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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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außer dieser Hesseschen Ausgabe des "Titan"
die Bearbeitung des "Siebenkäs" durch Brix
Förster, den Enkel des Dichters (Stuttgart
1891). Hesse hat sich noch enger als Förster
an den Jean Paulschen Wortlaut gehalten;
sein Umformen besteht ganz im Weglassen
des allenfalls Entbehrlichen. Daß man be¬
züglich der Auswahl solcher zu streichender
Stellen auch einmal anderer Meinung sein
kann als der Bearbeiter, ist selbstverständlich
und soll nicht in tadelnden Ton gesagt werden.
HesseS Grundprinzip ist daS richtige. Zur
weiteren Bearbeitung scheint er zunächst die
"Flegeljahre" Jean Pauls in Aussicht ge¬
nommen zu haben, eine Aufgabe, die ihm mit
Recht als die gefährlichere erscheint, obwohl
die Operation dort geringere Teile fortzu¬
schaffen hat. Aber die Arbeit wäre lohnend;
einen großen Leserkreis möchte man den
"Flegeljahren" besonders wünschen: sie sollten
ein deutsches Nationalbuch sein.

Wer übrigens den Einfluß des Dichters
der "Flegeljahre" und des "Wuz" in Hesses
eigenen Romanen verspürt hat, wird sich
keinen Augenblick darüber Wundern, daß
gerade Hesse Neigung und Beruf fühlt, für
Jean Paul zu wirken.

Karl Freye
Tagesfragen
Moderne Krcbsbehimdlung und Öffentlich¬

keit.

Wieviel Mittel gegen bösartige Geschwülste
haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten
nun eigentlich erlebt? sera, interne Präparate,
Strahlen mit allen möglichen Buchstaben des
griechischen Alphabetes. Vor einem Jahr
etwa wurde wieder einmal die Arsenikbe¬
handlung, die schon Billroth in seinen Kliniken
angewandt hatte, neu entdeckt. Und in irgend¬
einem Krankenhaus besann man sich gar auf
das gute alte Schöllkraut, das in verstaubten
pharmakologischen Scharteken aus dem Be¬
ginn des neunzehnten Jahrhunderts als Pro¬
bates Mittel gegen "den" Krebs empfohlen
wird. Wir sind von Resignation zu Resig¬
nation getaumelt, seit im Bewußtsein der
Menge die Furcht vor bösartigen Geschwülsten
mächtig geworden ist. Ist es der Enttäu¬
schungen am Ende nicht genug?

Wie steht denn heute eigentlich die Frage?
Der Laie gemeinhin hofft auf die Entdeckung

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des Krebserregers, und die Tagespresse se¬
kundiert ihm, indem sie von Zeit zu Zeit die
Feuilletonspalten mit der Kunde von der end¬
lichen Verhaftung des Übeltäters füllt. Und
im Laboratorium wird die Hoffnung ihn je
zu finden, kleiner und kleiner: überwiegt
immer mehr die Ansicht, daß kein geformte?
Lebewesen, BazilluS oder Protozoon -- die
Geschwülste hervorruft. Dort wird es immer
gewisser, daß die bösartige Geschwulst nichts
anderes ist, als das explosive, anarchistische
Wuchern einer einzigen jugendlichen, em¬
bryonalen Zelle, die jahrzehntelang von der
Entwicklung vergessen im Körper lag und
nun, durch irgendeinen äußeren Reiz nus dem
Schlaf geweckt, sich auf ihre -- Jugendkraft,
auf ihre gewaltige, bisher ungenützte Ver¬
mehrungsfähigkeit besinnt und dem Körper
zum Verderben zu wuchern anfängt.

