Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Wie Grmina Harem über das große Wasser kam
von Otto Rung Erzählung

uf dem Deck eines italienischen Dampfers hatte eine schwarz¬
gekleidete Frauensperson ganz achterwärts hinter dem Eisschrank des
Stewards ihren ständigen Platz gewählt. Da saß sie auf ihrem
kleinen Bündel, das ihr ganzes Gepäck enthielt, und rückte den
ganzen Tag dem Schatten nach. Denn nur Hunde und Europäer
suchen die Sonne auf.

Sie war kaum fünfzig Jahre, sah aber aus wie ein altes Weib: untersetzt,
sehr ruhig, mit einem milden runzlichen Antlitz, das unbewegt unter dem
Kopfschal hervorblickte. Ihr Name war Ermina Harem und sie war aus der
Stadt Keile in Mittelägnpten. Die einzige Sprache, die sie verstand, war das
Arabisch, das in Ägypten gesprochen wird; übrigens war sie eine Art Christin
-- eine ,,'Jbteeh". wie sie selbst sich nannte --, eine Jakobitin oder Koptin.
Außer den Namen von einigen Dutzend Heiligen- und Fasttagen: den Ver-
kündigungs- und Geburtsfesten, der großen Tauffeier el ^Kitas", wo Knaben
und Männer in den gesegneten Nil tauchen, und den heiligen Osterfesten wußte
sie jedoch nichts Näheres von ihrer Religion. Für alle diese Dinge sorgte ja
der heilige Patriarch in Masr und der Diakonus an ihrer Kirche in Keile.
Vater Girgis, der jeden Sabbat und insbesondere jeden "Sonnabend des Lichts"
von dem allerheiligsten HelÄ, der Basilika herab, verhüllt von dem Vorhang
mit dem Goldkreuz, den Tagestext der koptischen Liturgie las, in jener uralten
Sprache, die nicht einmal er selbst, geschweige denn sie verstand. Denn Gott,
den sie gleich den Arabern Allah nannte, hat diese Sprache den Menschen ver¬
borgen gehalten, auf daß sie Gottes Sprache allein sei!

Da war sie mit den anderen Weibern hinter dem rauchgeschwärzten Gitter
des geschlossenen Kirchenstuhles gestanden, wo alle Familienneuigkeiten der Stadt
mit genügend lauter Stimme erörtert wurden, um Gehör zu finden neben dem
Rosenkranzgebet des Chors, dem einundvierzigmal wiederholten "Oh Allah!
Sei barmherzig!"

Sie selbst aber stand still und lauschend unter den schwatzenden Bet¬
schwestern. Denn all ihre Frömmigkeit sammelte sich um vier Stimmen, die
sie im Chor unterschied, und um vier Gestalten, die sie durch die Schranken
des Abdens erkannte: ihre vier Söhne, ihre Jungen Uakub, Uussuf, Dawoud
und Simon! Da standen sie unter den singenden Akolyten, mit dem schwarzen


39*


Wie Grmina Harem über das große Wasser kam
von Otto Rung Erzählung

uf dem Deck eines italienischen Dampfers hatte eine schwarz¬
gekleidete Frauensperson ganz achterwärts hinter dem Eisschrank des
Stewards ihren ständigen Platz gewählt. Da saß sie auf ihrem
kleinen Bündel, das ihr ganzes Gepäck enthielt, und rückte den
ganzen Tag dem Schatten nach. Denn nur Hunde und Europäer
suchen die Sonne auf.

