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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Politik der Rangordnung

liegen, ist für uns eine Verständigung mit England das Gegebene. Die Brücke
ist ja bereits geschlagen. Wir stehen mitten in der Detente, und arbeiten
daran, Streitfragen, die die beiden Länder lange getrennt haben, wie die
Bagdadbahnfrage, diplomatisch zu lösen und auszugleichen. Wird dies erfolg¬
reich und geschickt durchgeführt, so ist kaum zu bezweifeln, daß sich auch weitere
gemeinsame Ziele bieten werden. Und wenn diese mit gegenseitigem Vertrauen
verfolgt werden, fo können wir hoffen, zu einer Entente mit England zu ge¬
langen, die sich zwar nicht auf den ganzen Umfang, aber doch auf wichtige
Teile unserer Politik erstrecken und sich in dieser Beschränkung wirksam erweisen
würde.




Politik der Rangordnung
von Moritz Goldstein

aß man sich seine politische Partei, als eine Sache der Gesinnung
und Überzeugung, selber wähle, ist bekanntlich eine Fabel, ersonnen
und aufrecht erhalten von Leuten, die diese Fiktion für ihre
Propaganda und Demagogie nötig haben. Die Wahrheit ist, daß
man in die Partei hineingeboren wird, genau so wie in seine
Religion. Das hindert weder diese noch jene, eine Sache der Überzeugung zu
sein, für die man leben und sterben kann; es hindert auch nicht, daß der eine
und andere die angeborene Religion oder Partei verläßt und sich eine neue
wählt, aus lauteren oder trüben Gründen. Daß der Adel konservativ, der
Proletarier demokratisch gesonnen sei, ist eine Sache der Geburt und ohne weiteres
begreiflich. Aber auch der Liberalismus macht keine Ausnahme von der Regel,
obschon der liberale Mann sie nicht gelten lassen und sich auf den Namen Libe¬
ralismus berufen wird, welcher klar und unzweideutig eine Gesinnung andeute.
Die Gesinnung nämlich derjenigen, welche den gewaltsamen Umsturz des
Bestehenden ebenso verdammen wie das gewaltsame Festhalten am Hergebrachten,
dafür aber den stetigen Fortschritt des Staates und der Menschheit im allgemeinen
wünschen und für ihre Person zu fördern bemüht sind. Dieses Streben --
werden sie sich vernehmen lassen -- setze voraus, daß man das Wohl des Ein¬
zelnen und Kleinen dem des Ganzen und Großen unterzuordnen wisse, und es
sei also eine Sache der Wahl, mindestens des Charakters, kurz der Überzeugung.
Allein die Berufung auf seine Überzeugung ist ein Beweismittel, dessen Gültigkeit
endlich bestritten und dessen Gebrauch verboten werden sollte. Denn es tut sich


Politik der Rangordnung

liegen, ist für uns eine Verständigung mit England das Gegebene. Die Brücke
ist ja bereits geschlagen. Wir stehen mitten in der Detente, und arbeiten
daran, Streitfragen, die die beiden Länder lange getrennt haben, wie die
Bagdadbahnfrage, diplomatisch zu lösen und auszugleichen. Wird dies erfolg¬
reich und geschickt durchgeführt, so ist kaum zu bezweifeln, daß sich auch weitere
gemeinsame Ziele bieten werden. Und wenn diese mit gegenseitigem Vertrauen
verfolgt werden, fo können wir hoffen, zu einer Entente mit England zu ge¬
langen, die sich zwar nicht auf den ganzen Umfang, aber doch auf wichtige
Teile unserer Politik erstrecken und sich in dieser Beschränkung wirksam erweisen
würde.




