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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Phänomen Wedekind

Die Nacht zieht herauf und der Mond sinkt zum Wald. Nun ist es still
im Dorf, nun ruhen sie alle, Mensch und Tier. Nur dort durch die Linden,
vom Kirchlein her, schimmert noch dämmerndes Licht. Die Pforte ist weit
geöffnet, kühler Nachtwind huscht leise hinein. Er schluchzt im Gebälk und
lispelt im Chorgestühl. Er spielt lind in den wirren Locken des jungen Schläfers,
der dort, den Degen im Arm, vor dem Hochaltare auf schwarzer Bahre ruht.
Wachskerzen senden flackerndes Licht herab, das bleiche Antlitz zu küssen, und
die ewige Lampe am goldenen Kettlein wirft runden Schein auf des Toten
Brust, just wie ein Orden:

"Treu bis zum Tod."




Das Phänomen Wedekind
<Lpilog zu seinem funfzigsten Geburtstage
von Moritz Goldstein

le Wende des fünften und sechsten Jahrzehnts, deren Feier
neuerdings Brauch und fast schon Pflicht geworden ist, darf für
einen reichlich frühen Termin gelten, um die Bedeutung eines
noch Lebenden und Schaffenden vor der Öffentlichkeit abzuschätzen.
Denn obgleich wir selbst unserer kritischen Zuverlässigkeit uns mit
Stolz bewußt sind, so wird die Nachwelt gewiß manchen, den wir Zeitgenossen
gefeiert haben, nicht mehr nennen, dagegen von manch anderem zu melden
wissen, an dem wir schweigend vorübergegangen sind. Ist doch oft gerade den
Größten -- etwa Kant, Ibsen, Fontane (wenn dies Durcheinander gestattet
wird) -- ihre entscheidende Leistung erst nach dem funfzigsten Jahre geglückt.
Während es sich also derart mit der Zuverlässigkeit unserer Ehrungen verhält,
pflegt das Bild, das der gefeierte Fünfzigjährige wenigstens seinen feierfrohen
Zeitgenossen bietet, klar und hell und von aller Problematik frei zu sein.
Dieser und jener ist noch nicht genug bekannt, und man nimmt sein erstes
Jubiläum zum Anlaß, ihn zu empfehlen; ein anderer hat seine Blüte hinter
sich, und man muß vor Überschätzung warnen. Allein, so oder so, man weiß,
woran man ist, und wer seiner öffentlich gedenkt, pflegt der Billigung des
deutschen Publikums gewiß zu sein.

Am 24. Juli aber erlebte ein Mann seinen funfzigsten Geburtstag, von
den: noch niemand weiß, wie er mit ihm daran ist; nicht einmal ob man für
ihn eintreten oder sich gegen ihn wenden soll, läßt sich entscheiden; denn von


15*
Das Phänomen Wedekind

Die Nacht zieht herauf und der Mond sinkt zum Wald. Nun ist es still
im Dorf, nun ruhen sie alle, Mensch und Tier. Nur dort durch die Linden,
vom Kirchlein her, schimmert noch dämmerndes Licht. Die Pforte ist weit
geöffnet, kühler Nachtwind huscht leise hinein. Er schluchzt im Gebälk und
lispelt im Chorgestühl. Er spielt lind in den wirren Locken des jungen Schläfers,
der dort, den Degen im Arm, vor dem Hochaltare auf schwarzer Bahre ruht.
Wachskerzen senden flackerndes Licht herab, das bleiche Antlitz zu küssen, und
die ewige Lampe am goldenen Kettlein wirft runden Schein auf des Toten
Brust, just wie ein Orden:

„Treu bis zum Tod."




