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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches


[Beginn Spaltensatz]

verarbeiten, ehe sie den anderen kennen lernt.
Und er bringt ein geringes Vertrauen der
jugendlichen -- heute noch dazu durch die
bildende Kunst aufs ausgiebigste unterstützten
Phantasie entgegen, wenn er ein solches Be¬
geistern für verschiedene Helden zu verschiedenen
Zeiten für unverträglich hält. Man fragt
sich danach: wie mag sich Schacht dem Lehr¬
stoff im Geschichtsunterricht gegenüberstellen?
Folgerichtig müßte er da auch nur die Wahl
zwischen griechischer und römischer Geschichte
einerseits und deutscher Geschichte anderseits
lassen; käme doch sonst die Jugend in die
Gefahr, sich heute für Alexander und Cäsar,
morgen für Friedrich Barbarossa und Friedrich
den Großen zu begeistern. Das hat sich doch
aber bisher auch ganz gut miteinander ver¬
tragen. Der Grund, aus dem auch die
Sagenwelt unserer Jugend immer mehr ver¬
blaßt, ist vielmehr folgender:

Wir leben in einem Zeitalter, dem Technik
und Naturwissenschaften ihren Stempel auf¬
gedrückt haben. Kein Wunder also, daß die
Mehrzahl unserer Jugend sich für diese
Wissensgebiete begeistert. Diese Mehrzahl
wird auch nicht zum deutschen oder griechi¬
schen Sagenkreise zu bekehren sein, wenn
man ihr das Lernen des anderen erläßt. Die
Minderheit aber, die historisch gerichtet ist,
wird nach wie vor gern beide Sagenkreise
mit ihrem Interesse umfassen. Vom Schüler
ist nicht immer schon zu sagen, ob er als
Mann, seiner Begabung oder seinem Berufe
nach, diese oder jene Entwicklung nehmen
wird. Die Schule hat nur vorbereitendes
Wissen zu überliefern. Zu einem solchen ist
aber für die Allgemeinbildung einer der
beiden Sagenkreise ebenso unentbehrlich wie
der andere.

Das Bestreben Schachts, einer großen
Populären deutschen Kunst vorzuarbeiten und
die Wege zu weisen, ist gewiß verdienstvoll;
denn eine solche Kunst tut uns not, aber der
Weg, den Schacht vorschlägt, führt nicht zum
Ziele. Auch wollen wir als Opfer auf diesem
Wege keinesfalls Sagenbilder zurücklassen,
die der Phantasie von GenerationenIcahrung
und Begeisterung gewährt haben. Weder
wollen wir verzichten auf Hektars Abschied
von Andromache und daS verhüllte Haupt
des Odysseus, der im Saale der Phüaken

[Spaltenumbruch]

seinen eigenen Ruhm singen hört, noch auf
die Schildwacht Hagens und Volkers vor
König Etzels Saal und auf die Sehnsucht
der vom Meeresstrande in die Ferne spähen¬
Dr. Ernst Sontag den Gudrun.

Wirtschaftspionier und Shukespcarc-

Verrhrer.

