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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der erste deutsche Herbstsalon
von Dr, R, Schacht

ein Zweifel ist mehr möglich: wir stehen mitten in einer neuen
Kunstbewegung. Was bei uns in Deutschland seit etwa fünf
Jahren erst vereinzelt auftrat und Gelächter oder verächtliches
Achselzucken über anscheinende Verrücktheit. Entrüstung über kecke
Spekulation, aber auch rasch berauschten, allerdings vereinzelten
Enthusiasmus hervorrief, all das, was sich Synthetismus, Expressionismus,
Kubismus oder Futurismus nannte, hat sich jetzt gesammelt und seinen ersten
offiziellen Ausdruck gefunden in einer großen Ausstellung, die nun als "Deutscher
Herbstsalon" neben die zwei bisher bestehenden alljährlichen Kunstrevuen, die
Große Berliner Kunstausstellung und die Sezession treten wird. Unzweifelhaft
also haben wir ein neues Wollen und es erhebt sich zunächst die Frage: Ist
dieses Wollen berechtigt?

Sicher ist einmal, daß das bisher in der Sezession gesammelte Wollen
müde geworden war. Schon daß der Führer zurücktrat, konnte seine tieferen
Gründe nicht in persönlich hervortretenden Differenzen haben, sondern nur darin,
daß das sezessionistische Wollen nicht mehr genug Lebenskraft befaß, ihn bei
seinem Lebenswerk zu halten. Nur so ist es zu erklären, daß schon zwei Jahre
nach dem Rücktritt Liebermanns eine kleine Gruppe recht mittelmäßiger
Begabungen den stolzen Bau mit leichter Mühe sprengen konnte. Die alten
Ideale waren eben nicht mehr stark genug, die im Altern erstarrenden Kräfte
beisammen zu halten. Etwas Neues mußte also kommen.

Ist dieses Neue nun eine bloße Negation, das Neue um jeden Preis?
Ich muß, ohne paradox sein zu wollen, gestehen, daß ich an der neuen Kunst,
wie sie der Herbstsalon repräsentiert, nichts überraschend Neues finden kann.
Mit Ausnahme gewisser futuristischer Ideen, die aber auch ihre Parallelen in
der Lyrik und der Musik haben, finde ich vielmehr in dem anscheinend so
Unerhörten nur teils organische Weiterentwicklung, teils die natürliche Reaktion
gegen endgültig Ausgeprägtes.

Schon der Impressionismus hatte nicht mehr das Wesen der Dinge im
Sinne der Altmeister gegeben, sondern hatte sie artistisch genommen, hatte ihre




Der erste deutsche Herbstsalon
von Dr, R, Schacht

ein Zweifel ist mehr möglich: wir stehen mitten in einer neuen
Kunstbewegung. Was bei uns in Deutschland seit etwa fünf
Jahren erst vereinzelt auftrat und Gelächter oder verächtliches
Achselzucken über anscheinende Verrücktheit. Entrüstung über kecke
Spekulation, aber auch rasch berauschten, allerdings vereinzelten
Enthusiasmus hervorrief, all das, was sich Synthetismus, Expressionismus,
Kubismus oder Futurismus nannte, hat sich jetzt gesammelt und seinen ersten
offiziellen Ausdruck gefunden in einer großen Ausstellung, die nun als „Deutscher
Herbstsalon" neben die zwei bisher bestehenden alljährlichen Kunstrevuen, die
Große Berliner Kunstausstellung und die Sezession treten wird. Unzweifelhaft
also haben wir ein neues Wollen und es erhebt sich zunächst die Frage: Ist
dieses Wollen berechtigt?

Sicher ist einmal, daß das bisher in der Sezession gesammelte Wollen
müde geworden war. Schon daß der Führer zurücktrat, konnte seine tieferen
Gründe nicht in persönlich hervortretenden Differenzen haben, sondern nur darin,
daß das sezessionistische Wollen nicht mehr genug Lebenskraft befaß, ihn bei
seinem Lebenswerk zu halten. Nur so ist es zu erklären, daß schon zwei Jahre
nach dem Rücktritt Liebermanns eine kleine Gruppe recht mittelmäßiger
Begabungen den stolzen Bau mit leichter Mühe sprengen konnte. Die alten
Ideale waren eben nicht mehr stark genug, die im Altern erstarrenden Kräfte
beisammen zu halten. Etwas Neues mußte also kommen.

Ist dieses Neue nun eine bloße Negation, das Neue um jeden Preis?
Ich muß, ohne paradox sein zu wollen, gestehen, daß ich an der neuen Kunst,
wie sie der Herbstsalon repräsentiert, nichts überraschend Neues finden kann.
Mit Ausnahme gewisser futuristischer Ideen, die aber auch ihre Parallelen in
der Lyrik und der Musik haben, finde ich vielmehr in dem anscheinend so
Unerhörten nur teils organische Weiterentwicklung, teils die natürliche Reaktion
gegen endgültig Ausgeprägtes.

Schon der Impressionismus hatte nicht mehr das Wesen der Dinge im
Sinne der Altmeister gegeben, sondern hatte sie artistisch genommen, hatte ihre


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[0624] [Abbildung] Der erste deutsche Herbstsalon von Dr, R, Schacht ein Zweifel ist mehr möglich: wir stehen mitten in einer neuen Kunstbewegung. Was bei uns in Deutschland seit etwa fünf Jahren erst vereinzelt auftrat und Gelächter oder verächtliches Achselzucken über anscheinende Verrücktheit. Entrüstung über kecke Spekulation, aber auch rasch berauschten, allerdings vereinzelten Enthusiasmus hervorrief, all das, was sich Synthetismus, Expressionismus, Kubismus oder Futurismus nannte, hat sich jetzt gesammelt und seinen ersten offiziellen Ausdruck gefunden in einer großen Ausstellung, die nun als „Deutscher Herbstsalon" neben die zwei bisher bestehenden alljährlichen Kunstrevuen, die Große Berliner Kunstausstellung und die Sezession treten wird. Unzweifelhaft also haben wir ein neues Wollen und es erhebt sich zunächst die Frage: Ist dieses Wollen berechtigt? Sicher ist einmal, daß das bisher in der Sezession gesammelte Wollen müde geworden war. Schon daß der Führer zurücktrat, konnte seine tieferen Gründe nicht in persönlich hervortretenden Differenzen haben, sondern nur darin, daß das sezessionistische Wollen nicht mehr genug Lebenskraft befaß, ihn bei seinem Lebenswerk zu halten. Nur so ist es zu erklären, daß schon zwei Jahre nach dem Rücktritt Liebermanns eine kleine Gruppe recht mittelmäßiger Begabungen den stolzen Bau mit leichter Mühe sprengen konnte. Die alten Ideale waren eben nicht mehr stark genug, die im Altern erstarrenden Kräfte beisammen zu halten. Etwas Neues mußte also kommen. Ist dieses Neue nun eine bloße Negation, das Neue um jeden Preis? Ich muß, ohne paradox sein zu wollen, gestehen, daß ich an der neuen Kunst, wie sie der Herbstsalon repräsentiert, nichts überraschend Neues finden kann. Mit Ausnahme gewisser futuristischer Ideen, die aber auch ihre Parallelen in der Lyrik und der Musik haben, finde ich vielmehr in dem anscheinend so Unerhörten nur teils organische Weiterentwicklung, teils die natürliche Reaktion gegen endgültig Ausgeprägtes. Schon der Impressionismus hatte nicht mehr das Wesen der Dinge im Sinne der Altmeister gegeben, sondern hatte sie artistisch genommen, hatte ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/624>, abgerufen am 28.04.2024.