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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Lin Streifzug in die Volksetymologie und volksmythologie

Wort Bretze aber abgestorben war, verfiel man darauf, sie mit unter dem
Namen Hornaffe zu begreifen.

Noch weiterhin scheint die Bretzel den Hornaffen verdrängt zu haben. Die
Sammlung von fast sechshundert Volksliedern, die 1808 A. von Arnim und
Cl. Brentano unter dem von ihnen gewählten Titel "Des Knaben Wunderhorn"
Herausgaben (von Volksliedern, die "freilich bei weitem nicht alle Volkslieder
sind")*), ruft im ersten "Kinderlied" den "Schülerlem" ein Wandlaus zu, weil
"Gregorius, das Schulfest, heut ist wieder angekommen" und der Frühling helle
Freudentrommeln schlägt. Zu diesen Zeiten sei alter Christenbrauch, die Kinder
zu Schul und Kirch zu leiten und einen Kinderbischof zu wählen, dem König,
Handwerksmann, Soldat, Hanswurst und Affen folgen; dem Bischof werde am
Hirtenstab die Bretzel vorgetragen. "Was das für eine Bewandnis hat" --
so fährt das Lied fort -- "merkt auf, ich will es euch sagen: die Bretzel heißt
pretiolum, ein Preislein für die Kinder, die in der Schule nit sind stumm . . ."
Das Gregoriusfest wird seit 830 als Kinder- und Schulfest im März zu Ehren
Papst Gregors des Großen 604) an Stelle der altrömischen Quinquatria
oder Minervalia gefeiert. Das Kinderlied des Wunderhorns mag in seiner
Grundlage ein Volkslied sein, die etymologische Schlußerklärung des Wortes
Bretzel hat aber seinen Ursprung sicher nicht im Volksmunde, sondern wohl
in der Feder eines Schulgelehrten, dessen Phantasie der Gedanke entsprang, die
Bretzel heiße im Lateinischen pretiolum. So heißt sie nicht, sondern sie heißt
spil'Ä. Das Volk pflegt auch für seine Gebäcknamen sich an handgreifliche
Dinge zu halten. Wie sollte es dazu kommen, für die Bretzel das abstrakte
Wort Preis oder gar dessen durchaus ungebräuchliches Deminutiv Preislein zu
wählen?

Gleich den Crailsheimern, die heute noch ihren Festzügen Fahnen mit
dem Abbilde des Hornaffen vortragen, so trugen zur Zeit der Entstehung des
"Kinderliedes" und vielleicht noch lange nachher da, wo das Kinderlied lebte,
die Kinder ihrem gewählten Bischof die Bretzel vor. Woher deren Name stammt,
ist aus Ur. 1 dieses Streifzugs ersichtlich**).


10.

Der Übergang vom Hornaffen zur Bretzel hat etwas sehr Natürliches.
Man vergegenwärtige sich nur die Art der Entstehung des einen wie des anderen
Gebäcks in der Hand des Bäckers. Dieser formt aus seinem Teige einen an
den beiden Enden sich naturgemäß zuspitzenden Wulst. Biegt er den Wulst zu




") G. Wendt in der Einleitung zur Ausgabe von 1873, Berlin, Grote, Bd. I, S. 6
und Bd. II, S. 448.
**') Dagegen schrieb mir ein aufmerksamer Anonymus, der Plural von braceio heiße
braLcia. Das ist nur insofern richtig, als braccia die neuere und jetzt häufigere Form ist.
Daneben besteht die ältere braeci, ja zuweilen -- was der deutschen Bretze noch näher
kommt -- dra-n-i. Vgl. Venerom a, a, O. I, 132 und Musafia, Ital. Sprachlehre Is, Aufl.
^1881) S. 32, und Sauer, Ital. Konversationsgrammatik 11. Aufl. (1S01) S. 213.
Lin Streifzug in die Volksetymologie und volksmythologie

Wort Bretze aber abgestorben war, verfiel man darauf, sie mit unter dem
Namen Hornaffe zu begreifen.

Noch weiterhin scheint die Bretzel den Hornaffen verdrängt zu haben. Die
Sammlung von fast sechshundert Volksliedern, die 1808 A. von Arnim und
Cl. Brentano unter dem von ihnen gewählten Titel „Des Knaben Wunderhorn"
Herausgaben (von Volksliedern, die „freilich bei weitem nicht alle Volkslieder
sind")*), ruft im ersten „Kinderlied" den „Schülerlem" ein Wandlaus zu, weil
„Gregorius, das Schulfest, heut ist wieder angekommen" und der Frühling helle
Freudentrommeln schlägt. Zu diesen Zeiten sei alter Christenbrauch, die Kinder
zu Schul und Kirch zu leiten und einen Kinderbischof zu wählen, dem König,
Handwerksmann, Soldat, Hanswurst und Affen folgen; dem Bischof werde am
Hirtenstab die Bretzel vorgetragen. „Was das für eine Bewandnis hat" —
so fährt das Lied fort — „merkt auf, ich will es euch sagen: die Bretzel heißt
pretiolum, ein Preislein für die Kinder, die in der Schule nit sind stumm . . ."
Das Gregoriusfest wird seit 830 als Kinder- und Schulfest im März zu Ehren
Papst Gregors des Großen 604) an Stelle der altrömischen Quinquatria
oder Minervalia gefeiert. Das Kinderlied des Wunderhorns mag in seiner
Grundlage ein Volkslied sein, die etymologische Schlußerklärung des Wortes
Bretzel hat aber seinen Ursprung sicher nicht im Volksmunde, sondern wohl
in der Feder eines Schulgelehrten, dessen Phantasie der Gedanke entsprang, die
Bretzel heiße im Lateinischen pretiolum. So heißt sie nicht, sondern sie heißt
spil'Ä. Das Volk pflegt auch für seine Gebäcknamen sich an handgreifliche
Dinge zu halten. Wie sollte es dazu kommen, für die Bretzel das abstrakte
Wort Preis oder gar dessen durchaus ungebräuchliches Deminutiv Preislein zu
wählen?

