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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses
Anregungen aus Anlaß des Richter- und Anumlttages
v Amtsrichter Uarl Häuschkcl on
I.

eben der Reform des Strafrechts erregt seit Jahren von allen
Fragen der Gesetzgebung die Umgestaltung des Zivilprozesses das
größte Interesse.

Die heutige deutsche Zivilprozeßordnung ist, am 30. Januar
1877 als Gesetz verkündet, seit dem 1. Oktober 1879 in Kraft.
Seitdem haben sich nicht nur die äußeren Bedingungen, unter denen die Zivil¬
prozeßordnung Gesetz geworden ist. geändert. Vor allem sind es neue Ideen,
welche die Gesetzgebung heute beherrschen; nicht mehr auf die Tradition und
die Durchführung bestimmter Grundsätze, sondern vor allem auf eine den Be¬
dürfnissen des praktischen Lebens Rechnung tragende Prüfung und Sichtung
des Stoffes wird bei der Schaffung eines Gesetzes ausschlaggebender Wert gelegt.

Es drängt sich von selbst die Frage auf, ob die anfänglich mit großen
Erwartungen begrüßte, bald aber vielfach angefeindete Zivilprozeßordnung von
1879 den Anforderungen, welche heute an ein Gesetz gestellt werden, stand¬
halten kann.

Schon wenige Jahre, nachdem die Zivilprozeßordnung ihre Herrschaft an¬
getreten hatte, wurden Stimmen laut, welche eine Revision des Gesetzes ver¬
langten. Als Vorkämpfer dieser Bestrebungen trat Mitte der achtziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts der Reichsgerichtsrat Otto Bahr auf. Inzwischen
hat die Zivilprozeßordnung durch die Novellen vom 30. April 1886, dann
vom 17. Mai 1898 und schließlich vom 1. Juni 1909 einige Abänderungen
erfahren. Ferner sind für das Verfahren vor den neu errichteten Sonder¬
gerichten (Kaufmanns-, Gewerbegerichten) Bestimmungen gegeben worden, welche
von denen der Zivilprozeßordnung recht erheblich abweichen.

Trotzdem wird die Reformierung unseres Zivilprozesses nach wie vor
lebhaft erörtert. Die Bestrebungen gehen dabei weit auseinander. Auf der
einen Seite wird lediglich eine Abänderung der jetzigen Zivilprozeßordnung
angestrebt, andere Vorschläge laufen auf eine vollständige Neugestaltung des
Zivilprozeßrechtes hinaus, sei es unter Beibehaltung unserer heutigen Gerichts¬
verfassung, sei es unter teilweiser oder vollständiger Neuorganisation der
Justizbehörden.




Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses
Anregungen aus Anlaß des Richter- und Anumlttages
v Amtsrichter Uarl Häuschkcl on
I.

eben der Reform des Strafrechts erregt seit Jahren von allen
Fragen der Gesetzgebung die Umgestaltung des Zivilprozesses das
größte Interesse.

Die heutige deutsche Zivilprozeßordnung ist, am 30. Januar
1877 als Gesetz verkündet, seit dem 1. Oktober 1879 in Kraft.
Seitdem haben sich nicht nur die äußeren Bedingungen, unter denen die Zivil¬
prozeßordnung Gesetz geworden ist. geändert. Vor allem sind es neue Ideen,
welche die Gesetzgebung heute beherrschen; nicht mehr auf die Tradition und
die Durchführung bestimmter Grundsätze, sondern vor allem auf eine den Be¬
dürfnissen des praktischen Lebens Rechnung tragende Prüfung und Sichtung
des Stoffes wird bei der Schaffung eines Gesetzes ausschlaggebender Wert gelegt.

Es drängt sich von selbst die Frage auf, ob die anfänglich mit großen
Erwartungen begrüßte, bald aber vielfach angefeindete Zivilprozeßordnung von
1879 den Anforderungen, welche heute an ein Gesetz gestellt werden, stand¬
halten kann.

