Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der l'laue Brief

Aber eine Nivellierung der Staaten im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts
ist zur Erreichung dieses Ideals nicht nötig. Denn wenn sich ein großer
Organismus bildet, ist es nicht nötig, daß seine Zellen alle einander gleich sind;
im Gegenteil, je komplizierter der Organismus ist, um so eigenartiger ist das
Sonderleben der Einzelzelle, um so eigenartiger ihre besonderen Funktionen.
Das biologisch-soziologische Gesetz Spencers sagt: je größer der Aufbau, die
Integration ist, um so größer ist die dadurch bedingte Differenzierung der Teile.
In diesem Punkte paßt der Vergleich der Menschheit mit einem Organismus.
Je besser die einzelnen Zellen, die Staaten, ihre Sonderaufgaben erfüllen, um
so mehr dienen sie dem großen Organismus der Menschheit. Es gilt also,
das Eigenleben der Einzelzelle zu erkennen und für ihre gesunde Entwicklung
und Ausbildung zu arbeiten und sie in der höchsten Not sogar mit den Waffen
zu verteidigen, um zugleich dem Gesamtleben des Ganzen und seinem Fortschritt
dienen zu können. Je mehr die Idee des Nationalstaates mit seinem indi¬
viduellen Wesen und seinem nötigen selbständigen Eigenleben innerhalb des
Menschheitsganzen der Verwirklichung nahekommt, um so weniger können Staats¬
bürgertum und Weltbürgertum miteinander in Konflikt geraten.




Der blaue Brief

^c^/^vV'
MMmeer obiger Überschrift erschien im Tag vom 3. September d. I.
ein Aufsatz des Landtagsabgeordneten Heß, in dem dieser unter
Bezugnahme auf gleichartige Ausführungen von Dr. Zimmer und
Müller-Koblenz im Landtage es für bedenklich erklärt, wenn die
Justizverwaltung ihren Assessoren erst nach vieljähriger kom-
missorischer Beschäftigung eröffne, daß sie auf Anstellung im Staatsdienst nicht
zu rechnen hätten. Indem Dr. Heß aus die Zunahme solcher Fälle und die
schwere wirtschaftliche und moralische Schädigung hinweist, von der ältere Leute
durch eine verspätete Eröffnung dieser Art betroffen werden, verlangt er, die
Justizverwaltung möge sich mit ihren Assessoren so eingehend beschäftigen, daß
sie sich nach spätestens drei Jahren über deren Annahme oder Ablehnung ent¬
scheiden könne, damit die Abgewiesenen die Möglichkeit hätten, sich rechtzeitig nach
einem anderen Beruf umzusehen. Der dann im Dienst behaltene Assessor solle
ein Anrecht auf eine Richterstelle erworben haben und nicht mehr wegen "all¬
gemeiner Unbrauchbarkeit" sondern nur noch wegen Verfehlungen entlassen werden
können. Schicke man noch alten Assessoren den blauen Brief, so bedeute das


Der l'laue Brief

Aber eine Nivellierung der Staaten im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts
ist zur Erreichung dieses Ideals nicht nötig. Denn wenn sich ein großer
Organismus bildet, ist es nicht nötig, daß seine Zellen alle einander gleich sind;
im Gegenteil, je komplizierter der Organismus ist, um so eigenartiger ist das
Sonderleben der Einzelzelle, um so eigenartiger ihre besonderen Funktionen.
Das biologisch-soziologische Gesetz Spencers sagt: je größer der Aufbau, die
Integration ist, um so größer ist die dadurch bedingte Differenzierung der Teile.
In diesem Punkte paßt der Vergleich der Menschheit mit einem Organismus.
Je besser die einzelnen Zellen, die Staaten, ihre Sonderaufgaben erfüllen, um
so mehr dienen sie dem großen Organismus der Menschheit. Es gilt also,
das Eigenleben der Einzelzelle zu erkennen und für ihre gesunde Entwicklung
und Ausbildung zu arbeiten und sie in der höchsten Not sogar mit den Waffen
zu verteidigen, um zugleich dem Gesamtleben des Ganzen und seinem Fortschritt
dienen zu können. Je mehr die Idee des Nationalstaates mit seinem indi¬
viduellen Wesen und seinem nötigen selbständigen Eigenleben innerhalb des
Menschheitsganzen der Verwirklichung nahekommt, um so weniger können Staats¬
bürgertum und Weltbürgertum miteinander in Konflikt geraten.