In einer Zeit, als deren heil¬
losestes Grundübel die Spezialisierung aller
Tätigkeit auf einen scharf abgegrenzten Berufs¬
kreis bezeichnet werden muß, wird vielleicht
nicht ohne Nutzen auf einen Mann hinge¬
wiesen, dem neben einer bedeutenden Prak¬
tischen Lebensarbeit auch ein Werk rein¬
geistigen Inhalts gedieh: die Popularisierung
Shakespeares und die Begründung der Deut¬
schen Shakespeare-Gesellschaft, die in diesem
Frühjahr ihren funfzigsten Geburtstag feierte.
Wer war dieser Mann, den das Schicksal als
kaum vierzehnjährigen Jungen an die Ma¬
schinen der väterlichen Papierfabrik stellte und
somit zu ganz anderen Dingen berufen zu
Wollen schien als etwa zu einem "Leben in
Schönheit", von dem die Ästheten so viel
Wesens machen? -- Wilhelm Oechelhäuser,
so hieß er, war vor allem Autodidakt. Das
muß man an die Spitze stellen, wenn man
seiner rühmend gedenken will. Er eroberte
sich seine Bildung, er eroberte sich seine
mannigfaltigen Stellungen und Ehren, er
eroberte sich Shakespeares Geisterreich. Alles
aus eigener Kraft. Mit vierzehn Jahren
Fabriklehrling, und vierundzwanzig Studien¬
reisender in England und Frankreich im Auf¬
trage der preußischen Regierung, mit acht¬
undzwanzig "Neichsministerinlassessor" auf
Grund einer handelspolitischen Broschüre,
die einen Rhein--Emskanal und eine Ver¬
bindung zwischen Nord- und Ostsee fordert,
mit einunddreißig Mitglied der Zollvereins¬
kommission bei der ersten Londoner Welt¬
ausstellung, mit zweiunddreißig Bürgermeister
der Stadt Mülheim an der Ruhr und bald
danach Mitglied des preußischen Abgeord¬
netenhauses, und endlich, ungefähr fünf Jahre
später, Generaldirektor der Deutschen Con¬
tinental-Gas-Gesellschaft in Dessau: das ist
seine Laufbahn! In der letzten Stellung harrt
er dreiunddreißig Jahre aus, um sich danach,
ein Siebziger bereits, ganz seinem Shake¬
speare und seinen Politischen Zielen hin-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches


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verarbeiten, ehe sie den anderen kennen lernt.
Und er bringt ein geringes Vertrauen der
jugendlichen — heute noch dazu durch die
bildende Kunst aufs ausgiebigste unterstützten
Phantasie entgegen, wenn er ein solches Be¬
geistern für verschiedene Helden zu verschiedenen
Zeiten für unverträglich hält. Man fragt
sich danach: wie mag sich Schacht dem Lehr¬
stoff im Geschichtsunterricht gegenüberstellen?
Folgerichtig müßte er da auch nur die Wahl
zwischen griechischer und römischer Geschichte
einerseits und deutscher Geschichte anderseits
lassen; käme doch sonst die Jugend in die
Gefahr, sich heute für Alexander und Cäsar,
morgen für Friedrich Barbarossa und Friedrich
den Großen zu begeistern. Das hat sich doch
aber bisher auch ganz gut miteinander ver¬
tragen. Der Grund, aus dem auch die
Sagenwelt unserer Jugend immer mehr ver¬
blaßt, ist vielmehr folgender:

Wir leben in einem Zeitalter, dem Technik
und Naturwissenschaften ihren Stempel auf¬
gedrückt haben. Kein Wunder also, daß die
Mehrzahl unserer Jugend sich für diese
Wissensgebiete begeistert. Diese Mehrzahl
wird auch nicht zum deutschen oder griechi¬
schen Sagenkreise zu bekehren sein, wenn
man ihr das Lernen des anderen erläßt. Die
Minderheit aber, die historisch gerichtet ist,
wird nach wie vor gern beide Sagenkreise
mit ihrem Interesse umfassen. Vom Schüler
ist nicht immer schon zu sagen, ob er als
Mann, seiner Begabung oder seinem Berufe
nach, diese oder jene Entwicklung nehmen
wird. Die Schule hat nur vorbereitendes
Wissen zu überliefern. Zu einem solchen ist
aber für die Allgemeinbildung einer der
beiden Sagenkreise ebenso unentbehrlich wie
der andere.

Das Bestreben Schachts, einer großen
Populären deutschen Kunst vorzuarbeiten und
die Wege zu weisen, ist gewiß verdienstvoll;
denn eine solche Kunst tut uns not, aber der
Weg, den Schacht vorschlägt, führt nicht zum
Ziele. Auch wollen wir als Opfer auf diesem
Wege keinesfalls Sagenbilder zurücklassen,
die der Phantasie von GenerationenIcahrung
und Begeisterung gewährt haben. Weder
wollen wir verzichten auf Hektars Abschied
von Andromache und daS verhüllte Haupt
des Odysseus, der im Saale der Phüaken

[Spaltenumbruch]

seinen eigenen Ruhm singen hört, noch auf
die Schildwacht Hagens und Volkers vor
König Etzels Saal und auf die Sehnsucht
der vom Meeresstrande in die Ferne spähen¬
Dr. Ernst Sontag den Gudrun.

