Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sie Hexe von Mayen

jener für den Verstandesmenschen unserer Tage charakteristischen moralischen
Knochenerweichung zu spüren, die, sich trotz allem im sicheren Schutze des Staates
geborgen wissend, ein allzu großes Verständnis für moralische Verirrungen zeigt;
die den Selbsterhaltungstrieb wohl kennt, wie nur je eine Zeit, sich aber, unauf¬
richtig gegen sich selber, scheut die Konsequenzen zu ziehen, wo sie das ästhetische
Gefühl verletzen könnten.

In einer solchen Zeit ist es, wie gesagt, doppelt erfreulich, in dem Ent¬
wurf zum neuen Strafgesetzbuch den Schutz der Allgemeinheit wieder auf den
Platz einrücken zu sehen, der ihm gebührt, hier sogar, ohne daß die Ansprüche
der Humanität sich zurückgesetzt fühlen könnten.

Wenn dieser oder ein ähnlicher Entwurf erst Gesetzeskraft haben wird,
dann wird auch dem ärztlichen Sachverständigen seine schwere Aufgabe erleichtert
werden. Er wird dann mit freierem Herzen als der ehrliche Anwalt seines
Delinquenten auftreten können, da er weiß, das heilige Recht der Allgemeinheit
kann von seinem Votum nicht gefährdet werden, das steht unter dem starken
Schutze des Staates.




Die Hexe von Mayen
Roman
Charlotte Nies" von
(Fünfzehnte Fortsetzung)

In der folgenden Nacht schlief Heilwig nicht. Ihr Kindlein atmete ruhiger
als seit lange; sie aber war unstät, ging von einem Zimmer ins andere und
dachte an die Zeit, da sie im Turm saß und man sie eine Hexe nannte.

Nun saß der einstige Stadtschreiber in ihrem Turm und wartete des
Gerichtes.

Wenn Herr Josias hier gewesen wäre, würde sie mit ihm geredet haben;
er aber war fort, wie jetzt so manches Mal. Vielleicht war es auch besser, daß
sie allein handelte. Hundert Goldtaler hatte sie nicht; aber sie wollte sich den
Mann noch einmal vorführen lassen und mit ihm reden.

Doch als sie sich gerade ausgestreckt hatte, um noch etwas zu schlafen,
schrien Hörner auf dem Hof und das Jungvieh im Stall brüllte. Die große
Scheuer, mit Brotkorn und Stroh gefüllt, stand in Flammen, und die schlaf¬
trunkenen Knechte versuchten die Kälber und Schweine aus ihren Ställen zu
ziehen. Wasser gab es nicht allzuviel; was brannte, mußte schon ausbrennen,


Sie Hexe von Mayen

jener für den Verstandesmenschen unserer Tage charakteristischen moralischen
Knochenerweichung zu spüren, die, sich trotz allem im sicheren Schutze des Staates
geborgen wissend, ein allzu großes Verständnis für moralische Verirrungen zeigt;
die den Selbsterhaltungstrieb wohl kennt, wie nur je eine Zeit, sich aber, unauf¬
richtig gegen sich selber, scheut die Konsequenzen zu ziehen, wo sie das ästhetische
Gefühl verletzen könnten.

In einer solchen Zeit ist es, wie gesagt, doppelt erfreulich, in dem Ent¬
wurf zum neuen Strafgesetzbuch den Schutz der Allgemeinheit wieder auf den
Platz einrücken zu sehen, der ihm gebührt, hier sogar, ohne daß die Ansprüche
der Humanität sich zurückgesetzt fühlen könnten.

Wenn dieser oder ein ähnlicher Entwurf erst Gesetzeskraft haben wird,
dann wird auch dem ärztlichen Sachverständigen seine schwere Aufgabe erleichtert
werden. Er wird dann mit freierem Herzen als der ehrliche Anwalt seines
Delinquenten auftreten können, da er weiß, das heilige Recht der Allgemeinheit
kann von seinem Votum nicht gefährdet werden, das steht unter dem starken
Schutze des Staates.




Die Hexe von Mayen
Roman
Charlotte Nies« von
(Fünfzehnte Fortsetzung)

In der folgenden Nacht schlief Heilwig nicht. Ihr Kindlein atmete ruhiger
als seit lange; sie aber war unstät, ging von einem Zimmer ins andere und
dachte an die Zeit, da sie im Turm saß und man sie eine Hexe nannte.

Nun saß der einstige Stadtschreiber in ihrem Turm und wartete des
Gerichtes.

Wenn Herr Josias hier gewesen wäre, würde sie mit ihm geredet haben;
er aber war fort, wie jetzt so manches Mal. Vielleicht war es auch besser, daß
sie allein handelte. Hundert Goldtaler hatte sie nicht; aber sie wollte sich den
Mann noch einmal vorführen lassen und mit ihm reden.