Das Phänomen Wedekind
<Lpilog zu seinem funfzigsten Geburtstage
von Moritz Goldstein

le Wende des fünften und sechsten Jahrzehnts, deren Feier
neuerdings Brauch und fast schon Pflicht geworden ist, darf für
einen reichlich frühen Termin gelten, um die Bedeutung eines
noch Lebenden und Schaffenden vor der Öffentlichkeit abzuschätzen.
Denn obgleich wir selbst unserer kritischen Zuverlässigkeit uns mit
Stolz bewußt sind, so wird die Nachwelt gewiß manchen, den wir Zeitgenossen
gefeiert haben, nicht mehr nennen, dagegen von manch anderem zu melden
wissen, an dem wir schweigend vorübergegangen sind. Ist doch oft gerade den
Größten — etwa Kant, Ibsen, Fontane (wenn dies Durcheinander gestattet
wird) — ihre entscheidende Leistung erst nach dem funfzigsten Jahre geglückt.
Während es sich also derart mit der Zuverlässigkeit unserer Ehrungen verhält,
pflegt das Bild, das der gefeierte Fünfzigjährige wenigstens seinen feierfrohen
Zeitgenossen bietet, klar und hell und von aller Problematik frei zu sein.
Dieser und jener ist noch nicht genug bekannt, und man nimmt sein erstes
Jubiläum zum Anlaß, ihn zu empfehlen; ein anderer hat seine Blüte hinter
sich, und man muß vor Überschätzung warnen. Allein, so oder so, man weiß,
woran man ist, und wer seiner öffentlich gedenkt, pflegt der Billigung des
deutschen Publikums gewiß zu sein.

Am 24. Juli aber erlebte ein Mann seinen funfzigsten Geburtstag, von
den: noch niemand weiß, wie er mit ihm daran ist; nicht einmal ob man für
ihn eintreten oder sich gegen ihn wenden soll, läßt sich entscheiden; denn von


15*
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[0239] Das Phänomen Wedekind Die Nacht zieht herauf und der Mond sinkt zum Wald. Nun ist es still im Dorf, nun ruhen sie alle, Mensch und Tier. Nur dort durch die Linden, vom Kirchlein her, schimmert noch dämmerndes Licht. Die Pforte ist weit geöffnet, kühler Nachtwind huscht leise hinein. Er schluchzt im Gebälk und lispelt im Chorgestühl. Er spielt lind in den wirren Locken des jungen Schläfers, der dort, den Degen im Arm, vor dem Hochaltare auf schwarzer Bahre ruht. Wachskerzen senden flackerndes Licht herab, das bleiche Antlitz zu küssen, und die ewige Lampe am goldenen Kettlein wirft runden Schein auf des Toten Brust, just wie ein Orden: „Treu bis zum Tod." Das Phänomen Wedekind <Lpilog zu seinem funfzigsten Geburtstage von Moritz Goldstein le Wende des fünften und sechsten Jahrzehnts, deren Feier neuerdings Brauch und fast schon Pflicht geworden ist, darf für einen reichlich frühen Termin gelten, um die Bedeutung eines noch Lebenden und Schaffenden vor der Öffentlichkeit abzuschätzen. Denn obgleich wir selbst unserer kritischen Zuverlässigkeit uns mit Stolz bewußt sind, so wird die Nachwelt gewiß manchen, den wir Zeitgenossen gefeiert haben, nicht mehr nennen, dagegen von manch anderem zu melden wissen, an dem wir schweigend vorübergegangen sind. Ist doch oft gerade den Größten — etwa Kant, Ibsen, Fontane (wenn dies Durcheinander gestattet wird) — ihre entscheidende Leistung erst nach dem funfzigsten Jahre geglückt. Während es sich also derart mit der Zuverlässigkeit unserer Ehrungen verhält, pflegt das Bild, das der gefeierte Fünfzigjährige wenigstens seinen feierfrohen Zeitgenossen bietet, klar und hell und von aller Problematik frei zu sein. Dieser und jener ist noch nicht genug bekannt, und man nimmt sein erstes Jubiläum zum Anlaß, ihn zu empfehlen; ein anderer hat seine Blüte hinter sich, und man muß vor Überschätzung warnen. Allein, so oder so, man weiß, woran man ist, und wer seiner öffentlich gedenkt, pflegt der Billigung des deutschen Publikums gewiß zu sein. Am 24. Juli aber erlebte ein Mann seinen funfzigsten Geburtstag, von den: noch niemand weiß, wie er mit ihm daran ist; nicht einmal ob man für ihn eintreten oder sich gegen ihn wenden soll, läßt sich entscheiden; denn von 15*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/239>, abgerufen am 02.05.2024.