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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

inneren Politik schon ziemlich anstandslos be¬
handeln. Nur über der letzten Dekade von
Bismarcks Heldenleben wallen noch verhüllende
Schleier, freilich auch schon vielfach durch¬
brochen.

Wer soll die Arbeit auf sich nehmen? Die
historischen Seminare der Philosophischen
Fakultäten, soweit sie sich mit der neuesten
Geschichte befassen. Mögen die jungen
Historiker unter Anleitung ihrer Professoren
uns aus Bismarcks Schatz an Erfahrungen
ein von Politischen Nebenabsichten freies Rüst¬
zeug zur politischen Aufklärung der Nation
liefern. Solch ein Werk, spätestens im
Jubiläumsjahre begonnen, würde für wahr
ein würdiges Geschenk an die Nation zum
hundertsten Geburtstage des Roichsschmieds
i G. Li. m Jahre 1915 bedeuten.

5adore Literatur
Neues von und über Gerhart Haupt¬

mann.

Jetzt, da die Phrasenwelle zurückzu-
ebben beginnt, die den funfzigjährigen Gerhart
Hauptmann während der verflossenen Winter¬
monate umtobte und überschwemmte, darf
Wohl auch der nüchterne und ruhig wägende
Verstand sich wieder zu Worte melden. Das
übertriebene Jubilieren und Toasten gehört
nun einmal zur Signatur dieser Zeit. Tiefer
blickende Menschen werde" sich durch solche
stets wiederkehrende Erscheinungen nicht ernst¬
haft beunruhigen lassen. Denn jedem Traum
ist noch immer das Erwachen, jedem Rausch
noch immer die Nüchternheit gefolgt.

Wenn wir nun heute den Dingen klar
u"d unbestechlich ins Auge sehen, werden wir
feststellen müssen, daß der jüngste Tatbestand
des Falles Gerhart Hauptmann kein über¬
mäßig hoffnungsvolles Bild ergibt. Gerhart
Hauptmanns Kunst zeigt seit nichr als
zehn Jahren allerlei verdächtige Spuren des
Niedergangs. Den, Dichter der "Weber",
des "Biberpelzes" und des "Fuhrmann
Henschel" ist sein junger Ruhm zur furcht¬
baren Geißel geworden, zum Lorbeerkranz,
der ihn gedrückt und schließlich nahezu er¬
drosselt hat. Gesetze und innerlich ratlos
schleppt sich Hauptmann jahraus jahrein von
Arbeit zu Arbeit. Seine Stimme, die früher
voll und metallen erklang, ist längst hohl und
bleichem geworden. Sein sympathischer Hol¬

[Spaltenumbruch]

beinkopf, der seinen ersten Dichtungen ihre
eigene Physiognomie, ihren eigenen Duft, ihren
eigenen Menschlichkeitsgehalt gab, hat kaum
mehr etwas gemein und den unerlebter
und unbeseelten Schattengestalten, die seit
zehn Jahren -- wenn man von dem starken
gedanklichen Gehalt etwa des "Emanuel
Quint" absieht -- aus seiner Werkstatt ge¬
kommen sind. Das eine, was nottut, ist
ihm in der äußeren und inneren Unrast seines
Lebens verloren gegangen: die Klarheit über
sich selbst, die Möglichkeit, eigenes Erleben
ausreifen zu lassen, und damit die Kraft,
das eigene Erleben nun auch in die bunt-
farbene Welt des Kunstwerks zu Projizieren.
Wenn das Nietzsche-Wort gilt, daß man von
allem Geschriebenen das achten soll, was einer
mit seinem Herzblut schrieb, dann ist der
Hauptmann des letzten Dezenniums zu neun
Zehnteln gerichtet.

