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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das Grotesk

alter Zeit und plaudern von vergangenen Tagen oder spinnen unsere Träume
hinüber in die Zukunft, dann wird das schön sein, mein guter, alter Getreuer, Du.

Also komm! Platz habe ich in Masse. Drei Zimmer bewohne ich selbst,
und drei kann ich Dir noch zur Verfügung stellen.

Ich habe die Wohnung meines Amtsvorgängers übernehmen müssen, der
verheiratet war. Sie war die einzige. Sollte noch irgend jemand hierher
ziehen wollen, so muß erst gebaut werden.


Ich erwarte Deine Zusage und grüße Dich voll Sehnsucht.
Dein Edward.

(Fortsetzung folgt)




Das Grotesk
Moritz Goldstein vonin

s handelt sich nicht um einen schlechten Witz. Die Überschrift,
an deren Klang man sich gewöhnen sollte, entspricht Bildungen
wie: das Barock, das Rokoko, und bezeichnet einen Stil. Einen,
den es noch nicht gibt, der aber entstehen will; einen, der im
Begriff ist, Mode zu werden und an dem die preziöse Welt um
2000 sammelnd und nachahmend sich vielleicht ebenso ergötzen wird wie die
von heute an Sachen und Sächelchen des Biedermeier.

Wir Philister, die wir die Erschütterungen des Naturalismus und Im¬
pressionismus kaum überstanden haben und in einer wieder vernünftig ge¬
wordenen Welt ahnungslos in den Tag hineinleben, sehen plötzlich abermals
etwas vorgehen. Hier eine Ausstellung, von den Verstand verrückenden Bildern;
dort eine Zeitschrift mit unmöglichen Gedichten in einer unmöglichen pöbel¬
hafter Sprache; da schon ganze Bücher, die zwischen zwei Buchdeckel das Un¬
erhörteste an gezeichnetem und gedruckten Wahnsinn einschließen. Wir Philister
sehen es mit Staunen und Abscheu. Wir empfinden die Offenbarungen der
Allerjüngsten als kompletten Unsinn und haben den Mut, sie offen und mit
entrüsteten Pathos so zu nennen. Und diesmal haben wir recht: was da als
neue Kunst sein Wesen treibt, ist Unsinn.

Aber leider Gottes: es ist diesmal damit nicht widerlegt. Diese neue
Richtung will Unsinn sein, sie ist Aberwitz mit Bewußtsein, systematisch, und
wir können die jungen Stürmer nicht besser verstehen und ihre Werke nicht


Das Grotesk

alter Zeit und plaudern von vergangenen Tagen oder spinnen unsere Träume
hinüber in die Zukunft, dann wird das schön sein, mein guter, alter Getreuer, Du.

Also komm! Platz habe ich in Masse. Drei Zimmer bewohne ich selbst,
und drei kann ich Dir noch zur Verfügung stellen.

Ich habe die Wohnung meines Amtsvorgängers übernehmen müssen, der
verheiratet war. Sie war die einzige. Sollte noch irgend jemand hierher
ziehen wollen, so muß erst gebaut werden.


Ich erwarte Deine Zusage und grüße Dich voll Sehnsucht.
Dein Edward.

(Fortsetzung folgt)




Das Grotesk
Moritz Goldstein vonin

s handelt sich nicht um einen schlechten Witz. Die Überschrift,
an deren Klang man sich gewöhnen sollte, entspricht Bildungen
wie: das Barock, das Rokoko, und bezeichnet einen Stil. Einen,
den es noch nicht gibt, der aber entstehen will; einen, der im
Begriff ist, Mode zu werden und an dem die preziöse Welt um
2000 sammelnd und nachahmend sich vielleicht ebenso ergötzen wird wie die
von heute an Sachen und Sächelchen des Biedermeier.

Wir Philister, die wir die Erschütterungen des Naturalismus und Im¬
pressionismus kaum überstanden haben und in einer wieder vernünftig ge¬
wordenen Welt ahnungslos in den Tag hineinleben, sehen plötzlich abermals
etwas vorgehen. Hier eine Ausstellung, von den Verstand verrückenden Bildern;
dort eine Zeitschrift mit unmöglichen Gedichten in einer unmöglichen pöbel¬
hafter Sprache; da schon ganze Bücher, die zwischen zwei Buchdeckel das Un¬
erhörteste an gezeichnetem und gedruckten Wahnsinn einschließen. Wir Philister
sehen es mit Staunen und Abscheu. Wir empfinden die Offenbarungen der
Allerjüngsten als kompletten Unsinn und haben den Mut, sie offen und mit
entrüsteten Pathos so zu nennen. Und diesmal haben wir recht: was da als
neue Kunst sein Wesen treibt, ist Unsinn.

Aber leider Gottes: es ist diesmal damit nicht widerlegt. Diese neue
Richtung will Unsinn sein, sie ist Aberwitz mit Bewußtsein, systematisch, und
wir können die jungen Stürmer nicht besser verstehen und ihre Werke nicht


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[0192] Das Grotesk alter Zeit und plaudern von vergangenen Tagen oder spinnen unsere Träume hinüber in die Zukunft, dann wird das schön sein, mein guter, alter Getreuer, Du. Also komm! Platz habe ich in Masse. Drei Zimmer bewohne ich selbst, und drei kann ich Dir noch zur Verfügung stellen. Ich habe die Wohnung meines Amtsvorgängers übernehmen müssen, der verheiratet war. Sie war die einzige. Sollte noch irgend jemand hierher ziehen wollen, so muß erst gebaut werden. Ich erwarte Deine Zusage und grüße Dich voll Sehnsucht. Dein Edward. (Fortsetzung folgt) Das Grotesk Moritz Goldstein vonin s handelt sich nicht um einen schlechten Witz. Die Überschrift, an deren Klang man sich gewöhnen sollte, entspricht Bildungen wie: das Barock, das Rokoko, und bezeichnet einen Stil. Einen, den es noch nicht gibt, der aber entstehen will; einen, der im Begriff ist, Mode zu werden und an dem die preziöse Welt um 2000 sammelnd und nachahmend sich vielleicht ebenso ergötzen wird wie die von heute an Sachen und Sächelchen des Biedermeier. Wir Philister, die wir die Erschütterungen des Naturalismus und Im¬ pressionismus kaum überstanden haben und in einer wieder vernünftig ge¬ wordenen Welt ahnungslos in den Tag hineinleben, sehen plötzlich abermals etwas vorgehen. Hier eine Ausstellung, von den Verstand verrückenden Bildern; dort eine Zeitschrift mit unmöglichen Gedichten in einer unmöglichen pöbel¬ hafter Sprache; da schon ganze Bücher, die zwischen zwei Buchdeckel das Un¬ erhörteste an gezeichnetem und gedruckten Wahnsinn einschließen. Wir Philister sehen es mit Staunen und Abscheu. Wir empfinden die Offenbarungen der Allerjüngsten als kompletten Unsinn und haben den Mut, sie offen und mit entrüsteten Pathos so zu nennen. Und diesmal haben wir recht: was da als neue Kunst sein Wesen treibt, ist Unsinn. Aber leider Gottes: es ist diesmal damit nicht widerlegt. Diese neue Richtung will Unsinn sein, sie ist Aberwitz mit Bewußtsein, systematisch, und wir können die jungen Stürmer nicht besser verstehen und ihre Werke nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/192>, abgerufen am 04.05.2024.