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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspit'gel

Der Verlauf des Streites um Ulrichs Ausführungen hat uns und aller
Welt vor allen Dingen wieder einmal die Zwiespältigkeit klar vor Augen geführt,
die Nußland als politischen Faktor kennzeichnet. Man vergleiche nur die ver¬
söhnlichen Worte Ssasonows und- die ruhige Haltung der amtlichen russischen
Presse mit dem herausfordernden Ton der vom Kriegs- und Finanzminister
benutzten privaten Presse. Diese Widersprüche muß man immer scharf beob¬
achten und die hinter ihnen stehenden Parteien nach ihren: Einfluß streng
bewerten, will man nicht höchst unliebsamen Überraschungen ausgesetzt sein. Die
russische amtliche Politik will heute gewiß keinen Krieg, aber es ist doch gut,
ein Urteil darüber zu haben, ob diese Richtung auch stark genug ist, ihren Willen
durchzusetzen. Zweimal in den letzten vierzig Jahren war sie es nicht: die
Kriege von 1877 und 1904 brachen gegen den Willen des amtlichen Rußland aus.


G. Lleinow
Das einige Bürgertum!

Die in Heft 7 der Grenzboten erwähnten Einigungsbestrebungen in der
Industrie sind gescheitert. Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Welt¬
handel ist nicht zustande gekommen. Die Ursachen hierfür werden seitens der
Frankfurter Zeitung in dem Machtstreben des Zentralverbandes deutscher In¬
dustrieller (Schweighoffer), in dessen Schlepptau sich der Bund der Industriellen
(Stresemann) befunden habe, gesucht. Diese Auffassung dürfte den Tatsachen
nicht ganz gerecht werden. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit eines Zu¬
sammenschlusses aller am Export beteiligten Gewerbe ist bei der Schwerindustrie
nicht stärker vorhanden, wie bei der Fertigindustrie, und zwar mit Rücksicht auf
die in der ganzen Welt zu beobachtenden Rüstungen für die bevorstehende
Erneuerung der Handelsverträge und zur Verbilligung und Vereinfachung der
mit dein Exportgeschäft verbundeneu Erkundungen der fremden Länder. Man
wollte unter anderem von der zu schaffenden Zentrale aus Handelssachverständige
in alle Welt senden, Reisende und Agenten einstellen und gewissermaßen die
für den Export arbeitenden Firmen nach den Exportländern kartellieren. Gewiß
ein großartiger Gedanke mit den weitesten Ausblicken für die fernere Entwicklung
unserer gesamten auswärtigen und inneren Politik. Das Bündnis für gemein¬
same Arbeit zur Vorbereitung der Handelsverträge war naturgemäß nur denkbar,
wenn man sich darüber einig war, entweder an dem bestehenden Schutzzoll¬
system festhalten oder es preisgeben zu wollen. Der Zentralverband und die
Mehrheit des Bundes der Industriellen treten für das bisherige System ein
und das führte auch Schweighoffer und Stresemann zusammen, während der
Handelsvertragsverein und einige Vertreter der Spitzen- und Textilindustrie
Sachsens freihändlerisch gesonnen sind. Diese abweichenden Ansichten haben den
Zusammenschluß tatsächlich verhindert, nicht aber die Herrschsucht der Schwer¬
industrie.


Reichsspit'gel

Der Verlauf des Streites um Ulrichs Ausführungen hat uns und aller
Welt vor allen Dingen wieder einmal die Zwiespältigkeit klar vor Augen geführt,
die Nußland als politischen Faktor kennzeichnet. Man vergleiche nur die ver¬
söhnlichen Worte Ssasonows und- die ruhige Haltung der amtlichen russischen
Presse mit dem herausfordernden Ton der vom Kriegs- und Finanzminister
benutzten privaten Presse. Diese Widersprüche muß man immer scharf beob¬
achten und die hinter ihnen stehenden Parteien nach ihren: Einfluß streng
bewerten, will man nicht höchst unliebsamen Überraschungen ausgesetzt sein. Die
russische amtliche Politik will heute gewiß keinen Krieg, aber es ist doch gut,
ein Urteil darüber zu haben, ob diese Richtung auch stark genug ist, ihren Willen
durchzusetzen. Zweimal in den letzten vierzig Jahren war sie es nicht: die
Kriege von 1877 und 1904 brachen gegen den Willen des amtlichen Rußland aus.