Das eine Zehntel aber, das übrig bleibt,
ist nicht mehr reich, nicht mehr lebenskräftig
genug, um alle schmerzlichen Enttäuschungen
auch nur einigermaßen wettzumachen. Als
Beitrag zur Psychologie einer tragischen Dichter-
dekadence wird es seinen Platz behaupten.
Den Glauben an den alten Gerhart Haupt¬
mann kann es uns nicht wiedergeben. Im¬
merhin: es ist uns willkommen, weil es an
Stelle der ohne inneren Zwang und nur aus
kleinlicher Angst um den eigenen Ruhm ge¬
zeugten Geschöpfe der letzten Jahre endlich
wieder einen aufrichtigen, wahrhaftigen und
menschlichen Ton setzt. Die Tragödie von
"Gabriel Schillings Flucht" so gut wie der
Roman "Atlantis" (beide bei S. Fischer,
Berlin, erschienen) sind offenbar der Nieder¬
schlag schwerer innerer Krisen, die der alternde
Mensch Gerhart Hauptmann mit sich selber
auszumachen hatte; Bekenntnisse sozusagen,
denen die Aufrichtigkeit des Bekenners ihren
eigenen Adel gibt -- freilich, ohne sie damit
zu Dichtungen im letzten und höchsten Sinne
zu stempeln.

Vom "Gabriel Schilling", dieser bei aller
Würdigkeit sympathischen Alterstragödie, soll
hier nicht geredet werden. Sie ist über die
deutsche Bühne gegangen, ist überreichlich
kommentiert und bekrittelt worden, hat für
kurze Zeit so etwas wie den letzten Glanz
der niedergehenden Sonne um sich her ver-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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inneren Politik schon ziemlich anstandslos be¬
handeln. Nur über der letzten Dekade von
Bismarcks Heldenleben wallen noch verhüllende
Schleier, freilich auch schon vielfach durch¬
brochen.

Wer soll die Arbeit auf sich nehmen? Die
historischen Seminare der Philosophischen
Fakultäten, soweit sie sich mit der neuesten
Geschichte befassen. Mögen die jungen
Historiker unter Anleitung ihrer Professoren
uns aus Bismarcks Schatz an Erfahrungen
ein von Politischen Nebenabsichten freies Rüst¬
zeug zur politischen Aufklärung der Nation
liefern. Solch ein Werk, spätestens im
Jubiläumsjahre begonnen, würde für wahr
ein würdiges Geschenk an die Nation zum
hundertsten Geburtstage des Roichsschmieds
i G. Li. m Jahre 1915 bedeuten.

5adore Literatur
Neues von und über Gerhart Haupt¬

mann.

Jetzt, da die Phrasenwelle zurückzu-
ebben beginnt, die den funfzigjährigen Gerhart
Hauptmann während der verflossenen Winter¬
monate umtobte und überschwemmte, darf
Wohl auch der nüchterne und ruhig wägende
Verstand sich wieder zu Worte melden. Das
übertriebene Jubilieren und Toasten gehört
nun einmal zur Signatur dieser Zeit. Tiefer
blickende Menschen werde» sich durch solche
stets wiederkehrende Erscheinungen nicht ernst¬
haft beunruhigen lassen. Denn jedem Traum
ist noch immer das Erwachen, jedem Rausch
noch immer die Nüchternheit gefolgt.

Wenn wir nun heute den Dingen klar
u»d unbestechlich ins Auge sehen, werden wir
feststellen müssen, daß der jüngste Tatbestand
des Falles Gerhart Hauptmann kein über¬
mäßig hoffnungsvolles Bild ergibt. Gerhart
Hauptmanns Kunst zeigt seit nichr als
zehn Jahren allerlei verdächtige Spuren des
Niedergangs. Den, Dichter der „Weber",
des „Biberpelzes" und des „Fuhrmann
Henschel" ist sein junger Ruhm zur furcht¬
baren Geißel geworden, zum Lorbeerkranz,
der ihn gedrückt und schließlich nahezu er¬
drosselt hat. Gesetze und innerlich ratlos
schleppt sich Hauptmann jahraus jahrein von
Arbeit zu Arbeit. Seine Stimme, die früher
voll und metallen erklang, ist längst hohl und
bleichem geworden. Sein sympathischer Hol¬

