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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die "Heeherrschaft"
Dr. Carl Jentsch von

aß Wilhelm von Massow im 39. Heft (S. 472, Zeile 14 von
unten) das erklärende richtige Wort wenigstens umschrieben hat,
bedeutet für mich die Aufforderung, es vollends auszusprechen
und auch an dieser Stelle, die mir zwanzig Jahre lang Heimstätte
gewesen ist, meine Ansicht über den Kern der Seeherrschaftfrage
kurz darzulegen. Die vom Kaiser entflammte Flottenbegeisterung hat uns zu
unserm Glück die in diesem Kriege so notwendige starke Flotte bescheert, aber
sie hat auch manche deutsche Köpfe mit englischen Phantasien angesteckt, sodaß
sie sich einbilden, Kriegsschiffe würden für einen Kampf um die Seeherrschaft
gebaut. Das Objekt dieses Kampfes existiert nicht; es ist ein non en8, ein
anachronistisches Wahngebilde. Um dieses Wahngebildes willen das eigene
Volk in einen selbstmörderischen Krieg zu stürzen, dazu gehörte eine so phäno¬
menale Dummheit, daß ich sie den englischen Staatsmännern nicht zuzutrauen
vermochte und die Besorgnis unserer leitenden Kreise vor einer möglichen
Kriegserklärung Englands für einen Irrtum hielt; der Irrtum war in diesem
Falle auf meiner Seite.

Das Wort Seeherrschaft hatte seinen guten Sinn in der Zeit, da ein
seefahrender Staat höchstens zwei Konkurrenten hatte, die aus seinem Fahrwasser
zu verdrängen kein aussichtsloses Unternehmen war. So haben Pisaner,
Genueser. Venetianer, Türken. Moresken einander in der Herrschaft über
das Mittelmeer abgelöst, haben Holländer und Engländer die spanischen
Flotten vernichtet, zuletzt die Engländer durch Besiegung der Holländer eine
Scheinherrschaft über das Weltmeer errungen, die jedoch auch damals nur eine
Scheinherrschaft war, weil sich der heutige Zustand schon vorbereitete. Heut
ist das Weltmeer kein Herrschaftsgebiet mehr, sondern die gemeinsame Fahrstraße
aller Nationen, die es mit ihren Frachtgütern beschicken, als Geschäfts-, Ver-
gnügungs- und Forschungsreisende befahren. Wollten die Engländer das Meer
für diesen friedlichen Verkehr sperren oder die Zulassung zu ihm von ihrer
Erlaubnis abhängig machen, -- erst das wäre Seeherrschaft -- dann würden
sie alle Nationen der Erde gegen sich haben, und eine Flotte, die den Flotten
eines Weltbundes überlegen wäre, können sie weder bauen noch bemannen.

Aus dem Seeraub ist der Seehandel entstanden, und mit dem Raub ist
er bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts verschwistert geblieben.




Die „Heeherrschaft"
Dr. Carl Jentsch von

aß Wilhelm von Massow im 39. Heft (S. 472, Zeile 14 von
unten) das erklärende richtige Wort wenigstens umschrieben hat,
bedeutet für mich die Aufforderung, es vollends auszusprechen
und auch an dieser Stelle, die mir zwanzig Jahre lang Heimstätte
gewesen ist, meine Ansicht über den Kern der Seeherrschaftfrage
kurz darzulegen. Die vom Kaiser entflammte Flottenbegeisterung hat uns zu
unserm Glück die in diesem Kriege so notwendige starke Flotte bescheert, aber
sie hat auch manche deutsche Köpfe mit englischen Phantasien angesteckt, sodaß
sie sich einbilden, Kriegsschiffe würden für einen Kampf um die Seeherrschaft
gebaut. Das Objekt dieses Kampfes existiert nicht; es ist ein non en8, ein
anachronistisches Wahngebilde. Um dieses Wahngebildes willen das eigene
Volk in einen selbstmörderischen Krieg zu stürzen, dazu gehörte eine so phäno¬
menale Dummheit, daß ich sie den englischen Staatsmännern nicht zuzutrauen
vermochte und die Besorgnis unserer leitenden Kreise vor einer möglichen
Kriegserklärung Englands für einen Irrtum hielt; der Irrtum war in diesem
Falle auf meiner Seite.

