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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Lebensbilder

Als eine Ergänzung des überreichen
Materials an Erinnerungen und Aufzeich¬
nungen, mit dem uns die französische Re¬
volution und ihre Folgezeit überschüttet hat,
erschienen kürzlich im Xenienverlage (Leipzig)
die "Memoiren der Marquise de
Cröquy ". Das Buch, einstmals für den Enkel
bestimmt, ist sehr persönlich gehalten; doch
würde sein Ton kaum anders sein, wenn die
Schreiberin sich auch an einen sehr weiten
Leserkreis der Zukunft gewandt hätte. Denn
die Dame, der bei ihren ersten Schritten in
die Pariser Salons der roi soleil die Hand
küszte und die als Greisin eine lange Unter¬
redung mit Napoleon hatte, war ihr Lebtag
zu ängstlich eingehegt in die Vorurteile ihres
Standes, daß ihr Geist einen kühnerem Flug,
ihre Individualität eine freiere Entfaltung
hätte wagen können. Allerlei Eifersüchteleien
in Ncmgfragen und pikante Geschichten, an
denen die Zeit der röZenee und der Regie¬
rung Ludwigs des Fünfzehnten reich war,
scheinen ihr wichtig genug, um ihren Enkel¬
kindern übermittelt zu werden. Und doch
war diese Frau ein starker Charakter; während
der Schreckensherrschaft überdauerte sie die
Unbill einer langen Haft mit ungebrochenen
Mut und stritt beherzt für das Familienerbe,
während ihr Sohn sich im Auslande aufhielt.
Eben dieseAngelegenheitließdiebeinahehundert-
jährige Greisin eine Audienz in den Tuilerien
nachsuchen, wo General Bonaparte, derzeit

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erster Konsul, residierte. Sie hat diese Unter¬
redung aufgezeichnet, nachdem Sohn und
Enkelkinder schon alle zur letzten Ruhe ein¬
gegangen waren und sie allein gelassen hatten;
und gerade hier scheint die Freude über einen
Sieg, den sie nur ihrem Geist, ihrer Per¬
sönlichkeit dankte, einmal die starren Schranken
zu durchbrechen, die das Reinmenschliche, das
über Raum und Zeit Beredte, vom mensch¬
lichen Verstehen so leicht trennen. Hier meint
man ihre leise ironischen, lächelnd überlegenen
Antworten zu hören, ihr kaum merkliches Sich¬
abwenden zu belauschen, als der Eroberer
der Pyramiden -- ce pauvrs solästl -- sich
herausnimmt, ihren Geist zu loben. Napoleon
aber mochte in diesem ungebeugten Willen
der stolzen Aristokratie eine ferne Wesensver¬
wandtschaft fühlen, auch rührte ihn wohl der
Gegensatz zwischen der welken Hülle und der
noch immer elastischen Energie. Und er be¬
willigte ihr die Auslieferung ihrer Wälder
"mit vollendeter Grazie" und beugte sich über
ihre Hand wie weiland der vierzehnte Ludwig.
Die Marquise läßt noch einige nicht uninter¬
essante Erörterungen über die fernere Lauf¬
bahn Napoleons folgen, die freilich den hohen
Flug seines Erobererehrgeizes nicht durch¬
schauen, noch die Stufen des Kaiserthrones
erreichen. Sie erwartete ein früheres Ende.
Aber die letzten Zeilen der Memoiren klingen
doch wie ein Nekrolog nach tragischein Kampf
gegen das Schicksal und ohnmächtigem Er¬
liegen: "Was ist ein Sieg in den Augen der
Besiegten? Was gilt die Kraft gegenüber

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Lebensbilder

Als eine Ergänzung des überreichen
Materials an Erinnerungen und Aufzeich¬
nungen, mit dem uns die französische Re¬
volution und ihre Folgezeit überschüttet hat,
erschienen kürzlich im Xenienverlage (Leipzig)
die „Memoiren der Marquise de
Cröquy ". Das Buch, einstmals für den Enkel
bestimmt, ist sehr persönlich gehalten; doch
würde sein Ton kaum anders sein, wenn die
Schreiberin sich auch an einen sehr weiten
Leserkreis der Zukunft gewandt hätte. Denn
die Dame, der bei ihren ersten Schritten in
die Pariser Salons der roi soleil die Hand
küszte und die als Greisin eine lange Unter¬
redung mit Napoleon hatte, war ihr Lebtag
zu ängstlich eingehegt in die Vorurteile ihres
Standes, daß ihr Geist einen kühnerem Flug,
ihre Individualität eine freiere Entfaltung
hätte wagen können. Allerlei Eifersüchteleien
in Ncmgfragen und pikante Geschichten, an
denen die Zeit der röZenee und der Regie¬
rung Ludwigs des Fünfzehnten reich war,
scheinen ihr wichtig genug, um ihren Enkel¬
kindern übermittelt zu werden. Und doch
war diese Frau ein starker Charakter; während
der Schreckensherrschaft überdauerte sie die
Unbill einer langen Haft mit ungebrochenen
Mut und stritt beherzt für das Familienerbe,
während ihr Sohn sich im Auslande aufhielt.
Eben dieseAngelegenheitließdiebeinahehundert-
jährige Greisin eine Audienz in den Tuilerien
nachsuchen, wo General Bonaparte, derzeit