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beinkopf, der seinen ersten Dichtungen ihre
eigene Physiognomie, ihren eigenen Duft, ihren
eigenen Menschlichkeitsgehalt gab, hat kaum
mehr etwas gemein und den unerlebter
und unbeseelten Schattengestalten, die seit
zehn Jahren — wenn man von dem starken
gedanklichen Gehalt etwa des „Emanuel
Quint" absieht — aus seiner Werkstatt ge¬
kommen sind. Das eine, was nottut, ist
ihm in der äußeren und inneren Unrast seines
Lebens verloren gegangen: die Klarheit über
sich selbst, die Möglichkeit, eigenes Erleben
ausreifen zu lassen, und damit die Kraft,
das eigene Erleben nun auch in die bunt-
farbene Welt des Kunstwerks zu Projizieren.
Wenn das Nietzsche-Wort gilt, daß man von
allem Geschriebenen das achten soll, was einer
mit seinem Herzblut schrieb, dann ist der
Hauptmann des letzten Dezenniums zu neun
Zehnteln gerichtet.

Das eine Zehntel aber, das übrig bleibt,
ist nicht mehr reich, nicht mehr lebenskräftig
genug, um alle schmerzlichen Enttäuschungen
auch nur einigermaßen wettzumachen. Als
Beitrag zur Psychologie einer tragischen Dichter-
dekadence wird es seinen Platz behaupten.
Den Glauben an den alten Gerhart Haupt¬
mann kann es uns nicht wiedergeben. Im¬
merhin: es ist uns willkommen, weil es an
Stelle der ohne inneren Zwang und nur aus
kleinlicher Angst um den eigenen Ruhm ge¬
zeugten Geschöpfe der letzten Jahre endlich
wieder einen aufrichtigen, wahrhaftigen und
menschlichen Ton setzt. Die Tragödie von
„Gabriel Schillings Flucht" so gut wie der
Roman „Atlantis" (beide bei S. Fischer,
Berlin, erschienen) sind offenbar der Nieder¬
schlag schwerer innerer Krisen, die der alternde
Mensch Gerhart Hauptmann mit sich selber
auszumachen hatte; Bekenntnisse sozusagen,
denen die Aufrichtigkeit des Bekenners ihren
eigenen Adel gibt — freilich, ohne sie damit
zu Dichtungen im letzten und höchsten Sinne
zu stempeln.

Vom „Gabriel Schilling", dieser bei aller
Würdigkeit sympathischen Alterstragödie, soll
hier nicht geredet werden. Sie ist über die
deutsche Bühne gegangen, ist überreichlich
kommentiert und bekrittelt worden, hat für
kurze Zeit so etwas wie den letzten Glanz
der niedergehenden Sonne um sich her ver-