Sie war kaum fünfzig Jahre, sah aber aus wie ein altes Weib: untersetzt,
sehr ruhig, mit einem milden runzlichen Antlitz, das unbewegt unter dem
Kopfschal hervorblickte. Ihr Name war Ermina Harem und sie war aus der
Stadt Keile in Mittelägnpten. Die einzige Sprache, die sie verstand, war das
Arabisch, das in Ägypten gesprochen wird; übrigens war sie eine Art Christin
— eine ,,'Jbteeh". wie sie selbst sich nannte —, eine Jakobitin oder Koptin.
Außer den Namen von einigen Dutzend Heiligen- und Fasttagen: den Ver-
kündigungs- und Geburtsfesten, der großen Tauffeier el ^Kitas", wo Knaben
und Männer in den gesegneten Nil tauchen, und den heiligen Osterfesten wußte
sie jedoch nichts Näheres von ihrer Religion. Für alle diese Dinge sorgte ja
der heilige Patriarch in Masr und der Diakonus an ihrer Kirche in Keile.
Vater Girgis, der jeden Sabbat und insbesondere jeden „Sonnabend des Lichts"
von dem allerheiligsten HelÄ, der Basilika herab, verhüllt von dem Vorhang
mit dem Goldkreuz, den Tagestext der koptischen Liturgie las, in jener uralten
Sprache, die nicht einmal er selbst, geschweige denn sie verstand. Denn Gott,
den sie gleich den Arabern Allah nannte, hat diese Sprache den Menschen ver¬
borgen gehalten, auf daß sie Gottes Sprache allein sei!

Da war sie mit den anderen Weibern hinter dem rauchgeschwärzten Gitter
des geschlossenen Kirchenstuhles gestanden, wo alle Familienneuigkeiten der Stadt
mit genügend lauter Stimme erörtert wurden, um Gehör zu finden neben dem
Rosenkranzgebet des Chors, dem einundvierzigmal wiederholten „Oh Allah!
Sei barmherzig!"

Sie selbst aber stand still und lauschend unter den schwatzenden Bet¬
schwestern. Denn all ihre Frömmigkeit sammelte sich um vier Stimmen, die
sie im Chor unterschied, und um vier Gestalten, die sie durch die Schranken
des Abdens erkannte: ihre vier Söhne, ihre Jungen Uakub, Uussuf, Dawoud
und Simon! Da standen sie unter den singenden Akolyten, mit dem schwarzen


