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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Über das Wesen der Sprache
von Dr. Hermann Schmitt

em redenden und lesenden Menschen unserer Zeit fehlt es nicht an
Anlässen dazu, über seine und anderer Leute Art, sprachlich dar¬
zustellen, gelegentlich einmal prinzipiell nachzudenken. Er staunt
über die große Zahl von Mißverständnissen, die so häufig auf
sprachlicher Ungenauigkeit und auf unglücklicher Wahl eines Aus¬
drucks beruhen. Er wird ungeduldig, wenn er einmal den rechten Ausdruck
nicht gleich finden kann. Er wird wohl auch bescheiden, wenn er sür etwas,
was er gern sagen möchte, überhaupt keine Worte hat. Und ein Gefühl der
Befriedigung, der Lust oder gar innerer Weihe und Erhebung füllt seine Seele,
wenn er etwas liest oder hört, was im Ausdruck vollkommen ist. Was die
Gewohnheit an der Muttersprache unauffällig macht, tritt uns bei der Betrachtung
fremder Sprachen um so deutlicher vor Augen.

Mancher vielleicht mag gering denken von der lähmenden Gebundenheit
der Wortfolge im Französischen und sich im stillen freuen über die weitgehende
Freiheit, die in diesem Punkte außer dem Deutschen etwa das Englische gewährt.
Naturgemäß wird er nach Gründen fragen für diesen ebenso tiefgreifenden wie
offensichtlichen Unterschied. Und man wird ihm antworten: die destruktive
Wirkung der französischen Lautgesetze habe dazu geführt, daß man die Beziehung
der Wörter im Satze durch grammatische Formen nur sehr unvollkommen er¬
kennen könne. Als Ersatz für die so sehr geschwächte flexivische Form habe eine
straffe, logisch konsequente Stellung der Satzteile Platz gegriffen. In "den König
habe ich gesehen" könne man die grammatische Form des Objekts deutlich er¬
kennen und es selbst bei Vorausstellung nie mit dem Subjekt verwechseln. Im
Französischen aber, wo heute die Formen für "der König" und "den König"
in "le roi" zusammengefallen seien, müsse eben eine streng verbindliche Wort¬
stellung vor jeder Verwechslung schützen. Wenn diese Begründung ausreichend
wäre, könnte mau indessen schwerlich einsehen, warum "tus KinZ I Kave seen"
einwandfreies Englisch ist, obwohl von "tke Kilt^" dasselbe gilt, was von
"le roi" zu sagen war. Den entscheidenden Punkt trifft also die obige Er¬
klärung nicht.




Über das Wesen der Sprache
von Dr. Hermann Schmitt

em redenden und lesenden Menschen unserer Zeit fehlt es nicht an
Anlässen dazu, über seine und anderer Leute Art, sprachlich dar¬
zustellen, gelegentlich einmal prinzipiell nachzudenken. Er staunt
über die große Zahl von Mißverständnissen, die so häufig auf
sprachlicher Ungenauigkeit und auf unglücklicher Wahl eines Aus¬
drucks beruhen. Er wird ungeduldig, wenn er einmal den rechten Ausdruck
nicht gleich finden kann. Er wird wohl auch bescheiden, wenn er sür etwas,
was er gern sagen möchte, überhaupt keine Worte hat. Und ein Gefühl der
Befriedigung, der Lust oder gar innerer Weihe und Erhebung füllt seine Seele,
wenn er etwas liest oder hört, was im Ausdruck vollkommen ist. Was die
Gewohnheit an der Muttersprache unauffällig macht, tritt uns bei der Betrachtung
fremder Sprachen um so deutlicher vor Augen.

Mancher vielleicht mag gering denken von der lähmenden Gebundenheit
der Wortfolge im Französischen und sich im stillen freuen über die weitgehende
Freiheit, die in diesem Punkte außer dem Deutschen etwa das Englische gewährt.
Naturgemäß wird er nach Gründen fragen für diesen ebenso tiefgreifenden wie
offensichtlichen Unterschied. Und man wird ihm antworten: die destruktive
Wirkung der französischen Lautgesetze habe dazu geführt, daß man die Beziehung
der Wörter im Satze durch grammatische Formen nur sehr unvollkommen er¬
kennen könne. Als Ersatz für die so sehr geschwächte flexivische Form habe eine
straffe, logisch konsequente Stellung der Satzteile Platz gegriffen. In „den König
habe ich gesehen" könne man die grammatische Form des Objekts deutlich er¬
kennen und es selbst bei Vorausstellung nie mit dem Subjekt verwechseln. Im
Französischen aber, wo heute die Formen für „der König" und „den König"
in „le roi" zusammengefallen seien, müsse eben eine streng verbindliche Wort¬
stellung vor jeder Verwechslung schützen. Wenn diese Begründung ausreichend
wäre, könnte mau indessen schwerlich einsehen, warum „tus KinZ I Kave seen"
einwandfreies Englisch ist, obwohl von „tke Kilt^" dasselbe gilt, was von
„le roi" zu sagen war. Den entscheidenden Punkt trifft also die obige Er¬
klärung nicht.


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[0235] [Abbildung] Über das Wesen der Sprache von Dr. Hermann Schmitt em redenden und lesenden Menschen unserer Zeit fehlt es nicht an Anlässen dazu, über seine und anderer Leute Art, sprachlich dar¬ zustellen, gelegentlich einmal prinzipiell nachzudenken. Er staunt über die große Zahl von Mißverständnissen, die so häufig auf sprachlicher Ungenauigkeit und auf unglücklicher Wahl eines Aus¬ drucks beruhen. Er wird ungeduldig, wenn er einmal den rechten Ausdruck nicht gleich finden kann. Er wird wohl auch bescheiden, wenn er sür etwas, was er gern sagen möchte, überhaupt keine Worte hat. Und ein Gefühl der Befriedigung, der Lust oder gar innerer Weihe und Erhebung füllt seine Seele, wenn er etwas liest oder hört, was im Ausdruck vollkommen ist. Was die Gewohnheit an der Muttersprache unauffällig macht, tritt uns bei der Betrachtung fremder Sprachen um so deutlicher vor Augen. Mancher vielleicht mag gering denken von der lähmenden Gebundenheit der Wortfolge im Französischen und sich im stillen freuen über die weitgehende Freiheit, die in diesem Punkte außer dem Deutschen etwa das Englische gewährt. Naturgemäß wird er nach Gründen fragen für diesen ebenso tiefgreifenden wie offensichtlichen Unterschied. Und man wird ihm antworten: die destruktive Wirkung der französischen Lautgesetze habe dazu geführt, daß man die Beziehung der Wörter im Satze durch grammatische Formen nur sehr unvollkommen er¬ kennen könne. Als Ersatz für die so sehr geschwächte flexivische Form habe eine straffe, logisch konsequente Stellung der Satzteile Platz gegriffen. In „den König habe ich gesehen" könne man die grammatische Form des Objekts deutlich er¬ kennen und es selbst bei Vorausstellung nie mit dem Subjekt verwechseln. Im Französischen aber, wo heute die Formen für „der König" und „den König" in „le roi" zusammengefallen seien, müsse eben eine streng verbindliche Wort¬ stellung vor jeder Verwechslung schützen. Wenn diese Begründung ausreichend wäre, könnte mau indessen schwerlich einsehen, warum „tus KinZ I Kave seen" einwandfreies Englisch ist, obwohl von „tke Kilt^" dasselbe gilt, was von „le roi" zu sagen war. Den entscheidenden Punkt trifft also die obige Er¬ klärung nicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/235>, abgerufen am 27.04.2024.