Wirtschaftspionier und Shukespcarc-

Verrhrer.

In einer Zeit, als deren heil¬
losestes Grundübel die Spezialisierung aller
Tätigkeit auf einen scharf abgegrenzten Berufs¬
kreis bezeichnet werden muß, wird vielleicht
nicht ohne Nutzen auf einen Mann hinge¬
wiesen, dem neben einer bedeutenden Prak¬
tischen Lebensarbeit auch ein Werk rein¬
geistigen Inhalts gedieh: die Popularisierung
Shakespeares und die Begründung der Deut¬
schen Shakespeare-Gesellschaft, die in diesem
Frühjahr ihren funfzigsten Geburtstag feierte.
Wer war dieser Mann, den das Schicksal als
kaum vierzehnjährigen Jungen an die Ma¬
schinen der väterlichen Papierfabrik stellte und
somit zu ganz anderen Dingen berufen zu
Wollen schien als etwa zu einem „Leben in
Schönheit", von dem die Ästheten so viel
Wesens machen? — Wilhelm Oechelhäuser,
so hieß er, war vor allem Autodidakt. Das
muß man an die Spitze stellen, wenn man
seiner rühmend gedenken will. Er eroberte
sich seine Bildung, er eroberte sich seine
mannigfaltigen Stellungen und Ehren, er
eroberte sich Shakespeares Geisterreich. Alles
aus eigener Kraft. Mit vierzehn Jahren
Fabriklehrling, und vierundzwanzig Studien¬
reisender in England und Frankreich im Auf¬
trage der preußischen Regierung, mit acht¬
undzwanzig „Neichsministerinlassessor" auf
Grund einer handelspolitischen Broschüre,
die einen Rhein—Emskanal und eine Ver¬
bindung zwischen Nord- und Ostsee fordert,
mit einunddreißig Mitglied der Zollvereins¬
kommission bei der ersten Londoner Welt¬
ausstellung, mit zweiunddreißig Bürgermeister
der Stadt Mülheim an der Ruhr und bald
danach Mitglied des preußischen Abgeord¬
netenhauses, und endlich, ungefähr fünf Jahre
später, Generaldirektor der Deutschen Con¬
tinental-Gas-Gesellschaft in Dessau: das ist
seine Laufbahn! In der letzten Stellung harrt
er dreiunddreißig Jahre aus, um sich danach,
ein Siebziger bereits, ganz seinem Shake¬
speare und seinen Politischen Zielen hin-

