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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Elisabeth
Novelle
von Reinhard Weer
I.

le Diele des alten Norwichlandhauses war vom unruhigen Lichte
des Kaminfeuers schwach erhellt. Mein Freund, der Sohn des
verstorbenen Reverend, kniete in der Ecke vor der großen ge¬
schnitzten Eichenholztruhe, deren Inhalt er neben sich auf dem
Teppich ausbreitete.

"Du langweilst dich, mein Junge?"

"Allerdings. Ich kann dich heute beim besten Willen nicht unterhaltend
finden. -- Was suchst du eigentlich?"

"Ein altes Dokument, das ich dir zeigen wollte, weil du auf dergleichen
Dinge so versessen bist. Du wirst staunen. . . Hier ist die Mappe, endlich."

Er brachte mir ein vergilbtes Stück Pergament an den Tisch. "Das hat
mein Vater von Sir Durham, dem berühmten Sammler, zum Geschenk erhalten,
und jetzt sollst du es haben. Lies, bitte . ."

Eine feine, abgerundete Schrift in blaßgrauer Tinte, hier und dort von
dem pergamentenen Grund nicht mehr unterscheidbar. . . Vor den Kamin
gebückt, enträtselte ich sie langsam, Wort für Wort.

Das Schriftstück war in mittelalterlichen Englisch abgefaßt und lautete
-- frei übertragen und bei sinngemäßer Ergänzung der fehlenden Stellen --
folgendermaßen:

"Nachdem es Gott in seiner Allmacht und meiner gnädigen Majestät von
England in ihrer Weisheit gefallen hat, mir für morgen das Ende meiner
Tage zu bestimmen, habe ich mich in: Beisein des Bischofs von Aork und
zweier Kapläne durch Gebet und Lesen der Schrift auf den Tod vorbereitet.
Ich werde gefaßt vor den himmlischen Richter treten. Doch drängt es mich,
zuvor noch meine Seele von einem Geheimnis zu lösen, das während dieser
letzten Wochen schwer auf ihr gelastet hat. Da die geistlichen Herren meiner
Erzählung keinen Glauben schenken, sondern vermuten würden, die Furcht vor
dem nahen Tode habe mich des Verstandes beraubt, vertraue ich das Seltsame




Elisabeth
Novelle
von Reinhard Weer
I.

le Diele des alten Norwichlandhauses war vom unruhigen Lichte
des Kaminfeuers schwach erhellt. Mein Freund, der Sohn des
verstorbenen Reverend, kniete in der Ecke vor der großen ge¬
schnitzten Eichenholztruhe, deren Inhalt er neben sich auf dem
Teppich ausbreitete.

„Du langweilst dich, mein Junge?"

„Allerdings. Ich kann dich heute beim besten Willen nicht unterhaltend
finden. — Was suchst du eigentlich?"

„Ein altes Dokument, das ich dir zeigen wollte, weil du auf dergleichen
Dinge so versessen bist. Du wirst staunen. . . Hier ist die Mappe, endlich."

Er brachte mir ein vergilbtes Stück Pergament an den Tisch. „Das hat
mein Vater von Sir Durham, dem berühmten Sammler, zum Geschenk erhalten,
und jetzt sollst du es haben. Lies, bitte . ."

Eine feine, abgerundete Schrift in blaßgrauer Tinte, hier und dort von
dem pergamentenen Grund nicht mehr unterscheidbar. . . Vor den Kamin
gebückt, enträtselte ich sie langsam, Wort für Wort.

Das Schriftstück war in mittelalterlichen Englisch abgefaßt und lautete
— frei übertragen und bei sinngemäßer Ergänzung der fehlenden Stellen —
folgendermaßen:

„Nachdem es Gott in seiner Allmacht und meiner gnädigen Majestät von
England in ihrer Weisheit gefallen hat, mir für morgen das Ende meiner
Tage zu bestimmen, habe ich mich in: Beisein des Bischofs von Aork und
zweier Kapläne durch Gebet und Lesen der Schrift auf den Tod vorbereitet.
Ich werde gefaßt vor den himmlischen Richter treten. Doch drängt es mich,
zuvor noch meine Seele von einem Geheimnis zu lösen, das während dieser
letzten Wochen schwer auf ihr gelastet hat. Da die geistlichen Herren meiner
Erzählung keinen Glauben schenken, sondern vermuten würden, die Furcht vor
dem nahen Tode habe mich des Verstandes beraubt, vertraue ich das Seltsame


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[0180] [Abbildung] Elisabeth Novelle von Reinhard Weer I. le Diele des alten Norwichlandhauses war vom unruhigen Lichte des Kaminfeuers schwach erhellt. Mein Freund, der Sohn des verstorbenen Reverend, kniete in der Ecke vor der großen ge¬ schnitzten Eichenholztruhe, deren Inhalt er neben sich auf dem Teppich ausbreitete. „Du langweilst dich, mein Junge?" „Allerdings. Ich kann dich heute beim besten Willen nicht unterhaltend finden. — Was suchst du eigentlich?" „Ein altes Dokument, das ich dir zeigen wollte, weil du auf dergleichen Dinge so versessen bist. Du wirst staunen. . . Hier ist die Mappe, endlich." Er brachte mir ein vergilbtes Stück Pergament an den Tisch. „Das hat mein Vater von Sir Durham, dem berühmten Sammler, zum Geschenk erhalten, und jetzt sollst du es haben. Lies, bitte . ." Eine feine, abgerundete Schrift in blaßgrauer Tinte, hier und dort von dem pergamentenen Grund nicht mehr unterscheidbar. . . Vor den Kamin gebückt, enträtselte ich sie langsam, Wort für Wort. Das Schriftstück war in mittelalterlichen Englisch abgefaßt und lautete — frei übertragen und bei sinngemäßer Ergänzung der fehlenden Stellen — folgendermaßen: „Nachdem es Gott in seiner Allmacht und meiner gnädigen Majestät von England in ihrer Weisheit gefallen hat, mir für morgen das Ende meiner Tage zu bestimmen, habe ich mich in: Beisein des Bischofs von Aork und zweier Kapläne durch Gebet und Lesen der Schrift auf den Tod vorbereitet. Ich werde gefaßt vor den himmlischen Richter treten. Doch drängt es mich, zuvor noch meine Seele von einem Geheimnis zu lösen, das während dieser letzten Wochen schwer auf ihr gelastet hat. Da die geistlichen Herren meiner Erzählung keinen Glauben schenken, sondern vermuten würden, die Furcht vor dem nahen Tode habe mich des Verstandes beraubt, vertraue ich das Seltsame

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/180>, abgerufen am 27.04.2024.