So liegen die Dinge heute. Und mit
dieser Erkenntnis müssen wir uns klar wer¬
den, daß wir bei der Vernichtung einer bös¬
artigen Geschwulst offenbar gegen unser eigen
Fleisch und Blut zu Felde ziehen, gegen
unsere ureigene menschliche Körperzelle, Die
Aussichten auf einen Erfolg sind also
wesentlich geringer als bei einer Behand¬
lung von Infektionskrankheiten. Denn dort
soll ja (und kann auch) ein Fremd¬
ling, ein Einbrecher getötet werden. Dort
verfügen wir über chemische und vor allem
dem Körper selbst als sera entnommene
Gegenmittel, deren Affinität zum Leibe des
Eindringlings allein außer allem Zweifel
steht. Hier aber treffen wir mit allem, was
wir unternehmen, das eigene, auch das ge¬
sunde Gewebe. Das ist die innerste und
bisher trostloseste Schwierigkeit des Karzinom-
Problems^

Mittel, auch die Krebszelle zu vernichten,
besitzt die Medizin seit Jahrzehnten. Aber
sie zerstören eben auch das gesunde Gewebe.
So ist nun natürlich alles Bemühen darauf
gerichtet, Stoffe zu finden, die chemisch oder
biologisch nur mit der Krebszelle verwandt
sind, mithin nur auf die Krebszelle wirken
können. Diese "elektive" Wirkung war die
große Hoffnung dieses Sommers, als man
in Radium und Mesothorium sein Heil suchte.
Und eben diese Hoffnung hat sich bisher zum
niindesten -- nicht erfüllt. Gewiß, daS

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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außer dieser Hesseschen Ausgabe des „Titan"
die Bearbeitung des „Siebenkäs" durch Brix
Förster, den Enkel des Dichters (Stuttgart
1891). Hesse hat sich noch enger als Förster
an den Jean Paulschen Wortlaut gehalten;
sein Umformen besteht ganz im Weglassen
des allenfalls Entbehrlichen. Daß man be¬
züglich der Auswahl solcher zu streichender
Stellen auch einmal anderer Meinung sein
kann als der Bearbeiter, ist selbstverständlich
und soll nicht in tadelnden Ton gesagt werden.
HesseS Grundprinzip ist daS richtige. Zur
weiteren Bearbeitung scheint er zunächst die
„Flegeljahre" Jean Pauls in Aussicht ge¬
nommen zu haben, eine Aufgabe, die ihm mit
Recht als die gefährlichere erscheint, obwohl
die Operation dort geringere Teile fortzu¬
schaffen hat. Aber die Arbeit wäre lohnend;
einen großen Leserkreis möchte man den
„Flegeljahren" besonders wünschen: sie sollten
ein deutsches Nationalbuch sein.

Wer übrigens den Einfluß des Dichters
der „Flegeljahre" und des „Wuz" in Hesses
eigenen Romanen verspürt hat, wird sich
keinen Augenblick darüber Wundern, daß
gerade Hesse Neigung und Beruf fühlt, für
Jean Paul zu wirken.

Karl Freye
Tagesfragen
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keit.

Wieviel Mittel gegen bösartige Geschwülste
haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten
nun eigentlich erlebt? sera, interne Präparate,
Strahlen mit allen möglichen Buchstaben des
griechischen Alphabetes. Vor einem Jahr
etwa wurde wieder einmal die Arsenikbe¬
handlung, die schon Billroth in seinen Kliniken
angewandt hatte, neu entdeckt. Und in irgend¬
einem Krankenhaus besann man sich gar auf
das gute alte Schöllkraut, das in verstaubten
pharmakologischen Scharteken aus dem Be¬
ginn des neunzehnten Jahrhunderts als Pro¬
bates Mittel gegen „den" Krebs empfohlen
wird. Wir sind von Resignation zu Resig¬
nation getaumelt, seit im Bewußtsein der
Menge die Furcht vor bösartigen Geschwülsten
mächtig geworden ist. Ist es der Enttäu¬
schungen am Ende nicht genug?