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[0344] Maßgebliches und Unmaßgebliches verarbeiten, ehe sie den anderen kennen lernt. Und er bringt ein geringes Vertrauen der jugendlichen — heute noch dazu durch die bildende Kunst aufs ausgiebigste unterstützten Phantasie entgegen, wenn er ein solches Be¬ geistern für verschiedene Helden zu verschiedenen Zeiten für unverträglich hält. Man fragt sich danach: wie mag sich Schacht dem Lehr¬ stoff im Geschichtsunterricht gegenüberstellen? Folgerichtig müßte er da auch nur die Wahl zwischen griechischer und römischer Geschichte einerseits und deutscher Geschichte anderseits lassen; käme doch sonst die Jugend in die Gefahr, sich heute für Alexander und Cäsar, morgen für Friedrich Barbarossa und Friedrich den Großen zu begeistern. Das hat sich doch aber bisher auch ganz gut miteinander ver¬ tragen. Der Grund, aus dem auch die Sagenwelt unserer Jugend immer mehr ver¬ blaßt, ist vielmehr folgender: Wir leben in einem Zeitalter, dem Technik und Naturwissenschaften ihren Stempel auf¬ gedrückt haben. Kein Wunder also, daß die Mehrzahl unserer Jugend sich für diese Wissensgebiete begeistert. Diese Mehrzahl wird auch nicht zum deutschen oder griechi¬ schen Sagenkreise zu bekehren sein, wenn man ihr das Lernen des anderen erläßt. Die Minderheit aber, die historisch gerichtet ist, wird nach wie vor gern beide Sagenkreise mit ihrem Interesse umfassen. Vom Schüler ist nicht immer schon zu sagen, ob er als Mann, seiner Begabung oder seinem Berufe nach, diese oder jene Entwicklung nehmen wird. Die Schule hat nur vorbereitendes Wissen zu überliefern. Zu einem solchen ist aber für die Allgemeinbildung einer der beiden Sagenkreise ebenso unentbehrlich wie der andere. Das Bestreben Schachts, einer großen Populären deutschen Kunst vorzuarbeiten und die Wege zu weisen, ist gewiß verdienstvoll; denn eine solche Kunst tut uns not, aber der Weg, den Schacht vorschlägt, führt nicht zum Ziele. Auch wollen wir als Opfer auf diesem Wege keinesfalls Sagenbilder zurücklassen, die der Phantasie von GenerationenIcahrung und Begeisterung gewährt haben. Weder wollen wir verzichten auf Hektars Abschied von Andromache und daS verhüllte Haupt des Odysseus, der im Saale der Phüaken seinen eigenen Ruhm singen hört, noch auf die Schildwacht Hagens und Volkers vor König Etzels Saal und auf die Sehnsucht der vom Meeresstrande in die Ferne spähen¬ Dr. Ernst Sontag den Gudrun. Wirtschaftspionier und Shukespcarc- Verrhrer. In einer Zeit, als deren heil¬ losestes Grundübel die Spezialisierung aller Tätigkeit auf einen scharf abgegrenzten Berufs¬ kreis bezeichnet werden muß, wird vielleicht nicht ohne Nutzen auf einen Mann hinge¬ wiesen, dem neben einer bedeutenden Prak¬ tischen Lebensarbeit auch ein Werk rein¬ geistigen Inhalts gedieh: die Popularisierung Shakespeares und die Begründung der Deut¬ schen Shakespeare-Gesellschaft, die in diesem Frühjahr ihren funfzigsten Geburtstag feierte. Wer war dieser Mann, den das Schicksal als kaum vierzehnjährigen Jungen an die Ma¬ schinen der väterlichen Papierfabrik stellte und somit zu ganz anderen Dingen berufen zu Wollen schien als etwa zu einem „Leben in Schönheit", von dem die Ästheten so viel Wesens machen? — Wilhelm Oechelhäuser, so hieß er, war vor allem Autodidakt. Das muß man an die Spitze stellen, wenn man seiner rühmend gedenken will. Er eroberte sich seine Bildung, er eroberte sich seine mannigfaltigen Stellungen und Ehren, er eroberte sich Shakespeares Geisterreich. Alles aus eigener Kraft. Mit vierzehn Jahren Fabriklehrling, und vierundzwanzig Studien¬ reisender in England und Frankreich im Auf¬ trage der preußischen Regierung, mit acht¬ undzwanzig „Neichsministerinlassessor" auf Grund einer handelspolitischen Broschüre, die einen Rhein—Emskanal und eine Ver¬ bindung zwischen Nord- und Ostsee fordert, mit einunddreißig Mitglied der Zollvereins¬ kommission bei der ersten Londoner Welt¬ ausstellung, mit zweiunddreißig Bürgermeister der Stadt Mülheim an der Ruhr und bald danach Mitglied des preußischen Abgeord¬ netenhauses, und endlich, ungefähr fünf Jahre später, Generaldirektor der Deutschen Con¬ tinental-Gas-Gesellschaft in Dessau: das ist seine Laufbahn! In der letzten Stellung harrt er dreiunddreißig Jahre aus, um sich danach, ein Siebziger bereits, ganz seinem Shake¬ speare und seinen Politischen Zielen hin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/344>, abgerufen am 03.05.2024.