Gleich den Crailsheimern, die heute noch ihren Festzügen Fahnen mit
dem Abbilde des Hornaffen vortragen, so trugen zur Zeit der Entstehung des
„Kinderliedes" und vielleicht noch lange nachher da, wo das Kinderlied lebte,
die Kinder ihrem gewählten Bischof die Bretzel vor. Woher deren Name stammt,
ist aus Ur. 1 dieses Streifzugs ersichtlich**).


10.

Der Übergang vom Hornaffen zur Bretzel hat etwas sehr Natürliches.
Man vergegenwärtige sich nur die Art der Entstehung des einen wie des anderen
Gebäcks in der Hand des Bäckers. Dieser formt aus seinem Teige einen an
den beiden Enden sich naturgemäß zuspitzenden Wulst. Biegt er den Wulst zu




") G. Wendt in der Einleitung zur Ausgabe von 1873, Berlin, Grote, Bd. I, S. 6
und Bd. II, S. 448.
**') Dagegen schrieb mir ein aufmerksamer Anonymus, der Plural von braceio heiße
braLcia. Das ist nur insofern richtig, als braccia die neuere und jetzt häufigere Form ist.
Daneben besteht die ältere braeci, ja zuweilen — was der deutschen Bretze noch näher
kommt — dra-n-i. Vgl. Venerom a, a, O. I, 132 und Musafia, Ital. Sprachlehre Is, Aufl.
^1881) S. 32, und Sauer, Ital. Konversationsgrammatik 11. Aufl. (1S01) S. 213.
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[0412] Lin Streifzug in die Volksetymologie und volksmythologie Wort Bretze aber abgestorben war, verfiel man darauf, sie mit unter dem Namen Hornaffe zu begreifen. Noch weiterhin scheint die Bretzel den Hornaffen verdrängt zu haben. Die Sammlung von fast sechshundert Volksliedern, die 1808 A. von Arnim und Cl. Brentano unter dem von ihnen gewählten Titel „Des Knaben Wunderhorn" Herausgaben (von Volksliedern, die „freilich bei weitem nicht alle Volkslieder sind")*), ruft im ersten „Kinderlied" den „Schülerlem" ein Wandlaus zu, weil „Gregorius, das Schulfest, heut ist wieder angekommen" und der Frühling helle Freudentrommeln schlägt. Zu diesen Zeiten sei alter Christenbrauch, die Kinder zu Schul und Kirch zu leiten und einen Kinderbischof zu wählen, dem König, Handwerksmann, Soldat, Hanswurst und Affen folgen; dem Bischof werde am Hirtenstab die Bretzel vorgetragen. „Was das für eine Bewandnis hat" — so fährt das Lied fort — „merkt auf, ich will es euch sagen: die Bretzel heißt pretiolum, ein Preislein für die Kinder, die in der Schule nit sind stumm . . ." Das Gregoriusfest wird seit 830 als Kinder- und Schulfest im März zu Ehren Papst Gregors des Großen 604) an Stelle der altrömischen Quinquatria oder Minervalia gefeiert. Das Kinderlied des Wunderhorns mag in seiner Grundlage ein Volkslied sein, die etymologische Schlußerklärung des Wortes Bretzel hat aber seinen Ursprung sicher nicht im Volksmunde, sondern wohl in der Feder eines Schulgelehrten, dessen Phantasie der Gedanke entsprang, die Bretzel heiße im Lateinischen pretiolum. So heißt sie nicht, sondern sie heißt spil'Ä. Das Volk pflegt auch für seine Gebäcknamen sich an handgreifliche Dinge zu halten. Wie sollte es dazu kommen, für die Bretzel das abstrakte Wort Preis oder gar dessen durchaus ungebräuchliches Deminutiv Preislein zu wählen? Gleich den Crailsheimern, die heute noch ihren Festzügen Fahnen mit dem Abbilde des Hornaffen vortragen, so trugen zur Zeit der Entstehung des „Kinderliedes" und vielleicht noch lange nachher da, wo das Kinderlied lebte, die Kinder ihrem gewählten Bischof die Bretzel vor. Woher deren Name stammt, ist aus Ur. 1 dieses Streifzugs ersichtlich**). 10. Der Übergang vom Hornaffen zur Bretzel hat etwas sehr Natürliches. Man vergegenwärtige sich nur die Art der Entstehung des einen wie des anderen Gebäcks in der Hand des Bäckers. Dieser formt aus seinem Teige einen an den beiden Enden sich naturgemäß zuspitzenden Wulst. Biegt er den Wulst zu ") G. Wendt in der Einleitung zur Ausgabe von 1873, Berlin, Grote, Bd. I, S. 6 und Bd. II, S. 448. **') Dagegen schrieb mir ein aufmerksamer Anonymus, der Plural von braceio heiße braLcia. Das ist nur insofern richtig, als braccia die neuere und jetzt häufigere Form ist. Daneben besteht die ältere braeci, ja zuweilen — was der deutschen Bretze noch näher kommt — dra-n-i. Vgl. Venerom a, a, O. I, 132 und Musafia, Ital. Sprachlehre Is, Aufl. ^1881) S. 32, und Sauer, Ital. Konversationsgrammatik 11. Aufl. (1S01) S. 213.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/412>, abgerufen am 08.05.2024.