Wie steht denn heute eigentlich die Frage?
Der Laie gemeinhin hofft auf die Entdeckung

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des Krebserregers, und die Tagespresse se¬
kundiert ihm, indem sie von Zeit zu Zeit die
Feuilletonspalten mit der Kunde von der end¬
lichen Verhaftung des Übeltäters füllt. Und
im Laboratorium wird die Hoffnung ihn je
zu finden, kleiner und kleiner: überwiegt
immer mehr die Ansicht, daß kein geformte?
Lebewesen, BazilluS oder Protozoon — die
Geschwülste hervorruft. Dort wird es immer
gewisser, daß die bösartige Geschwulst nichts
anderes ist, als das explosive, anarchistische
Wuchern einer einzigen jugendlichen, em¬
bryonalen Zelle, die jahrzehntelang von der
Entwicklung vergessen im Körper lag und
nun, durch irgendeinen äußeren Reiz nus dem
Schlaf geweckt, sich auf ihre — Jugendkraft,
auf ihre gewaltige, bisher ungenützte Ver¬
mehrungsfähigkeit besinnt und dem Körper
zum Verderben zu wuchern anfängt.

So liegen die Dinge heute. Und mit
dieser Erkenntnis müssen wir uns klar wer¬
den, daß wir bei der Vernichtung einer bös¬
artigen Geschwulst offenbar gegen unser eigen
Fleisch und Blut zu Felde ziehen, gegen
unsere ureigene menschliche Körperzelle, Die
Aussichten auf einen Erfolg sind also
wesentlich geringer als bei einer Behand¬
lung von Infektionskrankheiten. Denn dort
soll ja (und kann auch) ein Fremd¬
ling, ein Einbrecher getötet werden. Dort
verfügen wir über chemische und vor allem
dem Körper selbst als sera entnommene
Gegenmittel, deren Affinität zum Leibe des
Eindringlings allein außer allem Zweifel
steht. Hier aber treffen wir mit allem, was
wir unternehmen, das eigene, auch das ge¬
sunde Gewebe. Das ist die innerste und
bisher trostloseste Schwierigkeit des Karzinom-
Problems^

Mittel, auch die Krebszelle zu vernichten,
besitzt die Medizin seit Jahrzehnten. Aber
sie zerstören eben auch das gesunde Gewebe.
So ist nun natürlich alles Bemühen darauf
gerichtet, Stoffe zu finden, die chemisch oder
biologisch nur mit der Krebszelle verwandt
sind, mithin nur auf die Krebszelle wirken
können. Diese „elektive" Wirkung war die
große Hoffnung dieses Sommers, als man
in Radium und Mesothorium sein Heil suchte.
Und eben diese Hoffnung hat sich bisher zum
niindesten — nicht erfüllt. Gewiß, daS