Der blaue Brief

^c^/^vV'
MMmeer obiger Überschrift erschien im Tag vom 3. September d. I.
ein Aufsatz des Landtagsabgeordneten Heß, in dem dieser unter
Bezugnahme auf gleichartige Ausführungen von Dr. Zimmer und
Müller-Koblenz im Landtage es für bedenklich erklärt, wenn die
Justizverwaltung ihren Assessoren erst nach vieljähriger kom-
missorischer Beschäftigung eröffne, daß sie auf Anstellung im Staatsdienst nicht
zu rechnen hätten. Indem Dr. Heß aus die Zunahme solcher Fälle und die
schwere wirtschaftliche und moralische Schädigung hinweist, von der ältere Leute
durch eine verspätete Eröffnung dieser Art betroffen werden, verlangt er, die
Justizverwaltung möge sich mit ihren Assessoren so eingehend beschäftigen, daß
sie sich nach spätestens drei Jahren über deren Annahme oder Ablehnung ent¬
scheiden könne, damit die Abgewiesenen die Möglichkeit hätten, sich rechtzeitig nach
einem anderen Beruf umzusehen. Der dann im Dienst behaltene Assessor solle
ein Anrecht auf eine Richterstelle erworben haben und nicht mehr wegen „all¬
gemeiner Unbrauchbarkeit" sondern nur noch wegen Verfehlungen entlassen werden
können. Schicke man noch alten Assessoren den blauen Brief, so bedeute das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0112" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326924"/>
          <fw type="header" place="top"> Der l'laue Brief</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_422"> Aber eine Nivellierung der Staaten im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts<lb/>
ist zur Erreichung dieses Ideals nicht nötig. Denn wenn sich ein großer<lb/>
Organismus bildet, ist es nicht nötig, daß seine Zellen alle einander gleich sind;<lb/>
im Gegenteil, je komplizierter der Organismus ist, um so eigenartiger ist das<lb/>
Sonderleben der Einzelzelle, um so eigenartiger ihre besonderen Funktionen.<lb/>
Das biologisch-soziologische Gesetz Spencers sagt: je größer der Aufbau, die<lb/>
Integration ist, um so größer ist die dadurch bedingte Differenzierung der Teile.<lb/>
In diesem Punkte paßt der Vergleich der Menschheit mit einem Organismus.<lb/>
Je besser die einzelnen Zellen, die Staaten, ihre Sonderaufgaben erfüllen, um<lb/>
so mehr dienen sie dem großen Organismus der Menschheit. Es gilt also,<lb/>
das Eigenleben der Einzelzelle zu erkennen und für ihre gesunde Entwicklung<lb/>
und Ausbildung zu arbeiten und sie in der höchsten Not sogar mit den Waffen<lb/>
zu verteidigen, um zugleich dem Gesamtleben des Ganzen und seinem Fortschritt<lb/>
dienen zu können. Je mehr die Idee des Nationalstaates mit seinem indi¬<lb/>
viduellen Wesen und seinem nötigen selbständigen Eigenleben innerhalb des<lb/>
Menschheitsganzen der Verwirklichung nahekommt, um so weniger können Staats¬<lb/>
bürgertum und Weltbürgertum miteinander in Konflikt geraten.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der blaue Brief</head><lb/>
          <p xml:id="ID_423" next="#ID_424"> ^c^/^vV'<lb/>
MMmeer obiger Überschrift erschien im Tag vom 3. September d. I.<lb/>
ein Aufsatz des Landtagsabgeordneten Heß, in dem dieser unter<lb/>
Bezugnahme auf gleichartige Ausführungen von Dr. Zimmer und<lb/>
Müller-Koblenz im Landtage es für bedenklich erklärt, wenn die<lb/>
Justizverwaltung ihren Assessoren erst nach vieljähriger kom-<lb/>
missorischer Beschäftigung eröffne, daß sie auf Anstellung im Staatsdienst nicht<lb/>
zu rechnen hätten. Indem Dr. Heß aus die Zunahme solcher Fälle und die<lb/>
