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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Uulturproblem

Das slawische Aulturxroblem
Dr. Dragutin vrohaska vonIV.
Der russische Nationalcharakter

"Slawen in der wahren Bedeutung des Wortes, von politischem Gewicht
sind allein wir Russen. Die anderen slawischen Stämme sind zu gering an
Zahl und, was die Hauptsache ist, so verstreut, in so törichter Weise miteinander
zerfallen, daß sie für die Politik und die Welt keine Bedeutung haben. Die
Mehrzahl der an der Peripherie wohnenden Slawen stehen unter deutsch¬
magyarisch-türkischem Joch, und ihre Unfähigkeit, dieses Joch abzuschütteln, ist
erwiesen. Die Ursachen des Verfalls der westlichen Slawen sind zahlreich, das
allgemeine Merkmal dieser Ursachen aber ist -- die slawische Schwäche; die
slawische Charakterlosigkeit und als besonders bittere Folge der Charakterlosigkeit
-- die Neigung zu Zerwürfnissen, zu gegenseitigem Neid. . . . Was die nationale
Kultur anbetrifft, so geht Rußland ungeachtet all seiner elenden Verhältnisse
dem Slawentum voraus. ... In jeder Hinsicht hat Rußland das Recht zu
sagen: das Slawentum -- das bin Ich!"

So schreibt Menschikow, der bekannte Feuilletonist des Nowoje Wremja.

Es ist einerlei, wer so schreibt. Die Hauptsache ist, daß man im Angesicht
ganz Rußlands, des ganzen Slawentums so schreiben kann. Wir könnten diese
harte Beschuldigung gegen uns peripherische Slawen mildern, Einzelheiten
widerlegen, aber dem Kern nach sind Menschikows Worte richtig. Besonders
gilt seine Theorie von der weltgeschichtlichen Bedeutung der Russen und der
Belanglosigkeit der übrigen Slawen. Um so wichtiger erscheint uns die Frage
nach dem russischen Nationalcharakter.

Den russischen Charakter zu beurteilen versuchen heißt soviel, wie das
Geschlecht eines Neugeborenen bestimmen wollen, solange nur sein Köpfchen
sichtbar ist, während der Körper noch im Leib der Mutter ruht. Die Geburt
des russischen Volkes dauert schon ein Jahrhundert lang. Zuerst erschien sein
Kopf, die russische Literatur, und ihr folgt nach und nach der riesige Rumpf,
ein Volk, das von Periode zu Periode in immer höherem Grade politisches
und nationales Bewußtsein entwickelt.

Bis zum Jahre 1861 ißt, atmet und denkt nicht das russische Volk selbst,
sondern eine Aristokratie, deren Blut mit Mongolen-, Germanen-, Franzosen-
und Negerblut vermengt ist. Bei uns glaubt man, daß im Jahre 1861 das
russische Volk "befreit" wurde. Aber das Werk der Befreiung war ein einseitiges
und nur scheinbares, denn unter dem aufgehobenen Joch der Leibeigenschaft fand
sich ein anderes, noch weit festeres und engeres Band, das die Freiheit gefangen
hielt. Diese schädliche und rückständige Fessel, welche die Entwicklung des
russischen Volkes hintanhielt, heißt "Mir". Mir bedeutet Gemeinde oder Dorf
im juridischen Sinne des Wortes und im wirtschaftlichen eine Vergesellschaftung


Das slawische Uulturproblem

Das slawische Aulturxroblem
Dr. Dragutin vrohaska vonIV.
Der russische Nationalcharakter

„Slawen in der wahren Bedeutung des Wortes, von politischem Gewicht
sind allein wir Russen. Die anderen slawischen Stämme sind zu gering an
Zahl und, was die Hauptsache ist, so verstreut, in so törichter Weise miteinander
zerfallen, daß sie für die Politik und die Welt keine Bedeutung haben. Die
Mehrzahl der an der Peripherie wohnenden Slawen stehen unter deutsch¬
magyarisch-türkischem Joch, und ihre Unfähigkeit, dieses Joch abzuschütteln, ist
erwiesen. Die Ursachen des Verfalls der westlichen Slawen sind zahlreich, das
allgemeine Merkmal dieser Ursachen aber ist — die slawische Schwäche; die
slawische Charakterlosigkeit und als besonders bittere Folge der Charakterlosigkeit
— die Neigung zu Zerwürfnissen, zu gegenseitigem Neid. . . . Was die nationale
Kultur anbetrifft, so geht Rußland ungeachtet all seiner elenden Verhältnisse
dem Slawentum voraus. ... In jeder Hinsicht hat Rußland das Recht zu
sagen: das Slawentum — das bin Ich!"

So schreibt Menschikow, der bekannte Feuilletonist des Nowoje Wremja.