G. Lleinow
Das einige Bürgertum!

Die in Heft 7 der Grenzboten erwähnten Einigungsbestrebungen in der
Industrie sind gescheitert. Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Welt¬
handel ist nicht zustande gekommen. Die Ursachen hierfür werden seitens der
Frankfurter Zeitung in dem Machtstreben des Zentralverbandes deutscher In¬
dustrieller (Schweighoffer), in dessen Schlepptau sich der Bund der Industriellen
(Stresemann) befunden habe, gesucht. Diese Auffassung dürfte den Tatsachen
nicht ganz gerecht werden. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit eines Zu¬
sammenschlusses aller am Export beteiligten Gewerbe ist bei der Schwerindustrie
nicht stärker vorhanden, wie bei der Fertigindustrie, und zwar mit Rücksicht auf
die in der ganzen Welt zu beobachtenden Rüstungen für die bevorstehende
Erneuerung der Handelsverträge und zur Verbilligung und Vereinfachung der
mit dein Exportgeschäft verbundeneu Erkundungen der fremden Länder. Man
wollte unter anderem von der zu schaffenden Zentrale aus Handelssachverständige
in alle Welt senden, Reisende und Agenten einstellen und gewissermaßen die
für den Export arbeitenden Firmen nach den Exportländern kartellieren. Gewiß
ein großartiger Gedanke mit den weitesten Ausblicken für die fernere Entwicklung
unserer gesamten auswärtigen und inneren Politik. Das Bündnis für gemein¬
same Arbeit zur Vorbereitung der Handelsverträge war naturgemäß nur denkbar,
wenn man sich darüber einig war, entweder an dem bestehenden Schutzzoll¬
system festhalten oder es preisgeben zu wollen. Der Zentralverband und die
Mehrheit des Bundes der Industriellen treten für das bisherige System ein
und das führte auch Schweighoffer und Stresemann zusammen, während der
Handelsvertragsverein und einige Vertreter der Spitzen- und Textilindustrie
Sachsens freihändlerisch gesonnen sind. Diese abweichenden Ansichten haben den
Zusammenschluß tatsächlich verhindert, nicht aber die Herrschsucht der Schwer¬
industrie.


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[0534] Reichsspit'gel Der Verlauf des Streites um Ulrichs Ausführungen hat uns und aller Welt vor allen Dingen wieder einmal die Zwiespältigkeit klar vor Augen geführt, die Nußland als politischen Faktor kennzeichnet. Man vergleiche nur die ver¬ söhnlichen Worte Ssasonows und- die ruhige Haltung der amtlichen russischen Presse mit dem herausfordernden Ton der vom Kriegs- und Finanzminister benutzten privaten Presse. Diese Widersprüche muß man immer scharf beob¬ achten und die hinter ihnen stehenden Parteien nach ihren: Einfluß streng bewerten, will man nicht höchst unliebsamen Überraschungen ausgesetzt sein. Die russische amtliche Politik will heute gewiß keinen Krieg, aber es ist doch gut, ein Urteil darüber zu haben, ob diese Richtung auch stark genug ist, ihren Willen durchzusetzen. Zweimal in den letzten vierzig Jahren war sie es nicht: die Kriege von 1877 und 1904 brachen gegen den Willen des amtlichen Rußland aus. G. Lleinow Das einige Bürgertum! Die in Heft 7 der Grenzboten erwähnten Einigungsbestrebungen in der Industrie sind gescheitert. Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Welt¬ handel ist nicht zustande gekommen. Die Ursachen hierfür werden seitens der Frankfurter Zeitung in dem Machtstreben des Zentralverbandes deutscher In¬ dustrieller (Schweighoffer), in dessen Schlepptau sich der Bund der Industriellen (Stresemann) befunden habe, gesucht. Diese Auffassung dürfte den Tatsachen nicht ganz gerecht werden. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit eines Zu¬ sammenschlusses aller am Export beteiligten Gewerbe ist bei der Schwerindustrie nicht stärker vorhanden, wie bei der Fertigindustrie, und zwar mit Rücksicht auf die in der ganzen Welt zu beobachtenden Rüstungen für die bevorstehende Erneuerung der Handelsverträge und zur Verbilligung und Vereinfachung der mit dein Exportgeschäft verbundeneu Erkundungen der fremden Länder. Man wollte unter anderem von der zu schaffenden Zentrale aus Handelssachverständige in alle Welt senden, Reisende und Agenten einstellen und gewissermaßen die für den Export arbeitenden Firmen nach den Exportländern kartellieren. Gewiß ein großartiger Gedanke mit den weitesten Ausblicken für die fernere Entwicklung unserer gesamten auswärtigen und inneren Politik. Das Bündnis für gemein¬ same Arbeit zur Vorbereitung der Handelsverträge war naturgemäß nur denkbar, wenn man sich darüber einig war, entweder an dem bestehenden Schutzzoll¬ system festhalten oder es preisgeben zu wollen. Der Zentralverband und die Mehrheit des Bundes der Industriellen treten für das bisherige System ein und das führte auch Schweighoffer und Stresemann zusammen, während der Handelsvertragsverein und einige Vertreter der Spitzen- und Textilindustrie Sachsens freihändlerisch gesonnen sind. Diese abweichenden Ansichten haben den Zusammenschluß tatsächlich verhindert, nicht aber die Herrschsucht der Schwer¬ industrie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/534>, abgerufen am 08.05.2024.