Politik der Rangordnung
von Moritz Goldstein

aß man sich seine politische Partei, als eine Sache der Gesinnung
und Überzeugung, selber wähle, ist bekanntlich eine Fabel, ersonnen
und aufrecht erhalten von Leuten, die diese Fiktion für ihre
Propaganda und Demagogie nötig haben. Die Wahrheit ist, daß
man in die Partei hineingeboren wird, genau so wie in seine
Religion. Das hindert weder diese noch jene, eine Sache der Überzeugung zu
sein, für die man leben und sterben kann; es hindert auch nicht, daß der eine
und andere die angeborene Religion oder Partei verläßt und sich eine neue
wählt, aus lauteren oder trüben Gründen. Daß der Adel konservativ, der
Proletarier demokratisch gesonnen sei, ist eine Sache der Geburt und ohne weiteres
begreiflich. Aber auch der Liberalismus macht keine Ausnahme von der Regel,
obschon der liberale Mann sie nicht gelten lassen und sich auf den Namen Libe¬
ralismus berufen wird, welcher klar und unzweideutig eine Gesinnung andeute.
Die Gesinnung nämlich derjenigen, welche den gewaltsamen Umsturz des
Bestehenden ebenso verdammen wie das gewaltsame Festhalten am Hergebrachten,
dafür aber den stetigen Fortschritt des Staates und der Menschheit im allgemeinen
wünschen und für ihre Person zu fördern bemüht sind. Dieses Streben —
werden sie sich vernehmen lassen — setze voraus, daß man das Wohl des Ein¬
zelnen und Kleinen dem des Ganzen und Großen unterzuordnen wisse, und es
sei also eine Sache der Wahl, mindestens des Charakters, kurz der Überzeugung.
Allein die Berufung auf seine Überzeugung ist ein Beweismittel, dessen Gültigkeit
endlich bestritten und dessen Gebrauch verboten werden sollte. Denn es tut sich


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[0404] Politik der Rangordnung liegen, ist für uns eine Verständigung mit England das Gegebene. Die Brücke ist ja bereits geschlagen. Wir stehen mitten in der Detente, und arbeiten daran, Streitfragen, die die beiden Länder lange getrennt haben, wie die Bagdadbahnfrage, diplomatisch zu lösen und auszugleichen. Wird dies erfolg¬ reich und geschickt durchgeführt, so ist kaum zu bezweifeln, daß sich auch weitere gemeinsame Ziele bieten werden. Und wenn diese mit gegenseitigem Vertrauen verfolgt werden, fo können wir hoffen, zu einer Entente mit England zu ge¬ langen, die sich zwar nicht auf den ganzen Umfang, aber doch auf wichtige Teile unserer Politik erstrecken und sich in dieser Beschränkung wirksam erweisen würde. Politik der Rangordnung von Moritz Goldstein aß man sich seine politische Partei, als eine Sache der Gesinnung und Überzeugung, selber wähle, ist bekanntlich eine Fabel, ersonnen und aufrecht erhalten von Leuten, die diese Fiktion für ihre Propaganda und Demagogie nötig haben. Die Wahrheit ist, daß man in die Partei hineingeboren wird, genau so wie in seine Religion. Das hindert weder diese noch jene, eine Sache der Überzeugung zu sein, für die man leben und sterben kann; es hindert auch nicht, daß der eine und andere die angeborene Religion oder Partei verläßt und sich eine neue wählt, aus lauteren oder trüben Gründen. Daß der Adel konservativ, der Proletarier demokratisch gesonnen sei, ist eine Sache der Geburt und ohne weiteres begreiflich. Aber auch der Liberalismus macht keine Ausnahme von der Regel, obschon der liberale Mann sie nicht gelten lassen und sich auf den Namen Libe¬ ralismus berufen wird, welcher klar und unzweideutig eine Gesinnung andeute. Die Gesinnung nämlich derjenigen, welche den gewaltsamen Umsturz des Bestehenden ebenso verdammen wie das gewaltsame Festhalten am Hergebrachten, dafür aber den stetigen Fortschritt des Staates und der Menschheit im allgemeinen wünschen und für ihre Person zu fördern bemüht sind. Dieses Streben — werden sie sich vernehmen lassen — setze voraus, daß man das Wohl des Ein¬ zelnen und Kleinen dem des Ganzen und Großen unterzuordnen wisse, und es sei also eine Sache der Wahl, mindestens des Charakters, kurz der Überzeugung. Allein die Berufung auf seine Überzeugung ist ein Beweismittel, dessen Gültigkeit endlich bestritten und dessen Gebrauch verboten werden sollte. Denn es tut sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/404>, abgerufen am 27.04.2024.