Schon wenige Jahre, nachdem die Zivilprozeßordnung ihre Herrschaft an¬
getreten hatte, wurden Stimmen laut, welche eine Revision des Gesetzes ver¬
langten. Als Vorkämpfer dieser Bestrebungen trat Mitte der achtziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts der Reichsgerichtsrat Otto Bahr auf. Inzwischen
hat die Zivilprozeßordnung durch die Novellen vom 30. April 1886, dann
vom 17. Mai 1898 und schließlich vom 1. Juni 1909 einige Abänderungen
erfahren. Ferner sind für das Verfahren vor den neu errichteten Sonder¬
gerichten (Kaufmanns-, Gewerbegerichten) Bestimmungen gegeben worden, welche
von denen der Zivilprozeßordnung recht erheblich abweichen.

Trotzdem wird die Reformierung unseres Zivilprozesses nach wie vor
lebhaft erörtert. Die Bestrebungen gehen dabei weit auseinander. Auf der
einen Seite wird lediglich eine Abänderung der jetzigen Zivilprozeßordnung
angestrebt, andere Vorschläge laufen auf eine vollständige Neugestaltung des
Zivilprozeßrechtes hinaus, sei es unter Beibehaltung unserer heutigen Gerichts¬
verfassung, sei es unter teilweiser oder vollständiger Neuorganisation der
Justizbehörden.


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[0161] [Abbildung] Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses Anregungen aus Anlaß des Richter- und Anumlttages v Amtsrichter Uarl Häuschkcl on I. eben der Reform des Strafrechts erregt seit Jahren von allen Fragen der Gesetzgebung die Umgestaltung des Zivilprozesses das größte Interesse. Die heutige deutsche Zivilprozeßordnung ist, am 30. Januar 1877 als Gesetz verkündet, seit dem 1. Oktober 1879 in Kraft. Seitdem haben sich nicht nur die äußeren Bedingungen, unter denen die Zivil¬ prozeßordnung Gesetz geworden ist. geändert. Vor allem sind es neue Ideen, welche die Gesetzgebung heute beherrschen; nicht mehr auf die Tradition und die Durchführung bestimmter Grundsätze, sondern vor allem auf eine den Be¬ dürfnissen des praktischen Lebens Rechnung tragende Prüfung und Sichtung des Stoffes wird bei der Schaffung eines Gesetzes ausschlaggebender Wert gelegt. Es drängt sich von selbst die Frage auf, ob die anfänglich mit großen Erwartungen begrüßte, bald aber vielfach angefeindete Zivilprozeßordnung von 1879 den Anforderungen, welche heute an ein Gesetz gestellt werden, stand¬ halten kann. Schon wenige Jahre, nachdem die Zivilprozeßordnung ihre Herrschaft an¬ getreten hatte, wurden Stimmen laut, welche eine Revision des Gesetzes ver¬ langten. Als Vorkämpfer dieser Bestrebungen trat Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts der Reichsgerichtsrat Otto Bahr auf. Inzwischen hat die Zivilprozeßordnung durch die Novellen vom 30. April 1886, dann vom 17. Mai 1898 und schließlich vom 1. Juni 1909 einige Abänderungen erfahren. Ferner sind für das Verfahren vor den neu errichteten Sonder¬ gerichten (Kaufmanns-, Gewerbegerichten) Bestimmungen gegeben worden, welche von denen der Zivilprozeßordnung recht erheblich abweichen. Trotzdem wird die Reformierung unseres Zivilprozesses nach wie vor lebhaft erörtert. Die Bestrebungen gehen dabei weit auseinander. Auf der einen Seite wird lediglich eine Abänderung der jetzigen Zivilprozeßordnung angestrebt, andere Vorschläge laufen auf eine vollständige Neugestaltung des Zivilprozeßrechtes hinaus, sei es unter Beibehaltung unserer heutigen Gerichts¬ verfassung, sei es unter teilweiser oder vollständiger Neuorganisation der Justizbehörden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/161>, abgerufen am 08.05.2024.