Doch als sie sich gerade ausgestreckt hatte, um noch etwas zu schlafen,
schrien Hörner auf dem Hof und das Jungvieh im Stall brüllte. Die große
Scheuer, mit Brotkorn und Stroh gefüllt, stand in Flammen, und die schlaf¬
trunkenen Knechte versuchten die Kälber und Schweine aus ihren Ställen zu
ziehen. Wasser gab es nicht allzuviel; was brannte, mußte schon ausbrennen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0140" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328240"/>
          <fw type="header" place="top"> Sie Hexe von Mayen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_607" prev="#ID_606"> jener für den Verstandesmenschen unserer Tage charakteristischen moralischen<lb/>
Knochenerweichung zu spüren, die, sich trotz allem im sicheren Schutze des Staates<lb/>
geborgen wissend, ein allzu großes Verständnis für moralische Verirrungen zeigt;<lb/>
die den Selbsterhaltungstrieb wohl kennt, wie nur je eine Zeit, sich aber, unauf¬<lb/>
richtig gegen sich selber, scheut die Konsequenzen zu ziehen, wo sie das ästhetische<lb/>
Gefühl verletzen könnten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_608"> In einer solchen Zeit ist es, wie gesagt, doppelt erfreulich, in dem Ent¬<lb/>
wurf zum neuen Strafgesetzbuch den Schutz der Allgemeinheit wieder auf den<lb/>
Platz einrücken zu sehen, der ihm gebührt, hier sogar, ohne daß die Ansprüche<lb/>
der Humanität sich zurückgesetzt fühlen könnten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_609"> Wenn dieser oder ein ähnlicher Entwurf erst Gesetzeskraft haben wird,<lb/>
dann wird auch dem ärztlichen Sachverständigen seine schwere Aufgabe erleichtert<lb/>
werden. Er wird dann mit freierem Herzen als der ehrliche Anwalt seines<lb/>
Delinquenten auftreten können, da er weiß, das heilige Recht der Allgemeinheit<lb/>
kann von seinem Votum nicht gefährdet werden, das steht unter dem starken<lb/>
Schutze des Staates.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Hexe von Mayen<lb/>
Roman<lb/><note type="byline"> Charlotte Nies«</note> von<lb/>
(Fünfzehnte Fortsetzung) </head><lb/>
          <p xml:id="ID_610"> In der folgenden Nacht schlief Heilwig nicht. Ihr Kindlein atmete ruhiger<lb/>
als seit lange; sie aber war unstät, ging von einem Zimmer ins andere und<lb/>
dachte an die Zeit, da sie im Turm saß und man sie eine Hexe nannte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_611"> Nun saß der einstige Stadtschreiber in ihrem Turm und wartete des<lb/>
Gerichtes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_612"> Wenn Herr Josias hier gewesen wäre, würde sie mit ihm geredet haben;<lb/>
er aber war fort, wie jetzt so manches Mal. Vielleicht war es auch besser, daß<lb/>
sie allein handelte. Hundert Goldtaler hatte sie nicht; aber sie wollte sich den<lb/>
Mann noch einmal vorführen lassen und mit ihm reden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_613" next="#ID_614"> Doch als sie sich gerade ausgestreckt hatte, um noch etwas zu schlafen,<lb/>
schrien Hörner auf dem Hof und das Jungvieh im Stall brüllte. Die große<lb/>
Scheuer, mit Brotkorn und Stroh gefüllt, stand in Flammen, und die schlaf¬<lb/>
trunkenen Knechte versuchten die Kälber und Schweine aus ihren Ställen zu<lb/>
ziehen.  Wasser gab es nicht allzuviel; was brannte, mußte schon ausbrennen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0140] Sie Hexe von Mayen jener für den Verstandesmenschen unserer Tage charakteristischen moralischen Knochenerweichung zu spüren, die, sich trotz allem im sicheren Schutze des Staates geborgen wissend, ein allzu großes Verständnis für moralische Verirrungen zeigt; die den Selbsterhaltungstrieb wohl kennt, wie nur je eine Zeit, sich aber, unauf¬ richtig gegen sich selber, scheut die Konsequenzen zu ziehen, wo sie das ästhetische Gefühl verletzen könnten. In einer solchen Zeit ist es, wie gesagt, doppelt erfreulich, in dem Ent¬ wurf zum neuen Strafgesetzbuch den Schutz der Allgemeinheit wieder auf den Platz einrücken zu sehen, der ihm gebührt, hier sogar, ohne daß die Ansprüche der Humanität sich zurückgesetzt fühlen könnten. Wenn dieser oder ein ähnlicher Entwurf erst Gesetzeskraft haben wird, dann wird auch dem ärztlichen Sachverständigen seine schwere Aufgabe erleichtert werden. Er wird dann mit freierem Herzen als der ehrliche Anwalt seines Delinquenten auftreten können, da er weiß, das heilige Recht der Allgemeinheit kann von seinem Votum nicht gefährdet werden, das steht unter dem starken Schutze des Staates. Die Hexe von Mayen Roman Charlotte Nies« von (Fünfzehnte Fortsetzung) In der folgenden Nacht schlief Heilwig nicht. Ihr Kindlein atmete ruhiger als seit lange; sie aber war unstät, ging von einem Zimmer ins andere und dachte an die Zeit, da sie im Turm saß und man sie eine Hexe nannte. Nun saß der einstige Stadtschreiber in ihrem Turm und wartete des Gerichtes. Wenn Herr Josias hier gewesen wäre, würde sie mit ihm geredet haben; er aber war fort, wie jetzt so manches Mal. Vielleicht war es auch besser, daß sie allein handelte. Hundert Goldtaler hatte sie nicht; aber sie wollte sich den Mann noch einmal vorführen lassen und mit ihm reden. Doch als sie sich gerade ausgestreckt hatte, um noch etwas zu schlafen, schrien Hörner auf dem Hof und das Jungvieh im Stall brüllte. Die große Scheuer, mit Brotkorn und Stroh gefüllt, stand in Flammen, und die schlaf¬ trunkenen Knechte versuchten die Kälber und Schweine aus ihren Ställen zu ziehen. Wasser gab es nicht allzuviel; was brannte, mußte schon ausbrennen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/140
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/140>, abgerufen am 03.05.2024.