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[0296] Maßgebliches und Unmaßgebliches außer dieser Hesseschen Ausgabe des „Titan" die Bearbeitung des „Siebenkäs" durch Brix Förster, den Enkel des Dichters (Stuttgart 1891). Hesse hat sich noch enger als Förster an den Jean Paulschen Wortlaut gehalten; sein Umformen besteht ganz im Weglassen des allenfalls Entbehrlichen. Daß man be¬ züglich der Auswahl solcher zu streichender Stellen auch einmal anderer Meinung sein kann als der Bearbeiter, ist selbstverständlich und soll nicht in tadelnden Ton gesagt werden. HesseS Grundprinzip ist daS richtige. Zur weiteren Bearbeitung scheint er zunächst die „Flegeljahre" Jean Pauls in Aussicht ge¬ nommen zu haben, eine Aufgabe, die ihm mit Recht als die gefährlichere erscheint, obwohl die Operation dort geringere Teile fortzu¬ schaffen hat. Aber die Arbeit wäre lohnend; einen großen Leserkreis möchte man den „Flegeljahren" besonders wünschen: sie sollten ein deutsches Nationalbuch sein. Wer übrigens den Einfluß des Dichters der „Flegeljahre" und des „Wuz" in Hesses eigenen Romanen verspürt hat, wird sich keinen Augenblick darüber Wundern, daß gerade Hesse Neigung und Beruf fühlt, für Jean Paul zu wirken. Karl Freye Tagesfragen Moderne Krcbsbehimdlung und Öffentlich¬ keit. Wieviel Mittel gegen bösartige Geschwülste haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten nun eigentlich erlebt? sera, interne Präparate, Strahlen mit allen möglichen Buchstaben des griechischen Alphabetes. Vor einem Jahr etwa wurde wieder einmal die Arsenikbe¬ handlung, die schon Billroth in seinen Kliniken angewandt hatte, neu entdeckt. Und in irgend¬ einem Krankenhaus besann man sich gar auf das gute alte Schöllkraut, das in verstaubten pharmakologischen Scharteken aus dem Be¬ ginn des neunzehnten Jahrhunderts als Pro¬ bates Mittel gegen „den" Krebs empfohlen wird. Wir sind von Resignation zu Resig¬ nation getaumelt, seit im Bewußtsein der Menge die Furcht vor bösartigen Geschwülsten mächtig geworden ist. Ist es der Enttäu¬ schungen am Ende nicht genug? Wie steht denn heute eigentlich die Frage? Der Laie gemeinhin hofft auf die Entdeckung des Krebserregers, und die Tagespresse se¬ kundiert ihm, indem sie von Zeit zu Zeit die Feuilletonspalten mit der Kunde von der end¬ lichen Verhaftung des Übeltäters füllt. Und im Laboratorium wird die Hoffnung ihn je zu finden, kleiner und kleiner: überwiegt immer mehr die Ansicht, daß kein geformte? Lebewesen, BazilluS oder Protozoon — die Geschwülste hervorruft. Dort wird es immer gewisser, daß die bösartige Geschwulst nichts anderes ist, als das explosive, anarchistische Wuchern einer einzigen jugendlichen, em¬ bryonalen Zelle, die jahrzehntelang von der Entwicklung vergessen im Körper lag und nun, durch irgendeinen äußeren Reiz nus dem Schlaf geweckt, sich auf ihre — Jugendkraft, auf ihre gewaltige, bisher ungenützte Ver¬ mehrungsfähigkeit besinnt und dem Körper zum Verderben zu wuchern anfängt. So liegen die Dinge heute. Und mit dieser Erkenntnis müssen wir uns klar wer¬ den, daß wir bei der Vernichtung einer bös¬ artigen Geschwulst offenbar gegen unser eigen Fleisch und Blut zu Felde ziehen, gegen unsere ureigene menschliche Körperzelle, Die Aussichten auf einen Erfolg sind also wesentlich geringer als bei einer Behand¬ lung von Infektionskrankheiten. Denn dort soll ja (und kann auch) ein Fremd¬ ling, ein Einbrecher getötet werden. Dort verfügen wir über chemische und vor allem dem Körper selbst als sera entnommene Gegenmittel, deren Affinität zum Leibe des Eindringlings allein außer allem Zweifel steht. Hier aber treffen wir mit allem, was wir unternehmen, das eigene, auch das ge¬ sunde Gewebe. Das ist die innerste und bisher trostloseste Schwierigkeit des Karzinom- Problems^ Mittel, auch die Krebszelle zu vernichten, besitzt die Medizin seit Jahrzehnten. Aber sie zerstören eben auch das gesunde Gewebe. So ist nun natürlich alles Bemühen darauf gerichtet, Stoffe zu finden, die chemisch oder biologisch nur mit der Krebszelle verwandt sind, mithin nur auf die Krebszelle wirken können. Diese „elektive" Wirkung war die große Hoffnung dieses Sommers, als man in Radium und Mesothorium sein Heil suchte. Und eben diese Hoffnung hat sich bisher zum niindesten — nicht erfüllt. Gewiß, daS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/296>, abgerufen am 28.04.2024.