Es ist einerlei, wer so schreibt. Die Hauptsache ist, daß man im Angesicht
ganz Rußlands, des ganzen Slawentums so schreiben kann. Wir könnten diese
harte Beschuldigung gegen uns peripherische Slawen mildern, Einzelheiten
widerlegen, aber dem Kern nach sind Menschikows Worte richtig. Besonders
gilt seine Theorie von der weltgeschichtlichen Bedeutung der Russen und der
Belanglosigkeit der übrigen Slawen. Um so wichtiger erscheint uns die Frage
nach dem russischen Nationalcharakter.

Den russischen Charakter zu beurteilen versuchen heißt soviel, wie das
Geschlecht eines Neugeborenen bestimmen wollen, solange nur sein Köpfchen
sichtbar ist, während der Körper noch im Leib der Mutter ruht. Die Geburt
des russischen Volkes dauert schon ein Jahrhundert lang. Zuerst erschien sein
Kopf, die russische Literatur, und ihr folgt nach und nach der riesige Rumpf,
ein Volk, das von Periode zu Periode in immer höherem Grade politisches
und nationales Bewußtsein entwickelt.

Bis zum Jahre 1861 ißt, atmet und denkt nicht das russische Volk selbst,
sondern eine Aristokratie, deren Blut mit Mongolen-, Germanen-, Franzosen-
und Negerblut vermengt ist. Bei uns glaubt man, daß im Jahre 1861 das
russische Volk „befreit" wurde. Aber das Werk der Befreiung war ein einseitiges
und nur scheinbares, denn unter dem aufgehobenen Joch der Leibeigenschaft fand
sich ein anderes, noch weit festeres und engeres Band, das die Freiheit gefangen
hielt. Diese schädliche und rückständige Fessel, welche die Entwicklung des
russischen Volkes hintanhielt, heißt „Mir". Mir bedeutet Gemeinde oder Dorf
im juridischen Sinne des Wortes und im wirtschaftlichen eine Vergesellschaftung


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[0096] Das slawische Uulturproblem Das slawische Aulturxroblem Dr. Dragutin vrohaska vonIV. Der russische Nationalcharakter „Slawen in der wahren Bedeutung des Wortes, von politischem Gewicht sind allein wir Russen. Die anderen slawischen Stämme sind zu gering an Zahl und, was die Hauptsache ist, so verstreut, in so törichter Weise miteinander zerfallen, daß sie für die Politik und die Welt keine Bedeutung haben. Die Mehrzahl der an der Peripherie wohnenden Slawen stehen unter deutsch¬ magyarisch-türkischem Joch, und ihre Unfähigkeit, dieses Joch abzuschütteln, ist erwiesen. Die Ursachen des Verfalls der westlichen Slawen sind zahlreich, das allgemeine Merkmal dieser Ursachen aber ist — die slawische Schwäche; die slawische Charakterlosigkeit und als besonders bittere Folge der Charakterlosigkeit — die Neigung zu Zerwürfnissen, zu gegenseitigem Neid. . . . Was die nationale Kultur anbetrifft, so geht Rußland ungeachtet all seiner elenden Verhältnisse dem Slawentum voraus. ... In jeder Hinsicht hat Rußland das Recht zu sagen: das Slawentum — das bin Ich!" So schreibt Menschikow, der bekannte Feuilletonist des Nowoje Wremja. Es ist einerlei, wer so schreibt. Die Hauptsache ist, daß man im Angesicht ganz Rußlands, des ganzen Slawentums so schreiben kann. Wir könnten diese harte Beschuldigung gegen uns peripherische Slawen mildern, Einzelheiten widerlegen, aber dem Kern nach sind Menschikows Worte richtig. Besonders gilt seine Theorie von der weltgeschichtlichen Bedeutung der Russen und der Belanglosigkeit der übrigen Slawen. Um so wichtiger erscheint uns die Frage nach dem russischen Nationalcharakter. Den russischen Charakter zu beurteilen versuchen heißt soviel, wie das Geschlecht eines Neugeborenen bestimmen wollen, solange nur sein Köpfchen sichtbar ist, während der Körper noch im Leib der Mutter ruht. Die Geburt des russischen Volkes dauert schon ein Jahrhundert lang. Zuerst erschien sein Kopf, die russische Literatur, und ihr folgt nach und nach der riesige Rumpf, ein Volk, das von Periode zu Periode in immer höherem Grade politisches und nationales Bewußtsein entwickelt. Bis zum Jahre 1861 ißt, atmet und denkt nicht das russische Volk selbst, sondern eine Aristokratie, deren Blut mit Mongolen-, Germanen-, Franzosen- und Negerblut vermengt ist. Bei uns glaubt man, daß im Jahre 1861 das russische Volk „befreit" wurde. Aber das Werk der Befreiung war ein einseitiges und nur scheinbares, denn unter dem aufgehobenen Joch der Leibeigenschaft fand sich ein anderes, noch weit festeres und engeres Band, das die Freiheit gefangen hielt. Diese schädliche und rückständige Fessel, welche die Entwicklung des russischen Volkes hintanhielt, heißt „Mir". Mir bedeutet Gemeinde oder Dorf im juridischen Sinne des Wortes und im wirtschaftlichen eine Vergesellschaftung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/96>, abgerufen am 02.05.2024.