerliche gezogen, da sie
ja doch für den Ausgang des Balkankrieges keine rechte Autorität habe, nachdem
es sich herausgestellt, daß die vereinigten Slawen der Türkei überlegen seien. Ganz
abgesehen davon, daß die Überlegenheit der Slawen noch nicht absolut fest¬
steht, so daß es auch durchaus noch nicht ausgemachte Sache ist, ob am
status c>no der Türkei wird gerüttelt werden dürfen, hat die Formel doch den
einen großen Erfolg gezeitigt, den sie vor allem anderen bezweckte. Sie hat
den Ausbruch eines Krieges unter den Großmächten, der in bestimmten Tagen
sehr viel näher stand, als selbst die Börse es ahnte, verhindert. Neben diesem
großen Erfolge, der natürlich nur möglich war, weil weder die Russen den
Bulgaren, noch die Franzosen den Türken bezüglich ihrer kriegerischen Leistungen
ganz trauten, spielt der Ausbruch eines lokalisierten Balkankrieges, wie er gegen¬
wärtig tobt, doch nur eine geringe Rolle. Bulgarien, Serbien, Montenegro und
Griechenland sind keine Vasallenstaaten irgendeiner europäischen Macht und eben¬
sowenig hat irgendeine europäische Macht das Protektorat über die Türkei über¬
nommen. Wenn die vier zuerst genannten Staaten den Zeitpunkt zum Angriff
auf die Türkei trotz allen Verwarnungen der Großmächte für gekommen erachteten,
so lag es nicht in der Hand irgendeiner Großmacht, ihnen in den Arm zu fallen,
ohne selbst das Schwert zu ziehen. Wer also hier von einer „öffentlichen Nieder¬
lage" der Diplomatie spricht, kennt entweder die Umstände nicht, oder er wirft sie
gutgläubig oder absichtlich durcheinander. Die Formel vom status quo ist
natürlich nur solange haltbar, wie die Türkei in der Lage ist, ihr Land selbst zu
verteidigen. Vermag die Türkei dies nicht, so nutzt ihr auch die Formel nichts,
und speziell wir Deutschen, die aus tausend Gründen ideeller und materieller Art
der Türkei sympathisch gegenüberstehen, werden uns dem ehernen Spruch eines


Grenzboten IV 1912 31
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[0248] [Abbildung] Reichsspiegel Der Balkankrieg und die politische Lage Der status amo — Stellung Deutschlands — Kirchliche Rivalitäten Gegenwärtig wird die von Herrn Poincare in die Verhandlung geworfene Formel des status quo auf dem Balkan vielfach ins Lächerliche gezogen, da sie ja doch für den Ausgang des Balkankrieges keine rechte Autorität habe, nachdem es sich herausgestellt, daß die vereinigten Slawen der Türkei überlegen seien. Ganz abgesehen davon, daß die Überlegenheit der Slawen noch nicht absolut fest¬ steht, so daß es auch durchaus noch nicht ausgemachte Sache ist, ob am status c>no der Türkei wird gerüttelt werden dürfen, hat die Formel doch den einen großen Erfolg gezeitigt, den sie vor allem anderen bezweckte. Sie hat den Ausbruch eines Krieges unter den Großmächten, der in bestimmten Tagen sehr viel näher stand, als selbst die Börse es ahnte, verhindert. Neben diesem großen Erfolge, der natürlich nur möglich war, weil weder die Russen den Bulgaren, noch die Franzosen den Türken bezüglich ihrer kriegerischen Leistungen ganz trauten, spielt der Ausbruch eines lokalisierten Balkankrieges, wie er gegen¬ wärtig tobt, doch nur eine geringe Rolle. Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland sind keine Vasallenstaaten irgendeiner europäischen Macht und eben¬ sowenig hat irgendeine europäische Macht das Protektorat über die Türkei über¬ nommen. Wenn die vier zuerst genannten Staaten den Zeitpunkt zum Angriff auf die Türkei trotz allen Verwarnungen der Großmächte für gekommen erachteten, so lag es nicht in der Hand irgendeiner Großmacht, ihnen in den Arm zu fallen, ohne selbst das Schwert zu ziehen. Wer also hier von einer „öffentlichen Nieder¬ lage" der Diplomatie spricht, kennt entweder die Umstände nicht, oder er wirft sie gutgläubig oder absichtlich durcheinander. Die Formel vom status quo ist natürlich nur solange haltbar, wie die Türkei in der Lage ist, ihr Land selbst zu verteidigen. Vermag die Türkei dies nicht, so nutzt ihr auch die Formel nichts, und speziell wir Deutschen, die aus tausend Gründen ideeller und materieller Art der Türkei sympathisch gegenüberstehen, werden uns dem ehernen Spruch eines Grenzboten IV 1912 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/248>, abgerufen am 08.05.2024.