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[0245] Maßgebliches und Unmaßgebliches inneren Politik schon ziemlich anstandslos be¬ handeln. Nur über der letzten Dekade von Bismarcks Heldenleben wallen noch verhüllende Schleier, freilich auch schon vielfach durch¬ brochen. Wer soll die Arbeit auf sich nehmen? Die historischen Seminare der Philosophischen Fakultäten, soweit sie sich mit der neuesten Geschichte befassen. Mögen die jungen Historiker unter Anleitung ihrer Professoren uns aus Bismarcks Schatz an Erfahrungen ein von Politischen Nebenabsichten freies Rüst¬ zeug zur politischen Aufklärung der Nation liefern. Solch ein Werk, spätestens im Jubiläumsjahre begonnen, würde für wahr ein würdiges Geschenk an die Nation zum hundertsten Geburtstage des Roichsschmieds i G. Li. m Jahre 1915 bedeuten. 5adore Literatur Neues von und über Gerhart Haupt¬ mann. Jetzt, da die Phrasenwelle zurückzu- ebben beginnt, die den funfzigjährigen Gerhart Hauptmann während der verflossenen Winter¬ monate umtobte und überschwemmte, darf Wohl auch der nüchterne und ruhig wägende Verstand sich wieder zu Worte melden. Das übertriebene Jubilieren und Toasten gehört nun einmal zur Signatur dieser Zeit. Tiefer blickende Menschen werde» sich durch solche stets wiederkehrende Erscheinungen nicht ernst¬ haft beunruhigen lassen. Denn jedem Traum ist noch immer das Erwachen, jedem Rausch noch immer die Nüchternheit gefolgt. Wenn wir nun heute den Dingen klar u»d unbestechlich ins Auge sehen, werden wir feststellen müssen, daß der jüngste Tatbestand des Falles Gerhart Hauptmann kein über¬ mäßig hoffnungsvolles Bild ergibt. Gerhart Hauptmanns Kunst zeigt seit nichr als zehn Jahren allerlei verdächtige Spuren des Niedergangs. Den, Dichter der „Weber", des „Biberpelzes" und des „Fuhrmann Henschel" ist sein junger Ruhm zur furcht¬ baren Geißel geworden, zum Lorbeerkranz, der ihn gedrückt und schließlich nahezu er¬ drosselt hat. Gesetze und innerlich ratlos schleppt sich Hauptmann jahraus jahrein von Arbeit zu Arbeit. Seine Stimme, die früher voll und metallen erklang, ist längst hohl und bleichem geworden. Sein sympathischer Hol¬ beinkopf, der seinen ersten Dichtungen ihre eigene Physiognomie, ihren eigenen Duft, ihren eigenen Menschlichkeitsgehalt gab, hat kaum mehr etwas gemein und den unerlebter und unbeseelten Schattengestalten, die seit zehn Jahren — wenn man von dem starken gedanklichen Gehalt etwa des „Emanuel Quint" absieht — aus seiner Werkstatt ge¬ kommen sind. Das eine, was nottut, ist ihm in der äußeren und inneren Unrast seines Lebens verloren gegangen: die Klarheit über sich selbst, die Möglichkeit, eigenes Erleben ausreifen zu lassen, und damit die Kraft, das eigene Erleben nun auch in die bunt- farbene Welt des Kunstwerks zu Projizieren. Wenn das Nietzsche-Wort gilt, daß man von allem Geschriebenen das achten soll, was einer mit seinem Herzblut schrieb, dann ist der Hauptmann des letzten Dezenniums zu neun Zehnteln gerichtet. Das eine Zehntel aber, das übrig bleibt, ist nicht mehr reich, nicht mehr lebenskräftig genug, um alle schmerzlichen Enttäuschungen auch nur einigermaßen wettzumachen. Als Beitrag zur Psychologie einer tragischen Dichter- dekadence wird es seinen Platz behaupten. Den Glauben an den alten Gerhart Haupt¬ mann kann es uns nicht wiedergeben. Im¬ merhin: es ist uns willkommen, weil es an Stelle der ohne inneren Zwang und nur aus kleinlicher Angst um den eigenen Ruhm ge¬ zeugten Geschöpfe der letzten Jahre endlich wieder einen aufrichtigen, wahrhaftigen und menschlichen Ton setzt. Die Tragödie von „Gabriel Schillings Flucht" so gut wie der Roman „Atlantis" (beide bei S. Fischer, Berlin, erschienen) sind offenbar der Nieder¬ schlag schwerer innerer Krisen, die der alternde Mensch Gerhart Hauptmann mit sich selber auszumachen hatte; Bekenntnisse sozusagen, denen die Aufrichtigkeit des Bekenners ihren eigenen Adel gibt — freilich, ohne sie damit zu Dichtungen im letzten und höchsten Sinne zu stempeln. Vom „Gabriel Schilling", dieser bei aller Würdigkeit sympathischen Alterstragödie, soll hier nicht geredet werden. Sie ist über die deutsche Bühne gegangen, ist überreichlich kommentiert und bekrittelt worden, hat für kurze Zeit so etwas wie den letzten Glanz der niedergehenden Sonne um sich her ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/245>, abgerufen am 27.04.2024.