schwere wirtschaftliche und moralische Schädigung hinweist, von der ältere Leute<lb/>
durch eine verspätete Eröffnung dieser Art betroffen werden, verlangt er, die<lb/>
Justizverwaltung möge sich mit ihren Assessoren so eingehend beschäftigen, daß<lb/>
sie sich nach spätestens drei Jahren über deren Annahme oder Ablehnung ent¬<lb/>
scheiden könne, damit die Abgewiesenen die Möglichkeit hätten, sich rechtzeitig nach<lb/>
einem anderen Beruf umzusehen. Der dann im Dienst behaltene Assessor solle<lb/>
ein Anrecht auf eine Richterstelle erworben haben und nicht mehr wegen &#x201E;all¬<lb/>
gemeiner Unbrauchbarkeit" sondern nur noch wegen Verfehlungen entlassen werden<lb/>
können.  Schicke man noch alten Assessoren den blauen Brief, so bedeute das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0112] Der l'laue Brief Aber eine Nivellierung der Staaten im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts ist zur Erreichung dieses Ideals nicht nötig. Denn wenn sich ein großer Organismus bildet, ist es nicht nötig, daß seine Zellen alle einander gleich sind; im Gegenteil, je komplizierter der Organismus ist, um so eigenartiger ist das Sonderleben der Einzelzelle, um so eigenartiger ihre besonderen Funktionen. Das biologisch-soziologische Gesetz Spencers sagt: je größer der Aufbau, die Integration ist, um so größer ist die dadurch bedingte Differenzierung der Teile. In diesem Punkte paßt der Vergleich der Menschheit mit einem Organismus. Je besser die einzelnen Zellen, die Staaten, ihre Sonderaufgaben erfüllen, um so mehr dienen sie dem großen Organismus der Menschheit. Es gilt also, das Eigenleben der Einzelzelle zu erkennen und für ihre gesunde Entwicklung und Ausbildung zu arbeiten und sie in der höchsten Not sogar mit den Waffen zu verteidigen, um zugleich dem Gesamtleben des Ganzen und seinem Fortschritt dienen zu können. Je mehr die Idee des Nationalstaates mit seinem indi¬ viduellen Wesen und seinem nötigen selbständigen Eigenleben innerhalb des Menschheitsganzen der Verwirklichung nahekommt, um so weniger können Staats¬ bürgertum und Weltbürgertum miteinander in Konflikt geraten. Der blaue Brief ^c^/^vV' MMmeer obiger Überschrift erschien im Tag vom 3. September d. I. ein Aufsatz des Landtagsabgeordneten Heß, in dem dieser unter Bezugnahme auf gleichartige Ausführungen von Dr. Zimmer und Müller-Koblenz im Landtage es für bedenklich erklärt, wenn die Justizverwaltung ihren Assessoren erst nach vieljähriger kom- missorischer Beschäftigung eröffne, daß sie auf Anstellung im Staatsdienst nicht zu rechnen hätten. Indem Dr. Heß aus die Zunahme solcher Fälle und die schwere wirtschaftliche und moralische Schädigung hinweist, von der ältere Leute durch eine verspätete Eröffnung dieser Art betroffen werden, verlangt er, die Justizverwaltung möge sich mit ihren Assessoren so eingehend beschäftigen, daß sie sich nach spätestens drei Jahren über deren Annahme oder Ablehnung ent¬ scheiden könne, damit die Abgewiesenen die Möglichkeit hätten, sich rechtzeitig nach einem anderen Beruf umzusehen. Der dann im Dienst behaltene Assessor solle ein Anrecht auf eine Richterstelle erworben haben und nicht mehr wegen „all¬ gemeiner Unbrauchbarkeit" sondern nur noch wegen Verfehlungen entlassen werden können. Schicke man noch alten Assessoren den blauen Brief, so bedeute das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/112
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/112>, abgerufen am 27.04.2024.