[Spaltenumbruch]

erster Konsul, residierte. Sie hat diese Unter¬
redung aufgezeichnet, nachdem Sohn und
Enkelkinder schon alle zur letzten Ruhe ein¬
gegangen waren und sie allein gelassen hatten;
und gerade hier scheint die Freude über einen
Sieg, den sie nur ihrem Geist, ihrer Per¬
sönlichkeit dankte, einmal die starren Schranken
zu durchbrechen, die das Reinmenschliche, das
über Raum und Zeit Beredte, vom mensch¬
lichen Verstehen so leicht trennen. Hier meint
man ihre leise ironischen, lächelnd überlegenen
Antworten zu hören, ihr kaum merkliches Sich¬
abwenden zu belauschen, als der Eroberer
der Pyramiden — ce pauvrs solästl — sich
herausnimmt, ihren Geist zu loben. Napoleon
aber mochte in diesem ungebeugten Willen
der stolzen Aristokratie eine ferne Wesensver¬
wandtschaft fühlen, auch rührte ihn wohl der
Gegensatz zwischen der welken Hülle und der
noch immer elastischen Energie. Und er be¬
willigte ihr die Auslieferung ihrer Wälder
„mit vollendeter Grazie" und beugte sich über
ihre Hand wie weiland der vierzehnte Ludwig.
Die Marquise läßt noch einige nicht uninter¬
essante Erörterungen über die fernere Lauf¬
bahn Napoleons folgen, die freilich den hohen
Flug seines Erobererehrgeizes nicht durch¬
schauen, noch die Stufen des Kaiserthrones
erreichen. Sie erwartete ein früheres Ende.
Aber die letzten Zeilen der Memoiren klingen
doch wie ein Nekrolog nach tragischein Kampf
gegen das Schicksal und ohnmächtigem Er¬
liegen: „Was ist ein Sieg in den Augen der
Besiegten? Was gilt die Kraft gegenüber

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[0544] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Lebensbilder Als eine Ergänzung des überreichen Materials an Erinnerungen und Aufzeich¬ nungen, mit dem uns die französische Re¬ volution und ihre Folgezeit überschüttet hat, erschienen kürzlich im Xenienverlage (Leipzig) die „Memoiren der Marquise de Cröquy ". Das Buch, einstmals für den Enkel bestimmt, ist sehr persönlich gehalten; doch würde sein Ton kaum anders sein, wenn die Schreiberin sich auch an einen sehr weiten Leserkreis der Zukunft gewandt hätte. Denn die Dame, der bei ihren ersten Schritten in die Pariser Salons der roi soleil die Hand küszte und die als Greisin eine lange Unter¬ redung mit Napoleon hatte, war ihr Lebtag zu ängstlich eingehegt in die Vorurteile ihres Standes, daß ihr Geist einen kühnerem Flug, ihre Individualität eine freiere Entfaltung hätte wagen können. Allerlei Eifersüchteleien in Ncmgfragen und pikante Geschichten, an denen die Zeit der röZenee und der Regie¬ rung Ludwigs des Fünfzehnten reich war, scheinen ihr wichtig genug, um ihren Enkel¬ kindern übermittelt zu werden. Und doch war diese Frau ein starker Charakter; während der Schreckensherrschaft überdauerte sie die Unbill einer langen Haft mit ungebrochenen Mut und stritt beherzt für das Familienerbe, während ihr Sohn sich im Auslande aufhielt. Eben dieseAngelegenheitließdiebeinahehundert- jährige Greisin eine Audienz in den Tuilerien nachsuchen, wo General Bonaparte, derzeit erster Konsul, residierte. Sie hat diese Unter¬ redung aufgezeichnet, nachdem Sohn und Enkelkinder schon alle zur letzten Ruhe ein¬ gegangen waren und sie allein gelassen hatten; und gerade hier scheint die Freude über einen Sieg, den sie nur ihrem Geist, ihrer Per¬ sönlichkeit dankte, einmal die starren Schranken zu durchbrechen, die das Reinmenschliche, das über Raum und Zeit Beredte, vom mensch¬ lichen Verstehen so leicht trennen. Hier meint man ihre leise ironischen, lächelnd überlegenen Antworten zu hören, ihr kaum merkliches Sich¬ abwenden zu belauschen, als der Eroberer der Pyramiden — ce pauvrs solästl — sich herausnimmt, ihren Geist zu loben. Napoleon aber mochte in diesem ungebeugten Willen der stolzen Aristokratie eine ferne Wesensver¬ wandtschaft fühlen, auch rührte ihn wohl der Gegensatz zwischen der welken Hülle und der noch immer elastischen Energie. Und er be¬ willigte ihr die Auslieferung ihrer Wälder „mit vollendeter Grazie" und beugte sich über ihre Hand wie weiland der vierzehnte Ludwig. Die Marquise läßt noch einige nicht uninter¬ essante Erörterungen über die fernere Lauf¬ bahn Napoleons folgen, die freilich den hohen Flug seines Erobererehrgeizes nicht durch¬ schauen, noch die Stufen des Kaiserthrones erreichen. Sie erwartete ein früheres Ende. Aber die letzten Zeilen der Memoiren klingen doch wie ein Nekrolog nach tragischein Kampf gegen das Schicksal und ohnmächtigem Er¬ liegen: „Was ist ein Sieg in den Augen der Besiegten? Was gilt die Kraft gegenüber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/544>, abgerufen am 27.04.2024.