Das Wort Seeherrschaft hatte seinen guten Sinn in der Zeit, da ein
seefahrender Staat höchstens zwei Konkurrenten hatte, die aus seinem Fahrwasser
zu verdrängen kein aussichtsloses Unternehmen war. So haben Pisaner,
Genueser. Venetianer, Türken. Moresken einander in der Herrschaft über
das Mittelmeer abgelöst, haben Holländer und Engländer die spanischen
Flotten vernichtet, zuletzt die Engländer durch Besiegung der Holländer eine
Scheinherrschaft über das Weltmeer errungen, die jedoch auch damals nur eine
Scheinherrschaft war, weil sich der heutige Zustand schon vorbereitete. Heut
ist das Weltmeer kein Herrschaftsgebiet mehr, sondern die gemeinsame Fahrstraße
aller Nationen, die es mit ihren Frachtgütern beschicken, als Geschäfts-, Ver-
gnügungs- und Forschungsreisende befahren. Wollten die Engländer das Meer
für diesen friedlichen Verkehr sperren oder die Zulassung zu ihm von ihrer
Erlaubnis abhängig machen, — erst das wäre Seeherrschaft — dann würden
sie alle Nationen der Erde gegen sich haben, und eine Flotte, die den Flotten
eines Weltbundes überlegen wäre, können sie weder bauen noch bemannen.

Aus dem Seeraub ist der Seehandel entstanden, und mit dem Raub ist
er bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts verschwistert geblieben.


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[0103] [Abbildung] Die „Heeherrschaft" Dr. Carl Jentsch von aß Wilhelm von Massow im 39. Heft (S. 472, Zeile 14 von unten) das erklärende richtige Wort wenigstens umschrieben hat, bedeutet für mich die Aufforderung, es vollends auszusprechen und auch an dieser Stelle, die mir zwanzig Jahre lang Heimstätte gewesen ist, meine Ansicht über den Kern der Seeherrschaftfrage kurz darzulegen. Die vom Kaiser entflammte Flottenbegeisterung hat uns zu unserm Glück die in diesem Kriege so notwendige starke Flotte bescheert, aber sie hat auch manche deutsche Köpfe mit englischen Phantasien angesteckt, sodaß sie sich einbilden, Kriegsschiffe würden für einen Kampf um die Seeherrschaft gebaut. Das Objekt dieses Kampfes existiert nicht; es ist ein non en8, ein anachronistisches Wahngebilde. Um dieses Wahngebildes willen das eigene Volk in einen selbstmörderischen Krieg zu stürzen, dazu gehörte eine so phäno¬ menale Dummheit, daß ich sie den englischen Staatsmännern nicht zuzutrauen vermochte und die Besorgnis unserer leitenden Kreise vor einer möglichen Kriegserklärung Englands für einen Irrtum hielt; der Irrtum war in diesem Falle auf meiner Seite. Das Wort Seeherrschaft hatte seinen guten Sinn in der Zeit, da ein seefahrender Staat höchstens zwei Konkurrenten hatte, die aus seinem Fahrwasser zu verdrängen kein aussichtsloses Unternehmen war. So haben Pisaner, Genueser. Venetianer, Türken. Moresken einander in der Herrschaft über das Mittelmeer abgelöst, haben Holländer und Engländer die spanischen Flotten vernichtet, zuletzt die Engländer durch Besiegung der Holländer eine Scheinherrschaft über das Weltmeer errungen, die jedoch auch damals nur eine Scheinherrschaft war, weil sich der heutige Zustand schon vorbereitete. Heut ist das Weltmeer kein Herrschaftsgebiet mehr, sondern die gemeinsame Fahrstraße aller Nationen, die es mit ihren Frachtgütern beschicken, als Geschäfts-, Ver- gnügungs- und Forschungsreisende befahren. Wollten die Engländer das Meer für diesen friedlichen Verkehr sperren oder die Zulassung zu ihm von ihrer Erlaubnis abhängig machen, — erst das wäre Seeherrschaft — dann würden sie alle Nationen der Erde gegen sich haben, und eine Flotte, die den Flotten eines Weltbundes überlegen wäre, können sie weder bauen noch bemannen. Aus dem Seeraub ist der Seehandel entstanden, und mit dem Raub ist er bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts verschwistert geblieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/103>, abgerufen am 02.05.2024.