39*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0615" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327427"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341897_326811/figures/grenzboten_341897_326811_327427_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Wie Grmina Harem über das große Wasser kam<lb/><note type="byline"> von Otto Rung</note> Erzählung</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2436"> uf dem Deck eines italienischen Dampfers hatte eine schwarz¬<lb/>
gekleidete Frauensperson ganz achterwärts hinter dem Eisschrank des<lb/>
Stewards ihren ständigen Platz gewählt. Da saß sie auf ihrem<lb/>
kleinen Bündel, das ihr ganzes Gepäck enthielt, und rückte den<lb/>
ganzen Tag dem Schatten nach. Denn nur Hunde und Europäer<lb/>
suchen die Sonne auf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2437"> Sie war kaum fünfzig Jahre, sah aber aus wie ein altes Weib: untersetzt,<lb/>
sehr ruhig, mit einem milden runzlichen Antlitz, das unbewegt unter dem<lb/>
Kopfschal hervorblickte. Ihr Name war Ermina Harem und sie war aus der<lb/>
Stadt Keile in Mittelägnpten. Die einzige Sprache, die sie verstand, war das<lb/>
Arabisch, das in Ägypten gesprochen wird; übrigens war sie eine Art Christin<lb/>
&#x2014; eine ,,'Jbteeh". wie sie selbst sich nannte &#x2014;, eine Jakobitin oder Koptin.<lb/>
Außer den Namen von einigen Dutzend Heiligen- und Fasttagen: den Ver-<lb/>
kündigungs- und Geburtsfesten, der großen Tauffeier el ^Kitas", wo Knaben<lb/>
und Männer in den gesegneten Nil tauchen, und den heiligen Osterfesten wußte<lb/>
sie jedoch nichts Näheres von ihrer Religion. Für alle diese Dinge sorgte ja<lb/>
der heilige Patriarch in Masr und der Diakonus an ihrer Kirche in Keile.<lb/>
Vater Girgis, der jeden Sabbat und insbesondere jeden &#x201E;Sonnabend des Lichts"<lb/>
von dem allerheiligsten HelÄ, der Basilika herab, verhüllt von dem Vorhang<lb/>
mit dem Goldkreuz, den Tagestext der koptischen Liturgie las, in jener uralten<lb/>
Sprache, die nicht einmal er selbst, geschweige denn sie verstand. Denn Gott,<lb/>
den sie gleich den Arabern Allah nannte, hat diese Sprache den Menschen ver¬<lb/>
borgen gehalten, auf daß sie Gottes Sprache allein sei!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2438"> Da war sie mit den anderen Weibern hinter dem rauchgeschwärzten Gitter<lb/>
des geschlossenen Kirchenstuhles gestanden, wo alle Familienneuigkeiten der Stadt<lb/>
mit genügend lauter Stimme erörtert wurden, um Gehör zu finden neben dem<lb/>
Rosenkranzgebet des Chors, dem einundvierzigmal wiederholten &#x201E;Oh Allah!<lb/>
Sei barmherzig!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2439" next="#ID_2440"> Sie selbst aber stand still und lauschend unter den schwatzenden Bet¬<lb/>
schwestern. Denn all ihre Frömmigkeit sammelte sich um vier Stimmen, die<lb/>
sie im Chor unterschied, und um vier Gestalten, die sie durch die Schranken<lb/>
des Abdens erkannte: ihre vier Söhne, ihre Jungen Uakub, Uussuf, Dawoud<lb/>
und Simon! Da standen sie unter den singenden Akolyten, mit dem schwarzen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 39*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0615] [Abbildung] Wie Grmina Harem über das große Wasser kam von Otto Rung Erzählung uf dem Deck eines italienischen Dampfers hatte eine schwarz¬ gekleidete Frauensperson ganz achterwärts hinter dem Eisschrank des Stewards ihren ständigen Platz gewählt. Da saß sie auf ihrem kleinen Bündel, das ihr ganzes Gepäck enthielt, und rückte den ganzen Tag dem Schatten nach. Denn nur Hunde und Europäer suchen die Sonne auf. Sie war kaum fünfzig Jahre, sah aber aus wie ein altes Weib: untersetzt, sehr ruhig, mit einem milden runzlichen Antlitz, das unbewegt unter dem Kopfschal hervorblickte. Ihr Name war Ermina Harem und sie war aus der Stadt Keile in Mittelägnpten. Die einzige Sprache, die sie verstand, war das Arabisch, das in Ägypten gesprochen wird; übrigens war sie eine Art Christin — eine ,,'Jbteeh". wie sie selbst sich nannte —, eine Jakobitin oder Koptin. Außer den Namen von einigen Dutzend Heiligen- und Fasttagen: den Ver- kündigungs- und Geburtsfesten, der großen Tauffeier el ^Kitas", wo Knaben und Männer in den gesegneten Nil tauchen, und den heiligen Osterfesten wußte sie jedoch nichts Näheres von ihrer Religion. Für alle diese Dinge sorgte ja der heilige Patriarch in Masr und der Diakonus an ihrer Kirche in Keile. Vater Girgis, der jeden Sabbat und insbesondere jeden „Sonnabend des Lichts" von dem allerheiligsten HelÄ, der Basilika herab, verhüllt von dem Vorhang mit dem Goldkreuz, den Tagestext der koptischen Liturgie las, in jener uralten Sprache, die nicht einmal er selbst, geschweige denn sie verstand. Denn Gott, den sie gleich den Arabern Allah nannte, hat diese Sprache den Menschen ver¬ borgen gehalten, auf daß sie Gottes Sprache allein sei! Da war sie mit den anderen Weibern hinter dem rauchgeschwärzten Gitter des geschlossenen Kirchenstuhles gestanden, wo alle Familienneuigkeiten der Stadt mit genügend lauter Stimme erörtert wurden, um Gehör zu finden neben dem Rosenkranzgebet des Chors, dem einundvierzigmal wiederholten „Oh Allah! Sei barmherzig!" Sie selbst aber stand still und lauschend unter den schwatzenden Bet¬ schwestern. Denn all ihre Frömmigkeit sammelte sich um vier Stimmen, die sie im Chor unterschied, und um vier Gestalten, die sie durch die Schranken des Abdens erkannte: ihre vier Söhne, ihre Jungen Uakub, Uussuf, Dawoud und Simon! Da standen sie unter den singenden Akolyten, mit dem schwarzen 39*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/615
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/615>, abgerufen am 27.04.2024.